Wieso eigentlich wird der eine Musiker und der andere Straßenmusiker? Gesetzt den Fall, beide spielen gleichermaßen sehr gut. Was stellt da die Weiche, was führt den einen aufs Konzertpodium und den anderen auf den Bordstein? Wobei der Bordstein ja nicht der schlechtere oder weniger einträgliche Ort sein muss. Vermutlich sind die jeweiligen Gründe so individuell wie die Tonkünstler selbst. Aber ebenso vermutlich macht es einen ziemlich fundamentalen Unterschied in der psychischen Disposition, ob man als Musiker erwartet, dass die Zuhörer termingerecht aus dem Haus gehen, an der Kasse Eintrittskarten ergattern, um sich danach aufnahmebereit vor der Bühne einzufinden. Oder ob man dem potentiellen Publikum am Wege auflauert, um aus nichtsahnenden Passanten ein anteilnehmendes Auditorium zu machen, aus gratis lauschenden Zaungästen freiwillig zahlende Zuhörer, die jederzeit so schnell und applauslos verschwinden können, wie sie kamen. Und die nie wieder einen Gedanken an diesen anonymen Zupfgeigenhansel verlieren, der sie da unbestellt beim Shoppen unterbrach. Thomas Gsella ist Dichter. Aber als er noch nicht von Worten, sondern Tönen lebte, war er Straßenmusiker. „Zusammen mit einem Querflötisten, in den Essener Fußgängerzonen, mit einem Konzert-Querflötisten. Ich spiele Gitarre.“ Das ist dreißig Jahre her, Gsella studierte damals Geschichte und Germanistik und war „mit Abstand der Reichste in meiner WG“. Der Bordstein kann definitiv ein einträglicher Ort sein. Daneben, also neben Studium und Fußgängerzonenmusik, hat er sich noch als Journalist versucht bei „Guckloch“ und „Marabo“, zwei Stadtmagazinen der Region. Und irgendwann entschied er sich gegen die Töne und für die Worte als Lebensgrundlage. „Da wurde ich arm.“ Unter den Schriftstellern sind die Dichter gewöhnlich den Konzertmusikern am ähnlichsten. Lyrikbände werden auf dem Buchmarkt am feierlichsten präsentiert – und so mit den steilsten Hemmschwellen gegen große Leserschaften ausgestattet. Einen Gedichtband liest man nicht als literarischer Passant locker weg, nein, den nimmt man sich vor, den geht man an, den lässt man auf sich wirken. Wenn es unter Literaten so etwas gibt wie habituelle Straßenmusiker, die ihr Publikum im Vorübergehen anlocken, dann sind es die als gemütlich verschrienen Erzähler. Man liest einen ersten Satz von, sagen wir Kafka – „Als Gregor Samsa eines Morgens aus seinen unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ – und man will wissen, wie die Geschichte weiter- und ausgeht. Noch heute fangen sich auf dem Marktplatz in Marrakesch allabendlich professionelle Märchenerzähler ihr Publikum ein. Echte Fußgängerzonenerzähler. Gsella ist ein Lyriker mit der Haltung eines Straßenmusikers. Dass er dezidiert komische Gedichte schreibt, macht es ihm ohne Zweifel leichter, Lese-Flaneure für sich zu gewinnen. Zum Beispiel mit folgenden poetischen Porträt des wahren Glücks in Gomera: Sand unter mir und über mir ein Mond und hundert Sterne. Ich flüsterte „Hier bleiben wir“ und küsste sie, es waren vier, und alle hauchten: „Gerne.“ Wer kann derart paradiesischen Phantasien schon widerstehen. Da hört man hin, da liest man weiter und merkt schnell, dass dieser Wortkünstler mit Tonkünstlervergangenheit ein präzises Ohr für Sprachmusik hat und dass er sich hervorragend auskennt in der deutschen Lyrikgeschichte, die über eine so reiche Zahl von großen Dichtern mit Neigung zum Komischen verfügt. Anklänge an Wilhelm Busch, Joachim Ringelnatz, Erich Kästner, Eugen Roth und natürlich Robert Gernhardt sind zu hören, aber auch sauber hingezirkelte Anspielungen auf lyrische Ernstmacher wie Rilke, Eichendorff, Hölderlin oder Durs Grünbein. Kurz, der Mann ist ein Kenner und Könner, ein Wortartist und Witzstilist, dessen Verse die Leser nicht nur Lachen machen, sondern auch mit poetischen Gaben laben. Oder wie Gernhardt einmal schrieb, dieser Gsella ist längst ein Meista. Obwohl im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, darf man ihn einen Spross am inzwischen weitverzweigten Baum der Neuen Frankfurter Schule nennen – der wohl produktivsten Ansammlung komischer Zeichnern und Autoren Deutschlands. Seit 15 Jahren ist er Redakteur des zugehörigen Satirefachblattes „Titanic“, seit gut zwei Jahren dessen Chefredakteur. Doch hat er, Dienstalter und Position zum Trotz, nichts Auftrumpfendes oder Großsprecherisches an sich. Im Gegensatz zu vielen seiner Neuen Frankfurter Mitschüler pflegt er einen ausgeprägten Hang zur Selbstironie und die Mehrzahl seiner Witze auf eigne Kosten zu machen. Er posiert wie der frühe Woody Allen gern als leicht unbeholfener Tölpel, der seine Missgeschicke nicht verbirgt, sondern sie zum Gegenstand allgemeinen Belustigung macht. O Frau, o Liebste, bist so schön; ach kaum kann ich’s ertragen! Drum lass uns später wiedersehn und mich erst zu Babsy gehn huch, aua, nein, nicht schlagen! Doch Gsella kann auch anders, ganz anders. In seinem jüngsten Band „Der kleine Berufsberater“ übt er sich in einer eigenwilligen Form beleidigender Komik. Seriell knöpft er sich Berufsstände vor, und konfrontiert sie Vers für Vers mit den ausgesucht bösartigsten und banalsten Vorurteilen, die gegen sie im Umlauf sind. Das wirkt, nicht zuletzt weil diese Ansammlung besonders brachialer Ressentiments besonders elegant in vierhebige Jamben samt Kreuzreimen verpackt ist, auf ebenso quälende wie befreiende Weise vergnüglich: Der Zahnarzt ist nicht arm wie du. Er ist ein reicher Räuber Drum wählt er gern die CDU Und wo’s noch geht den Stoiber. Er ähnelt nicht dem zarten Reh, Er ähnelt der Hyäne. Mit Freuden tut er Kindern weh Und zieht gesunde Zähne. Er bohrt hinein mit solcher Wut, Da bleibt uns nur das Beten. Der Zahnarzt ist ein Tunichtgut Mit viel zuviel Moneten. Versteht sich, dass der ein oder andere Angehörige des jeweiligen Metiers den Witz solcher Lyrik nicht uneingeschränkt zu würdigen weiß. Die Redaktion des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“, die bei Gsella die ersten dieser Gedichte in Auftrag gegeben hat, wurde überrascht durch der Heftigkeit der Anrufe, Protestbriefe oder Gegengedichte ihrer Leser. Vor allem Gsellas poetische Ausführungen über den Beruf der Hausfrau oder das Amt des Lehrers führten zu ausgesucht lebhafter Resonanz beim Publikum: Der Lehrer geht um sieben raus Und ruft vier Stunden: „Leiser!“ Um kurz nach eins ist er zu Haus: Nicht ärmer, aber heiser. Bis vier fläzt er im Kanapee Mit Sekt und Stör und Brötchen. Dann nimmt er’s Taxi hin zum See, Dort steht sein Segelbötchen. Er legt sich rein und gibt sich hin Und schaukelt bis zum Morgen. So ist sein Leben frei von Sinn, Vor Arbeit und von Sorgen. Doch letztlich macht diese gnadenlose Vorurteil-Parade auf rund hundert Seiten vor allem eins sichtbar: Dummheit und Dürftigkeit der Vorurteile. Gsella nutzt hier ein satirisches Verfahren, dass seine Wirkung daraus zieht, in hoher Konzentration und gleichsam überlebensgroß auszustellen, was sonst nur in niedrigeren Dosen und insgeheim durch so manchen Schädel rauscht. Erprobt hat er es bereits in einem andern, älteren Band namens „Ins Alphorn gehustet“, in dem er vom „Itaker“ über den „Ami“ bis hin zum „Japsen“ und zum „Franzmann“ eine blitzsaubere Kollektion der politisch unkorrektesten Ansichten zu diversen Nationalcharakteren in Versform brachte. Vielleicht ist es der alte Straßenmusiker, der noch in Thomas Gsella schlummert, der mit solchen Strategien dafür sorgt, dass selbst sehr poesieferne Leser an seiner Lyrik hängen bleiben. Gleiches gilt letztlich auch für sein neues Langgedicht „Kinder, so was tut man nicht“, das im Geiste von Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ ein paar wahrhaft diabolische Lausbuben und -mädchenstreiche besingt, die sich Eltern nicht einmal in Albträumen auszumalen wagen. Doch ab und an, zwischendurch, leistet er sich ein ebenso komisches wie sanftes Gedicht, wie jenes über „Vater und Kind“, und zeigt, dass er aus fast allem, sogar aus leisen Tönen einen Lacher machen kann: „Ahm… ähh… Papa-a?“ „Ja, mein Kind?“ „Wenn von frühlingsgrünen Zweigen Zitternd sich zur Sonne neigen; Zarte junge Frühlingsrosen; Wenn statt grauer Winterlüfte; Frühlingsbunte Frühlingsdüfte streichelnd unsre Sinne kosen – Steckt anstelle Herbst und Winter da vielleicht der Frühling hinter?“ „Kannst Du die Frage noch mal wiederholen?
Thomas Gsella „Der kleine Berufsberater“ Zeichnungen von Greser & Lenz. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 95 Seiten, 9,95 €
Thomas Gsella „Kinder, so was tut man nicht. Ein pechschwarzes Brevier für die Familie“ Zeichnungen von Rudi Hurzelmeier. Rowohlt Verlag, Reinbek 63 Seiten, 8,00 €