„Sondermann“ verleiht Flügel – alle Abenteuer von Bernd Pfarrs denkwürdigem Cartoon-Held in einem Band
Sondermann kam an einem Montag im Sommer 1987 zur Welt. Geburtsort war, wie Robert Gernhardt später berichtete, ein übel beleumundetes Frankfurter Gartenlokal. Bernd Eilert gab ihm seinen Namen und Simone Borowiak, damals Redakteurin der Satirezeitschrift „Titanic“, bereitete ihm auf dem Seiten derselben sein erstes publizistisches Bettchen. Heute, zwanzig Jahre danach, ist Sondermann zu einem der denkwürdigsten deutschen Cartoon-Helden herangewachsen. Passend zum Jubiläum erschien nun ein mächtiger, prächtiger, himmelblauer Band, der erstmals auf über fünfhundert Seiten sämtliche seiner Abenteuer vereint – ein veritables coffeetable book, vorausgesetzt man verfügt über stabile coffeetable. Es ist eine wahrhaft ungeheure Welt, die Sondermanns Schöpfer Bernd Pfarr für sein Geschöpf entwarf. Hier ist kein Winkel ein rechter, keine Wand im Lot, kein Boden verlässlich und kein Himmel ein Schutz oder Schirm. Hier gibt es Radios in Form erregter nackter Neger, Ameisenbären, die Skiunterricht geben, schwule Fußbälle, ägyptische Kampfmumien, die drei bewaffneten Pinguin-Brüder Strittmatter, den Untermieter Schulz mit hartnäckiger Vorliebe für Sprengstoff oder einen garstigen, verständnislosen Chef – also lauter unvorstellbare Wesen, die zuvor nie eines Menschen Aug erblickte. Und inmitten dieses Chaos ist der wackere Angestellte Sondermann mit schlichtem Anzug und Aktentasche, mit Hut und Krawatte keineswegs immer der ruhende Pol, sondern oft genug ein das Chaos auf immer chaotischere Gipfel hinaufpeitschender Motor. Bernd Pfarr, der 2004 entsetzlich früh mit nur 45 Jahren starb, war ein Poet des Absurden, der sich meisterlich auf die Kunst verstand, sein Publikum aus den Gleisen des Gewohnten zu heben. Er hätte, sagte er einmal in einem Gespräch, gern „der Welt die Realität“ ausgetrieben und tatsächlich hat er, wie Robert Gernhardt im Vorwort dieser Sondermann-Komplettausgabe schreibt, der „Wirklichkeit-Schnirklichkeit“ in Bildern und Cartoons effektvoll die Rote Karte gezeigt. Auch wenn der neue Band gewichtig ist in jeder Hinsicht, kann er doch schnell dafür sorgen, dass man zunehmend leichteren Herzens den Boden unter den Füssen verliert und zu ungeahnten Fantasieflügen ansetzt. Und das wäre sehr im Sinne Pfarrs gewesen. Alles was gewichtslos wird und schwebt, was Gravitation und Erdenschwere hinter sich lässt, hatte es ihm angetan. Mal ist es auf einem seiner Acryl-Gemälde ein Sondermann-Verwandter, ein Herr im grauen Anzug, den es über dem Trottoir unerwartet wie ein Ballon in die Lüfte hebt, mal ein offenkundig schwer alkoholisierter Altgrascontainer oder ein Hund mit Blähungen. Auch Sondermanns Mutter nennt einen schwerelosen Wäschekorb ihr eigen und Sondermanns Hund Willi erlebt Momente der Levitation, die ihm vom Weltgeist geschenkt werden für seine „hochpoetischen, mit geradezu feingeistigem Eifer vorgetragenen Ausführungen, die unbedingte Notwendigkeit der zeitgerechten und liebevollen Zubereitung seines Fresschens betreffend“. So bleibt für Pfarrs Hauptfigur als letztes Gravitationszentrum schließlich nur ein „hübsches Fräulein“, von deren „äußerst dichter körperlicher Masse“ eine solche Anziehungskraft auf Sondermann ausgeht, dass er sich ihr einfach nicht entziehen kann. Weltflucht also? Wäre die Sonderwelt Sondermanns letztlich nichts anderes als eine Fluchtburg, in der all die lastenden, zu Boden ziehenden Realitäten des Lebens für Augenblicke ihre Wirksamkeit verlieren, und wir uns in ein luftigeres, beschwingteres Dasein hinüberträumen können? Natürlich ist sie das, und Pfarr, der zwanzig Jahre gegen den Krebs kämpfte, bevor der dann doch das letzte, hässliche Wort behielt, hatte allen Grund nach Schlupflöchern zu suchen, in denen er sich vor den ebenso trivialen wie tödlichen Tatsachen wenigstens vorübergehend in Sicherheit bringen konnte. Und uns mit ihm. Aber das ist noch nicht alles. In dem Feuerzauber der Einfälle, den Pfarr in seinen Cartoons entfesselt, liegt zugleich auch etwas vor einem Triumph. Wie erbärmlich einfach macht es sich oft die Wirklichkeit, wie viel fassettenreicher, heiterer, bunter, überraschender vermag es sich unsere Fantasie auszumalen, wenn wir denn unsere Fantasie tatsächlich so gründlich vom Haken lassen können wie Pfarr. Mag sein, dass uns die Tatsachen unweigerlich irgendwann einholen, aber deshalb sind sie noch lange nicht im Recht. Kennern und Könnern legten dem Künstler und seiner Kunst ihre Verehrung zu Füßen. „Bernd Pfarr“, schrieb Elke Heidenreich, „ist der Kafka unter den Malern.“ Volker Reiche nannte die Sondermann-Cartoons „das mit Abstand Komischste, was in den letzten Jahren in Deutschland erschienen ist. Ich neige mein Haupt in Andacht.“ Hans Traxler bewunderte vor allem die „großer Schönheit“ seiner Zeichnungen, die für einen Cartoonisten große Risiken enthalte, denn „über Schönheit lacht man nicht“. Robert Gernhardt empfahl zu Ehren Sondermanns alle Glocken zu läuten, auf allen Straßen zu tanzen und in allen Parks Feuerwerkskörper zu entzünden. Hans Zippert attestiert dem Supermann Sondermann „extrem bewusstseinserweiternde Kräfte“. Und Bernd Eilert resümierte: „Bernd Pfarr hat sich mit seinen Zeichnungen gegen die Verbesserung der Welt entschieden und für die Verbesserung der Laune des Betrachters. Aber ist das überhaupt ein Widerspruch?“
Bernd Pfarr: „Sondermann“ Steidl Verlag, Göttingen 2007. Herausgegeben von Gabriele Roth-Pfarr. Mit Texten von Elke Heidenreich, Bernd Eilert, Robert Gernhardt 504 Seiten mit 520 Abbildungen. 48,00 €