Jetzt ist er also da. Auf diesen Roman glaubte man seit den Anschlägen auf das World Trade Center geradezu ein Anrecht zu haben. Von Don DeLillo, der seit fast vier Jahrzehnten in seinen Büchern an ein Porträt des zeitgenössischen amerikanischen Bewusststeins in Superbreitwandformat pinselt, der schon ein Vierteljahrhundert vor dem Einsturz der New Yorker Türme in seinem Roman „Spieler“ (1977) dem Terror und dem World Trade Center zentrale Rollen zuteilte, der in „Libra“ (1988) am Beispiel der Ermordung John F. Kennedys die paranoide Welt der Attentäter, Agenten und Amokschützen mit quälender Intensität vergegenwärtigte, der in seinem Roman „Mao II“ (1991) das katastrophale Wechselspiel zwischen mediengeilen Terroristen und gewaltgeilen Massenmedien ausleuchtete, von diesem Don DeLillo, der längst zum literarischen Lieblingsalptraum Amerikas geworden ist, sehnte man regelrecht jenen großen 9/11-Roman herbei, der die Anschläge samt Folgen mit den Mitteln des Erzählens in ein überzeugendes Bild bringt und sie also endlich fassbarer, endlich begreifbarer macht. Und jetzt ist er also da. Natürlich ist es gut, sich vorab noch einmal vor Augen zu stellen, dass derartige Leser-Erwartungen schnell völlig überzogene Ausmaße annehmen können, dass man angesichts eines Schocks, wie ihn der 11. September auslöste, nur zu leicht in die Haltung eines verdatterten Kindes gerät, das sich von vom erfahrenen Vater, ersatzweise von einem für weise gehaltenen Schriftsteller die letztgültigen Erklärungen, wenn nicht gar unbewusst Errettung aus Schock und Gefahr verspricht und dass man also die Kirche im Dorf lassen muss, da man sonst von dem Buch und seinem Autor etwas erhofft, was keine Buch oder Autor der Welt leisten kann. Doch selbst wenn man Don DeLillos „Falling Man“ mit solchermaßen reduzierten Erwartungen betrachtet, ist der Roman eine Enttäuschung. Die Hauptfiguren des Buches sind ein knapp vierzigjähriger Rechtsanwalt namens Keith, der im Südturm des World Trade Centers arbeitete, und seine Ex-Frau Lianne, eine Lektorin, die den gemeinsamen Sohn Justin alleine aufzieht, da sich das Paar schon geraume Zeit vor dem schreckenstarren Spätsommertag des Jahres 2001 getrennt hat. Der Roman beginnt mitten im Inferno selbst. Keith hat es noch vor dem Einsturz des ersten Turms ins Freie geschafft, ist nur leicht verletzt, aber von Staub wie eingehüllt und stolpert durch die mit Trümmer und Asche überzogenen Straßen. Als sich schließlich ein Retter seiner erbarmt, lässt er sich nicht in die eigene Wohnung oder ein Krankenhaus bringen, sondern nennt instinktiv die Adresse seiner früheren Frau. Diese Eingangsszene ist bezeichnend für den Roman. DeLillo stellt nicht den Anschlag oder dessen vordergründige politische Konsequenzen in den Mittelpunkt, sondern er zeigt nach guter alter Erzählertradition wie sich ein welthistorisches Ereignis auf einzelne Menschen und ihr Schicksal auswirkt. Keith und Lianne rücken angesichts des Desasters zur eigenen Verblüffung zunächst wieder näher aneinander. Sie trauen dem plötzlichen Ehefrieden nicht recht, aber Keith scheint zwischen den Trümmern von Ground Zero einen neuen Sinn für Gemeinsamkeit, Nähe, vielleicht gar für jene viel umraunten family values entdeckt zu haben. Zwar hat er noch eine kurze Affäre mit einer anderen Überlebenden aus dem Südturm, deren Aktentasche er in seiner Verwirrung rettete, doch die beendet er bald, denn sie widerspricht dem, „was er in letzter Zeit für die Wahrheit seines Lebens hielt, nämlich dass er es ernsthaft und verantwortungsvoll leben sollte, nicht danach grapschen, eine ungeschickte Handvoll nach der anderen.“ Ein anderes Paar dagegen trennt sich. Liannes Mutter, Professorin für Kunstgeschichte, gerät mit ihrem deutschen Liebhaber Martin in der Frage nach den Motiven für den Anschlag so gründlich aneinander, dass sie sich trennen. DeLillo nutzt den Streit, um die inzwischen bis zur Erschöpfung ausgetauschten amerikafreundlichen und amerikakritischen Argumente noch einmal anklingen zu lassen. Martin, der früher offenbar Verbindungen zur RAF hatte, hält die Flugzeugattacken für eine Art Notwehr der vom Westen kolonisierten Dritten Welt. In den Augen von Liannes Mutter sind auch Völker und Nationen zuallererst für sich selbst verantwortlich und können nicht wie ein missratenes Kind seinen Eltern anderen, sie angeblich ausbeutenden Mächten die Schuld für das eigene Versagen zuschieben. Doch so heftig die beiden auch polemisieren, sie bleiben einander in ihrem Streit verbunden – auch wenn schließlich nur noch der Frontverlauf ihrer gegensätzlichen Argumente die letzten Berührungspunkte markiert. Keith und Lianne dagegen driften endgültig auseinander. Keith wird Profi-Pokerspieler, verbringt seine Tage in der Kunstwelt von Las Vegas und rüstet sich gegen die absurde Sinnleere seines Daseins mit einer stoischen, gefühlstoten Coolness, die sich DeLillo offenbar bei dem „Fremden“ des von ihm verehrten Albert Camus abgeschaut hat. Lianne dagegen richtet sich auf ein einsames Leben ein und sucht, obwohl sie nicht wirklich empfänglich ist für religiöse Botschaften, immer häufiger Zuflucht in der Kirche ihrer Gemeinde. Also: Ausweglos festgefahrene politische Fronten unter den Älteren, unter den Jüngeren entweder eine abgeklärte, kaltschnäuzige, selbstgenügsame Apathie oder eine wachsende Empfänglichkeit zwar nicht für die Spiritualität, wohl aber für den Trost, den die Kirche anbietet. Auch wenn DeLillo damit ganz sicher kein repräsentatives Gesellschaftspanorama im soziologischen Sinne entwerfen will, darf man in all dem wohl mehr sehen als nur die Haltungen einzelner Romanfiguren. Er führt vor, was er als für typische Reaktionsmuster in einer liberalen westlichen Gesellschaft hält, die sich bedroht fühlt und um ihren inneren Zusammenhalt, pathetisch formuliert: um ihre Werte fürchtet. Das ist alles durchaus einleuchtend, doch leider breitet DeLillo es in derart spröden Erzähl-Brocken und -Bröckchen aus, dass es schwer fällt, Interesse oder gar Sympathie für seine Figuren zu entwickeln. Die machen vielmehr einen merkwürdig konstruierten, abstrakten Eindruck, so als seien sie lediglich literarische Demonstrationsobjekte. Das Buch führt allerdings noch eine weitere Strategie vor, mit der Angst vor dem Terror umzugehen. Durch DeLillos Roman-New York geistert ein Aktionskünstler, der sich, unangekündigt und nur durch ein dünnes Seil gesichert, von erhöhten Punkten plötzlich ins Leere fallen lässt. Vor den Augen der verstörten Passanten nimmt er dann in der Luft hängend die Haltung jenes „Falling Man“ ein, der Minuten nach den Anschlägen vom World Trade Center stürzte und der auf einem seither weltweit millionenfach reproduzierten Foto von Richard Drew zu einer Ikone wurde. Hier deutet sich eines der Standardmotive der Romane DeLillos an: Bilder des Schreckens werden von den Massenmedien so lange wiederholt, bis sie für den Betrachter ihre Realität verlieren und zum puren Zeichen erkalten. Seinen fiktiven Performancekünstler stellt den Falling Man „live“ nach und sorgt so dafür, dass der Horror des 11. Septembers für sein unfreiwilliges Publikum wieder tatsächlich fühlbar, erlebbar wird. Damit noch nicht genug: In drei Kapiteln seines schmalen Romans versucht sich DeLillo zudem an einer knappen psychologischen Skizze eines der Attentäter vom 11. September. Er zeigt ihn zusammen mit seinem Mitverschwörern in einem Hamburger Gebetshaus, beim Flugunterricht in Florida, schließlich im Anflug auf die Hochhaustürme und lässt dabei durchblicken, wie in der Seele dieses Mannes fragiler Glaube und robuster Nihilismus, wie Sehnsucht nach Gott und Sehnsucht nach Weltvernichtung ineinander übergehen. Bei solchen Themen ist DeLillo immer für überraschende Perspektiven gut: Manchmal erinnern seine verloren auf ihren Tod zuarbeitenden Terroristen an jene trostlosen Pokerfreunde, mit denen Keith nach den Anschlägen seine Tage verbringt, manchmal scheinen die Lebensangst der Gläubigen in jenem Hamburger Gebetshaus nicht unähnlich der Lebensangst, die Lianne schließlich in ihre New Yorker Kirche treibt. Doch alles in allem macht der Roman einen einerseits überladenen, andererseits bruchstückhaft Eindruck. Vieles, allzu vieles wird nur flüchtig angerissen und nie erzählerisch ausgeführt. Keith und Lianne, die beiden Hauptfiguren, werden von einer Sprach- und Kontaktlosigkeit beherrscht, die alles was sie tun oder denken mit kalter Gleichgültigkeit infizieren. Sicher, hier soll das traurige Bild einer ehemals liberalen, selbstbewussten Gesellschaft gezeichnet werden, das mehr und mehr das Gedächtnis an die eigenen Fähigkeiten und Qualitäten verliert – weshalb zu alledem auch noch der Gedächtnisschwund und der damit verbundene Identitätsverlust von Liannes an Alzheimer erkrankter Mutter in dem Buch einen breiten, bedeutungsschweren Raum einnimmt. Vielleicht darf ein solcher Roman keinen allzu geläufigen Eindruck machen, sondern muss selbst ein wenig brüchig wirken und um seinen inneren Zusammenhang ringen. Aber von dem Sog, den manche Romane DeLillos beim Lesen erzeugten, ist in „Falling Man“ selten etwas zu spüren. Im Schlussspurt demonstriert DeLillo dann noch einmal, wozu er als Erzähler tatsächlich fähig ist. Der Roman endet fast genau da, wo er begonnen hat, er zeigt uns Keith in jenem Moment, in dem das Flugzeug einige Etagen oberhalb seines Arbeitsplatzes in den Hochhausturm einschlägt. Mit welcher Kraft zur sinnlichen Vergegenwärtigung DeLillo hier Überrumpelung, Ungläubigkeit, Chaos, Ohnmacht, mühsam beherrschte Panik und irrationale Ersatzhandlungen einfängt, ist schlicht meisterhaft. Ein Jammer, dass er in diesem Buch nur selten die Kraft zu solcher erzählerischer Intensität findet. Don DeLillo „Falling Man“. Roman Aus dem Englischen von Frank Heibert Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007 265 Seiten, 19.90 €
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