Autofahren wie ein Buddhist

Thommie Bayers „Kleine Geschichte vom Glück“
Thommie Bayer wird, vor allem im südwestdeutschen Raum, als Autor unterhaltsamer Romane gefeiert. In Freiburg und Umgebung ist er weltberühmt. Der Kulturbetrieb hierzulande hat lange Zeit in einer unsympathischen Mischung aus Weltfremdheit, intellektueller Überheblichkeit und altbackenem Avantgardismus auf Literatur herabgeschaut, die sich nicht allein der Kunst, sondern auch dem Vergnügen ihrer Leser verpflichtet sieht. Doch das ist weitgehend vorbei, selbst ehemals recht verbissene Kritiker bekennen sich inzwischen dazu, Unterhaltung zu schätzen zu wissen. Weiterlesen

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Ein Gespräch mit Ernst Augustin über seinen Roman „Schönes Abendland“, die Gruppe 47 und das Schreiben allein in der Wüste sowie Schwarze Romantik

Der Schriftsteller Ernst Augustin fällt aus der Reihe. Schon sein Haus im Münchner Stadtteil Neuhausen sticht heraus: Zwischen gleichförmigen Fassaden wirkt es von den Bäumen des eigenen Gartens wie umhüllt und verborgen. Sein Treppenhaus ist bis in den dritten Stock hoch ausgemalt von Augustins Ehefrau, der Malerin Inge Augustin. Der Hausherr, für den Architektur nicht nur in seinen Romanen eine große Rolle spielt, hat es mit Dachterrasse und Keller-Disko, mit Kajützimmer und privater Nachtbar, mit verschwiegenen Gängen und geheimen Türen zu einem sehr persönlichen Wunderhaus umgestaltet. Mit Ernst Augustin sprach Uwe Wittstock.

Uwe Wittstock: In diesem Herbst ist ihr Roman „Schönes Abendland“ erschienen, eine Neufassung ihres Romans „Mamma“ von 1970. Was für Erfahrungen haben Sie bei der Arbeit an diesem fast vier Jahrzehnte alten Buch gemacht?
Ernst Augustin: Ich habe das Buch immer geliebt, aber es wurde nicht geliebt. Dann habe ich es noch einmal durchgelesen, und ich muss sagen, es war misslungen. Ich erzählte nacheinander die sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten von Drillingen. Aber die Reihenfolge war falsch. Ich habe die jetzt umgestellt, vieles neue geschrieben und verändert. Einer der drei Helden wird General, dessen Lebensgeschichte stand früher zu Anfang. Marcel Reich-Ranicki hat das Buch damals schroff abgelehnt, er fand es militaristisch. Offenbar hatte er nur den Anfang gelesen und die Ironie der Geschichte nicht verstanden. Heute würde er, mit dem Kaufmann beginnend, vielleicht mehr Stimmigkeit entdecken.
Wittstock: „Schönes Abendland“ ist ein großer, anspruchsvoller Titel. Fast, als enthielte der Roman eine Art Weltformel, eine Erklärungsformel fürs gesamte Abendland.
Augustin: Es ist ein abendländisches Gleichnis. Es beginnt in der Renaissance-Zeit, in der drei Männer, der Kaufmann, der General und der Arzt für allzu großes Gewaltstreben hingerichtet werden. Sie werden auf der Stelle wiedergeboren – dieses Mal in unserer Zeit – und wieder streben sie mit allen Mitteln, die ihre Gesamtexistenz in sich trägt, nach Reichtum, Macht, Wissen. Im Übermaß. Ich habe diese drei Lebensläufe als eine Art absurde Kultur- und Sittengeschichte geschrieben: Absurdität des Habenwollens, der maßlosen Aufstiegs- (und Abstiegs-) Möglichkeiten, und der daraus resultierenden ziemlich tödlichen Ergebnisse. So erscheinen sie mir doch sehr abendländisch.
Wittstock: Wie war das Echo damals? Aus heutiger Sicht hat man nicht den Eindruck, dass ein so ironisch flirrendes, phantastisches, schrilles Buch gut in die Hochzeit der Studentenbewegung passte.
Augustin: Ich habe auch Zustimmung bekommen, größtenteils aber Ablehnung geerntet. Der Werbemann meines damaligen Verlages, Suhrkamp, hatte den Slogan geprägt: Man erzählt wieder. Das klang wie: Man trägt wieder Hut und kam gar nicht gut an. Der Roman passte wohl tatsächlich nicht in diese Zeit eines teilweise politischen, teilweise literarisch formalistischen Avantgardismus. Ich wollte erzählen, ich bin ein Erzähler. Vielleicht trifft das Buch heute auf offnere Ohren. Wittstock: Sie haben aus diesem Roman auch 1966 in Princeton bei der Gruppe 47 gelesen? Augustin: Da fing das Unglück schon an. Ich las dort einen Ausschnitt aus dem Romanteil über den Arzt unter meinen drei Helden. Eine in sich geschlossene, runde Geschichte über seine kindlichen Doktorspiele. Es war ein großer Erfolg, die Geschichte kam prächtig an, wurde hoch gelobt. Damals glaubte man ja noch, dass jeder, der von der Gruppe 47 gefeiert wird, sofort der nächste Literaturstar wird. Ein Journalist der Münchner Abendzeitung telegrafierte sofort in seine Redaktion: „Ich war dabei!“ Man hat mich richtiggehend hofiert. Aber nur bis 12 Uhr mittags. Am Nachmittag kam Peter Handkes großer Auftritt, seine Kritikerbeschimpfung, seine wütende Rede gegen die Gruppe 47. Damit war ich völlig abgemeldet. Ich existierte nicht mehr. Handke war nun der große Mann.
Wittstock: Man merkt das ihren Büchern deutlich an: Sie haben sich nicht den damals in Deutschland verbreiteten literarischen Trends angeschlossen. Welche Vorbilder hatten Sie statt dessen?
Augustin: Ich hatte wenig Vorbilder. Ich kam ja aus der DDR. Die ganze Moderne gab es da gar nicht. Es gab keinen James Joyce, es gab noch nicht einmal Kafka. Was ich dort gelesen habe, waren die großen russischen Autoren, ich habe Gogol gelesen und sehr geliebt. Dann natürlich Thomas Mann. Und Hans Fallada, ein ausgesprochener Erzähler, den ich sehr mochte. Ansonsten aber habe ich mich vor allem mit den Romantikern beschäftigt. Mit E.T.A. Hoffmann, Jean Paul, Edgar Allan Poe, Melville. Die Romantiker sind für mich bis heute der wichtigste literarische Bezugspunkt.
Wittstock: Haben Sie damals überhaupt in Deutschland gelebt?
Augustin: Ja und nein. Ich habe ja immer einen Fuß draußen gehabt. Ich kam 1958 aus der DDR in den Westen und bin dann direkt nach Afghanistan gegangen, habe dort bis 1961 als Arzt gearbeitet für eine amerikanische Firma, die unter anderem einen Staudamm baute, Brücken und ein Bewässerungssystem. Entwicklungshilfe eben. Dort habe ich dann angefangen zu schreiben. Meinen ersten Roman „Der Kopf“. Das war geboren aus der Situation. Ich saß allein mitten in der Wüste und schrieb vor mich hin. Und habe mir so durch meine Figuren etwas Gesellschaft verschafft. Nach 1961 kam ich dann zurück nach Deutschland, bevor ich in Mittelamerika, in Costa Rica gearbeitet habe. Das Aufnahmeverfahren als DDR-Flüchtling in der Bundesrepublik habe ich erst nach meiner Rückkehr aus Afghanistan gemacht. Genau genommen war ich dort – den DDR-Pass hatte ich nicht mehr, den neuen Pass noch nicht – drei Jahre lang staatenlos.
Wittstock: Das ist vielleicht eine bezeichnende Episode für Ihr Schicksal: Sie sind ein Sonderfall. Ihr üppiges, schwelgerisches, ebenso phantastisches wie realistisches Fabulieren passt hierzulande nicht in die üblichen Kategorien.
Augustin: Eigentlich bin ich selbst Romantiker. Es ist ja eine sehr deutsche, eine urdeutsche literarische Veranlagung. Schwarze Romantik liegt mir am meisten. Es muss im Hintergrund immer ein schweres Gewitter aufziehen, immer schwarz bei aller Lieblichkeit im Vordergrund, bei aller Ironie und leichter Hand, die ich rüberzubringen versuche. Es ist mein Los und meine Freude.

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Aufbruch, Aufbruch, immer Aufbruch

Eine Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek zeigt die zwei Leben des legendären Verlegers Kurt Wolff 

Ja, wenn man solche Postkarten bekommt! Da muss das Verlegerleben doch die reine Lust sein. „Sehr geehrter Verlag“, steht da in geschwungener, klarer Handschrift, „gleichzeitig schicke ich Ihnen express-rekommand das Manuskript der ‚Strafkolonie’ mit einem Brief. Hochachtungsvoll ergeben Dr. Kafka. 19/XI/18.“ So bescheiden und unprätentiös eine der berühmtesten und meistgelesenen Erzählungen des 20. Jahrhunderts frei Haus geliefert zu kriegen – kann es für einen Verleger größeres Glück geben? Welche Sorgen sollten ihn da noch drücken? Doch leider sind die Realitäten des Verlagsgeschäfts andere. Kafkas Postkarte ist jetzt Teil einer Ausstellung zu Ehren Kurt Wolffs in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main, kuratiert von Barbara Weidle, gefördert von der Bundeskulturstiftung. Sie ist nicht zuletzt ein Resultat des Bemühens, für die Verlagsgeschichte etwas zu erreichen, was für die vor den Nazis ins Exil geflohenen Schriftsteller schon vor Jahrzehnten geleistet wurde: Sie wieder mit ihrer ganzen Lebensleistung als Teil deutscher Literaturgeschichte bewusst zu machen. Kurt Wolff, 1887 in Bonn geboren, wuchs in einer bildungsgesättigten Atmosphäre auf, von der man heute nur noch träumen kann. Der Vater war Professor und Musikdirektor der Stadt, die Mutter, die früh starb und dem Sohn ein Vermögen hinterließ, entstammte einer alten jüdischen Familie, die zum Freundesumkreis der Familie Goethes zählte. Als Wolff – gerade mal 23jährig – mit Ernst Rowohlt seinen ersten Verlag gründete, verfügte er über souveräne Kenntnissen in Musik, Kunst, Literatur, hatte bereits literaturhistorische Bücher ediert und eine kostbare 12.000 Bände zählende Bibliothek mit Erstausgaben aufgebaut. Selbst die größten Verleger sind selten länger als zehn, zwanzig Jahre auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten. In dieser Zeit verstehen sie es, wie die Beispiele von Samuel Fischer bis Siegfried Unseld zeigen, wichtige Autoren ihrer Generation an sich zu bindenden, bevor dann die nächste Generation nachrückt, zu der sie nur selten noch fruchtbare Kontakte herstellen können. Die Ungunst der Epoche wollte es, das Kurt Wolff diesen Gipfel seiner Ausstrahlungskraft schon früh, als noch unerfahrener Mann und dazu in wirtschaftlich katastrophalen Zeiten erreichte. Er war nur 25 Jahre alt, als er sich 1912 von Rowohlt trennte, zwei der hellhörigsten jungen Literaten der Zeit, Kurt Pinthus und Franz Werfel, als Lektoren einstellte und mit uferloser Energie über den Buchmarkt herfiel. Schon im ersten Jahr als alleinverantwortlicher Verleger produzierte er mehr Titel als der bislang bedeutendste Großverlag S.Fischer. Wie ein Magnet zog Wolff die wichtigsten Autoren des literarischen Expressionismus an sich. Bei ihm erschien alles, was bis heute die Literaturgeschichte dieser Zeit prägt: Werfel, Trakl, Georg Heym, Else Lasker-Schüler, Karl Kraus, Robert Walser, Arnold Zweig. Allein 1916 kamen Bücher heraus von Kafka, Carl Sternheim, Werfel, Gottfried Benn und Johannes R.Becher, dazu der Bestseller „Golem“ von Gustav Meyrink. Gleichsam auf Vorrat hatte Wolff im selben Jahr den während des Ersten Weltkriegs wegen der Zensur undruckbaren Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann eingekauft. Doch so blitzartig Wolffs Aufstieg war, so rapide war sein Absturz. Die meisten seiner Autoren, darunter Kafka, fanden zunächst kaum Leser. Dennoch kaufte Wolff, wie manisch getrieben, zahlreiche andere Verlage, wechselte mehrfach den Hauptsitz seiner Firma, produzierte kostspielige Kunstbände, obwohl sich der Buchmarkt nach dem Ersten Weltkrieg und während der Inflationszeit im freien Fall befand. Der Rheinländer Wolff war eher zu emphatischen Aufbrüchen begabt – darin vielen seiner expressionistischen Autoren verwandt – als dazu, seinen Unternehmungen Kontinuität und Dauer zu verleihen. Schon nach 1920 publizierte er kaum noch literarische Titel und als er seinen Verlag 1930 mit Anfang Vierzig aufgeben musste, hatte er sein Vermögen und große Teile der Mitgift seiner ersten Frau aufgebraucht. Zu den Verdiensten dieser Ausstellung gehört, dass sie auch das nächste, weniger bekannte Verlegerleben Wolffs dokumentiert. Zusammen mit seiner zweiten Frau Helen floh er 1941 vor den Nazis nach New York, und gründete dort den Verlag Pantheon Books. Zu ihnen stieß ein anderer Exilant, der in Russland geborene Jacques Schiffrin, der in Frankreich die weltberühmte Sammlung „La Pléiade“ aus der Taufe gehoben hatte, die bis heute vom Verlag Gallimard fortgeführt wird. Zusammen spezialisierten sie sich darauf, große europäische Literatur auf den amerikanischen Buchmarkt zu bringen, auch wenn die keine großen Markterfolge garantierte. „Doch wie auch immer die aktuellen Verkaufsziffern ausfielen“, schrieb später Jacques Schiffrins Sohn André, „die Büroräume des Verlags am Washington Square bildeten für die Emigranten in New York eine Oase der Glückseligkeit, stilvoll in einer der prachtvollen Stadtvillen untergebracht, die früher die Südseite des Parks begrenzten.“ Ökonomisch wirklich lohnend wurde Pantheon Books erst in den fünfziger Jahren mit einem Beststeller von Anne Morrow Lindbergh: „Muscheln in meiner Hand“ und der amerikanischen Lizenz von Boris Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“. Dennoch wurden Kurt und Helen Wolff bald darauf aus dem Verlag gedrängt, der ihren literarischen Qualitätsvorstellungen immer weniger entsprach. Helen Wolff ist bis zu ihrem Tod 1994 eine wer wichtigsten Vermittelrinnen europäischer Literatur nach Amerika geblieben. Sie brachte in einem speziell auf sie zugeschnittenen Imprint-Verlag unter anderem Uwe Johnson, Grass, Frisch, Jurek Becker, Walter Benjamin, Karl Jaspers und Umberto Eco heraus. Kurt Wolff starb, wie er gelebt hatte, im Dienst der Literatur. 1963 wurde er auf dem Weg zu einer Ausstellung expressionistischer Literatur in Marbacher Schiller Nationalmuseum von einem Lastwagen überfahren. Man beerdigte ihn in Marbach, wo zwölf Jahre später auch sein alter Lektor Kurt Pinthus beisetzte wurde, dessen legendäre Anthologie „Menschheitsdämmerung“ wie keine andere den Geist der frühen Autoren Kurt Wolffs bewahrte. Doch diese Sammlung war erst 1920, also nach der kurzen, explosionsartigen Blüte von Wolffs Verlag fertig geworden – und erschien deshalb schon im Verlag seines alten Konkurrenten Rowohlt.

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Maxim Billers Roman „Esra“ wird auch vom Verfassungsgericht verboten – und muss noch einmal vor Gericht

Auf den ersten Blick wirkt das Urteil des Verfassungsgerichtes wie ein Teilerfolg der Literatur. Genauer betrachtet ist dieser Teilerfolg allerdings von einer totalen Niederlage für die Kunstfreiheit kaum zu unterscheiden. Das Verfassungsgericht akzeptiert das Urteil nicht, mit dem 2005 der Bundesgerichtshofes (BGH) den Roman „Esra“ von Maxim Biller endgültig verbot und zwingt die Richter des BGH, sich noch einmal mit dem Fall zu befassen. Doch dass der Roman bei der neuen Verhandlung eine Chance bekommen könnte, dem Verbot zu entgehen, ist fast ausgeschlossen. Sicher ist nur: Das Urteils des Verfassungsgerichtes wird für die deutsche Literatur von einschneidender Bedeutung sein. Weiterlesen

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Neues von der Armee der Clowns

Ulrich Peltzers „Teil der Lösung“ beginnt als politischer Roman und endet mit der Frage, ob sich Held und Heldin kriegen

Kein einfacher Fall. Der Berliner Schriftsteller Ulrich Peltzer – inzwischen gut fünfzig Jahre alt, also weiß Gott kein Jüngling mehr – zählt zu den talentierten Erzählern seiner Altersklasse. Wenn er sich konzentriert, ist er zu außerordentlichen Leistungen fähig. Zu der Eingangsszene seines neuen Romans „Teil der Lösung“ zum Beispiel. Hier schickt er vier junge Leute ins Sony Center am Potsdamer Platz, kostümiert mit roten Pappnasen oder Melone oder als Ballerinas verkleidet. Wie eine schnelle Eingreiftruppe jener „Clowns Army“, die beim G8-Gipfel in Heiligendamm so effektvoll vor Fernsehteams und auf Polizistennasen herumtanzte, spulen die vier dort eine flotte kleine Protestnummer ab, mit der sie die Touristen auf die umfassende Video-Überwachung des Gebäude aufmerksam machen: „Bleiben Sie wachsam, meine Damen und Herren, und kümmern Sie sich um Ihre Aufnahmen.“ Peltzers Blick ist dabei ganz nüchtern, von geradezu wissenschaftlicher Unaufgeregtheit. Er erzählt knapp und kompakt, bringt Tempo in die Szene, zeigt, wie die gut geprobten Programme beider Parteien abschnurren, hier die Spaßguerilla vor den Kameras, da die Wachmänner vor den Mattscheiben, zeigt, wie diese Programme kunstgerecht ineinander greifen, wie die Protest-Clowns vorsichtshalber Videokameras zücken, sobald der Sicherheitsleute leibhaftig auftaucht, die nun ihrerseits nicht gern gefilmt werden möchten, zeigt, wie die Touristen den Rummel routiniert zur Kenntnis nehmen, um dann nach dem nächsten Event Ausschau zu halten, zeigt, wie beide Seiten samt der hinzu geeilten Polizei die Situation vernunftgerecht entspannen und wie schließlich der Betrieb unverändert weiterläuft, bis auf ein paar Kinder, die vor den entdeckten Kameras Faxen machen – fast so, als liefen sich diese Kinder jetzt mal schon warm, um dann irgendwann zukünftig von den gerade vertriebenen Unruhestiftern den Stab zu übernehmen im Staffellauf der Protest-Generationen. Diese erste Szene enthält in konzentrierter Form schon alles, was der Roman seinen Lesern politisch vor Augen führt. Sie ist geschickt gebaut, sprachlich makellos, voller kleiner kluger Beobachtungen. Vor allem aber schlägt sie sich nicht vorschnell auf eine der beiden Seiten, sondern zeigt, wie sehr die Gegner aufeinander angewiesen sind, wie sehr sie in ihrem Denken und Tun um den jeweils anderen kreisen. Ihr Duell wirkt wie zielloses, sich endlos fortzeugendes Ritual. Man spürt bei all dem, wie genau Peltzer dem amerikanischen Romancier Don DeLillo auf die Finger geguckt hat, doch spricht das nicht gegen Peltzer, denn schließlich ist DeLillo wahrlich kein übles literarischen Vorbild. Doch leider hält der Roman dieses Niveau nicht. Erzählt wird die Geschichte des Mittdreißigers Christian, der als freier Journalist zum typischen akademischen Prekariat Berlins gehört. Früher mal träumte er, die Welt zu verändern, heute hat er bereits Schwierigkeiten, das eigene Leben einigermaßen in der Spur zu halten. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, Interviews mit Ex-Mitgliedern der Roten Brigaden Italiens zu machen, die vor dreißig Jahren unter Mitterands schützender Hand in Frankreich Zuflucht vor den Fahndern ihrer Heimat fanden. Nun aber, fast ein halbes Menschenleben später, sollen sie von der Regierung Chirac an die Regierung Berlusconi ausgeliefert werden. Von den Inhalten dieser Interviews erfährt der Leser im Roman nichts. Dafür aber viel über die gut zwanzigjährigen Nele, einer der beiden Ballerinas aus dem Sony Center. Christian begegnet ihr zufällig und verliebt sich in sie auf seinem langen, windungsreichen Weg zu jenen untergetauchten italienischen Gesprächspartnern. Am Beispiel Neles führt Peltzer noch einmal detailliert vor, was sich in der Eingangsszene schon andeutete: Ihre kleine Aktivistengruppe hadert mit vielem, unter anderem auch mit der zunehmenden Überwachung allerorten. Ihre kleinen Protestaktionen liefern den Überwachern allerdings zusätzliche Argumente für noch strengere Überwachung. Weshalb Peltzers Staatsschützer geradezu sehnsuchtsvoll Ausschau halten nach jedem frisch nachwachsenden Oppositionszirkelchen, das sie dann mit allen Tricks hochzupäppeln und weiter in Richtung Radikalisierung und Gewalttätigkeit zu locken versuchen – denn eine solche vielleicht gewaltbereite Opposition verschafft ihnen die beste Rechtfertigung für ihre Arbeit und ihre Etatansprüche. Eine solche Sicht auf die Wechselwirkungen zwischen Terror und Terrorbekämpfung ist nicht ungewöhnlich. Jeder zweite Polit-Thriller beschreibt sie noch drastischer als Peltzer. Doch der will offenbar keinen literarischen Polit-Thriller schreiben. Vielmehr wehrt er sich geradezu mit Händen und Füßen dagegen, seinem Roman irgendeinen stringenten Plot zu geben. Stattdessen reiht er locker verbundene Szenen aneinander, führt recht sprunghaft etliche Nebenfiguren, Nebenhandlungen, Nebenschauplätze ein, um sie bald darauf wieder aus dem Blick zu verlieren. Seine Geschichte bläht sich so immer weiter auf, wird dabei aber nicht intensiver, sondern immer blasser und schwerfälliger. Und je mehr Peltzers Roman seinen Schwung verliert, desto mehr verliert er auch die politischen Themen des Anfangs aus den Augen –bis am Ende schließlich die Frage in den Mittelpunkt rückt, ob sich Held und Heldin nun kriegen oder nicht. Diese Liebensgeschichte ist aber psychologisch nicht sonderlich überzeugend und alles in allem auch nicht sehr originell, sondern reichlich konventionell. Kurz: Ulrich Peltzer lässt seinem Erzähltalent viel zu lange Leine. Ihm gelingen immer wieder einzelne bewundernswert plastische und dichte Szenen aus einem halbintellektuellen bis vollakademischen Milieu, das sich für alleinzuständig hält in Sachen Weltverbesserung. Aber er ist nicht fähig oder bereit, aus diesen Szenen ein Ganzes zu formen, das literarisch mehr darstellte als die Anhäufung der einzelnen Szenen.

Ulrich Pletzer: „Teil der Lösung“. Roman Amman Verlag, Zürich 2007 456 Seiten, 19,90 €

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Der Papst, den ich gekannt habe

 Hans-UIrich Treichel erzählt von einem Mann mit zu vielen Leben
Wer etwas notiert, möchte etwas festhalten. Der Held von Hans-Ulrich Treichels neuer und sehr seltsamer Geschichte „Der Papst, den ich gekannt habe“, hat offenbar eben jenen Wunsch, denn er kauft haufenweise Notizbücher. Es gehört zu seinen schönsten Vorstellungen, etwas in diese Notizbücher hineinzuschreiben, also „einen Vers, einen Romananfang oder den Abschnitt einer Erzählung“ festzuhalten. Doch leider kommt er nie dazu. Seine Notizbücher bleiben leer. Statt Gedanken und Ideen, statt Verse und Romananfänge zu fixieren, liest er Zeitungen und verliert sich so an das bunte, flüchtige Durcheinander der Nachrichten und Eindrücke, die auf ihn einstürzen. Das klingt zunächst harmlos. Denn wie extrem flüchtig, wie schwer greifbar die Welt von Treichels Ich-Erzähler ist, davon macht man sich anfangs noch keine rechte Vorstellung. Was nicht zuletzt an der Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit liegt, mit der dieser seine imposante Bildungsgeschichte ausbreitet: Sechs Sprachen, so sagt er, spricht er fließend, „besser italienisch, als mancher Italiener“. Er spielt beneidenswert gut Klavier, hat die Werke der Weltliteratur in Originalsprachen gelesen, steigt in den besten Hotels ab und wird Jahr für Jahr zu Konferenzen nach Castelgandolfo eingeladen, wo er Papst Johannes Paul II begegnete – was dem Buch seinen Titel gibt. Doch dann beginnt die Geschichte den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es tauchen immer mehr Details auf, die nicht recht zusammenpassen. Da erzählt der Held, er habe deutsche und portugiesische Literatur parallel an zwei italienischen Hochschulen unterrichtet. Habe eine Galerie in Rom betrieben und eine zweite in New York gründen wollen. Habe aber sein Luxusleben in Rom dunkler Geschäfte wegen aufgeben müssen und deshalb in New York als professioneller Hundeausführer mit gefälschtem veterinärmedizinischen Abschlusszeugnis gelebt. Habe in Bamberg Zoologie studiert. Habe in Berlin als Sozialpädagoge eine Diplomarbeit über Wilhelm von Humboldt geschrieben und in Jamaika als Entwicklungshelfer gearbeitet. Ja, er habe noch vor seinem Architekturstudium eine Tischlerlehre absolviert. Treichels Held ist offenbar nicht nur unfähig seine Notizen festzuhalten, sondern auch seine Identität. Bei ihm ist alles derart flüchtig, dass er alle zehn bis zwanzig Seiten in ein völlig anderes Leben, ein anderes Schicksal hineinrutscht. Da er von all diesen halsbrecherischen biographischen Kurven und schier unermesslichen Bildungshorizonten mit Sinn für Selbstironie und lakonische Pointen zu berichten weiß, lässt man sich ganz gern weiter und weiter durch seinen Lebensabriss treiben – doch glaubwürdiger wird er dabei nicht. Fast hat man den Eindruck, in eine Geschichte geraten zu sein, die mit erzählerischen Mitteln etwas Ähnliches betreibt wie Max Goldt mit seinen Kolumnen. Sie hangelt sich ohne jede Rücksicht auf Plausibilität munter von Hölzchen zu Stöckchen, von Rom nach Jamaika, vom Tischer zum Hochschullehrer. So entpuppt sich das Buch, das sich zunächst wie die heitere, vom Licht Italiens durchflutete Plauderei eines souveränen Intellektuellen ausnimmt, als kleines literarisches Experiment. Treichel führt vor, wie sich mit einfachen erzählerischen Strichen der Charakter einer Figur skizzieren lässt, wie die Figur vor den Augen der Leser als ein etwas großsprecherischer, leicht täppischer Dandy Gestalt annimmt, wie diese Gestalt dann aber durch immer neu hinzugefügte biographische Behauptungen seine Konturen wieder verliert und schließlich , obwohl sie nach wie vor im gleichen, scheinbar überlegenen Tonfall spricht, in komplette Ungreifbarkeit zerfließt. Natürlich kann man diese Geschichte, wie so viele Arbeiten Treichels, auch als eine Reflektion darüber betrachten, welche Funktion das Schreiben für Schriftsteller übernimmt. Treichel hat einmal in einem Essay den um sein erstes Buch ringenden Autor, dem es einfach nicht gelingen will, seine literarischen Vorhaben aufs Papier zu bringen, als „Künstler ohne Kunst“ beschrieben. Der Held seines neuen Buches erinnert ein wenig an einen solchen „Künstler ohne Kunst“, der so gern etwas notieren und damit sowohl seinen Fantasien wie sich selbst als Autor feste Konturen geben möchte, der das aber nicht schafft, und deshalb das Gefühl nicht los wird, sein Dasein zerfließe zu völliger Konturlosigkeit. Auf den letzten Zeilen verleiht Treichel seiner Geschichte dann überraschend doch ein tendenziell realistisches Fundament, denn er deutet an, der Ich-Erzähler werde in einem geschlossenen Haus wohlverwahrt, sei also möglicherweise der unzurechnungsfähige Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt. Das ist alles in allem intelligent gemacht und hat streckenweise Charme. Doch letztlich bleibt es eine eher von Literaturtheorie als von Erzählfreude gespeiste Fingerübung. Hans-Ulrich Treichel Der Papst, den ich gekannt habe Suhrkamp, Frankfurt am Main 119 Seiten, 14,90 €

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Kleines Haus, großes Dach

Vor 60 Jahren erblickte die Gruppe 47 am Bannwaldsee das Licht der Welt. Eine Ortsbesichtigung

Am Säuling hat sich nichts geändert. Auch nicht am Tegelberg oder am Hennenkopf. Was sind schon sechzig Jahre für Felsriesen wie sie. Ansatzlos steigen sie aus den Feldern um den Bannwaldsee auf fast zweitausend Meter. Auch an St. Coloman, der Wallfahrtskirche, dürfte sich wenig verändert haben. Unwirklich schön steht sie in ihrer barocken Pracht samt Zwiebelturm inmitten der sattgrünen Wiesen vor dem Alpenhorizont. Aber sonst. Sonst ist nichts wie damals. Vermutlich lässt sich Vergänglichkeit nicht eindringlicher spürbar machen als durch die Verwandlung eines einst wichtigen, vielleicht historischen Ortes in einen Campingplatz. Hier haben selbst die Häuser Räder. Hier ist alles beweglich, flüchtig, immer auf dem Sprung, hier bleibt nichts. Vielleicht ist das ja das passende architektonische Symbol für eine Epoche, die Flexibilität, Tempo, eifrigen Wandel zu ihren Lieblingstugenden zählt: der Campingplatz. In einem der wenigen festen Häuser hier, das sich dreißig Meter vorm Bannwaldsee unter sein Dach duckt wie unter einen zu großen Hut und das heute von Caravans umzingelt ist, kamen vor sechzig Jahren acht Männer, zwei Frauen und drei Paare für ein Wochenende zusammen, um sich aus ihren Manuskripten vorzulesen. Und um über das Gelesene zu reden. Mehr nicht. Bald nannten sie sich Gruppe 47, verabredeten sich wieder in wechselnden Besetzungen an wechselnden Orten – auch sie beweglich, immer auf dem Sprung. Ihre Treffen wuchsen in wenigen Jahren zu der dominierenden literarischen Institution der Bundesrepublik heran. Der Aufstieg Heinrich Bölls begann mit dem Preis der Gruppe, der unbekannte Günter Grass las vor ihr aus seiner „Blechtrommel“ und war am Tag danach ein Schriftsteller mit Weltruhm. Die Debatten über die Gruppe finden bis heute kein Ende. Sie wird gefeiert und verteufelt, mal ist sie eine der unersetzlichen Pflanzschulen demokratischen Geistes in der jungen Bundesrepublik, mal eine Versammlung unbewusst antisemitischer Alt-Landser mit Neigung zum literaturpolitischen Machiavellismus. Auch das Hin- und Herwogen unserer Meinungen legt beachtliches Tempo vor. „Unterkunft für 10 Personen ab 6.September reserviert“, telegrafierte Ilse Schneider-Lengyel am 25. August 1947 an Hans Werner Richter. Sie war Lyrikerin, Fotografin, Ethnologien und vor den Nazis emigriert. Zurückgekehrt suchte sie im Nachkriegsdeutschland wieder Anschluss an den Kulturbetrieb. Sie schrieb für Richters „Ruf“ und als der die Zeitschrift „Skorpion“ plante und künftige Mitarbeiter zu einer Art gemeinsamer Lektoratssitzung zusammenholen wollte, bot sie ihm ihr Haus am Bannwaldsee als Treffpunkt an. Sie hatte in den zwanziger Jahren bei dem Bauhaus-Lehrer Lászlo Moholy-Nagy studiert und in Paris einige der großen Surrealisten kennengelernt. Manche ihre Gedichte quollen über vor surrealistischen Bildern – jede Zeile ein Seziertisch, auf dem sich Nähmaschine und Regenschirm begegnen. Sie muss sich empfindlich fremd gefühlt haben, zwischen den jungen Leuten, die ihr da ins Haus kamen und auf Hitlers Schulen von der Moderne nichts gehört hatten. Niemand wird behaupten wollen, Hans Werner Richter, der zum unumstrittenen Spiritus movens, zum „Chef“ und „Häuptling“ der Gruppe wurde, habe je einen objektiven Blick auf ihre Mitglieder gehabt. Aber zumindest deren Anfänge hat er nie beschönigt. Später nannte er die Autoren, die er an den Bannwaldsee eingeladen hatte, „literarische Anfänger, Neulinge in der Kunst des Schreibens“. Unter dem Vorgelesenen gab es „keine Meisterwerke zu entdecken. Es sind Versuche, Anfänge, dilettantisch oft, aber hin und wieder auch Talent, ja Begabung verratend.“ Sofort jedoch erblickte das später legendäre Ritual der Gruppe das Licht der Welt: Die Lesung auf dem gefürchteten „Elektrischen Stuhl“ samt unmittelbar folgender, wenig schonungsvoller Stehgreif-Kritik, wie sie bis heute im Klagenfurter Wettbewerb um den Bachmann-Preis fortlebt. „Es gibt“, erinnerte sich Richter, „keine Zwischenrufe, keine Zwischenbemerkungen. Neben mir auf dem Stuhl nimmt der jeweils Vorlesende Platz. Es ist selbstverständlich, hat sich so ergeben. Nach der ersten Lesung – es ist Wolfdietrich Schnurre – sage ich: ‚Ja, bitte zur Kritik. Was habt ihr dazu zu sagen?’ Und nun beginnt, was keiner in dieser Form erwartet hatte: der Ton der kritischen Äußerungen ist rau, die Sätze kurz, knapp, unmissverständlich. Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund.“ Zum Rätsel, zum Wunder der Gruppe 47 gehört, wie es ihr gelang, aus diesen zufälligen, dürftigen Anfängen zur machtvollsten Vereinigung des bundesdeutschen Literaturbetriebs zu werden. Bis heute hat keine Akademie, kein Schriftstellerverband oder PEN-Club je wieder ihre Ausstrahlungskraft erreicht. Hans Werner Richter, dieses – wie Grass es nannte – „Genie der Freundschaft“, verstand es, eine nachwachsende Elite von Autoren und Kritikern an die Gruppe zu binden. Grass, Böll, Schnurre, Alfred Andersch, Günter Eich, Ilse Aichinger, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser. Natürlich gab es in diesen ersten Nachkriegsjahrzehnten auch eine deutsche Literatur jenseits der Gruppe 47. Die großen Emigranten, Thomas Mann, Döblin, Brecht hatten sie als Podium nicht nötig und hätten sich eher die Zunge abgebissen, als für sie zu lesen. Auch jüngere Autoren wie Max Frisch oder Dürrenmatt machten ohne sie ihren Weg. Arno Schmidt weigerte sich, vor der Gruppe aufzutreten, obwohl Gerüchte umgingen, er stünde als ihr Preisträger so gut wie fest: „Ich eigne mich nicht als Mannequin.“ Man war für die Gruppe, man war gegen sie, wichtige Kritiker wie Friedrich Sieburg bekämpften sie. Aber gleichgültig ließ sie niemanden. Sie polarisierte die gesamte Buchbranche und rückte schon deshalb immer mehr in deren Mittelpunkt. Zu den Erfolgsgeheimnissen der Gruppe zählt das Desaster, das die Nazis hinterlassen hatten. Nie zuvor waren Land und Kulturbetrieb so gründlich zerstört, nie war das Bedürfnis nach moralischer Wiederaufrichtung so groß. Doch in zwölf Jahren Diktatur hatte sich das alte literarische Leben desavouiert, es gab keine kulturelle Metropole mehr, keine eingeübten Mechanismen, über die Autoren zu Verlegern fanden, keine Orientierungspunkte, an denen Kritiker ihr Urteil hätten schärfen können. Da bot sich die Gruppe als Treffpunkt an, als Drehscheibe, als luftiges Wanderzentrum, in dem der Literaturbetrieb sich neu finden und erfinden konnte. Wie für Gründerzeiten üblich, wurden auch in dieser dann Karrieren gemacht, die von nachgeborenen Autoren bestaunt, aber wohl nicht eingeholt werden können. In kurzer Zeit wurde ein mediales Aufmerksamkeits-Kapital aufgehäuft, das sich bis heute in vielen Fällen recht mühelos verzinst. Der Unmut mancher jüngerer Schriftsteller über die Gruppe 47 sollte also niemanden verwundern. Unterschiedlicher können Autoren-Generationen kaum sein: Die ältere hatte aus dem Krieg einen ungeheueren Erfahrungsdruck mitgebracht, aber oft wenig literarische Bildung. Für die heute jungen Autoren hält das Leben gewöhnlich alle literarischen Bildungschancen bereit, doch nur selten Erfahrungen, die sich in ihrer Dringlichkeit mit denen der Alten messen können. Zum ideologischen <em>think tank</em> wollte Richter seine Gruppe nie machen. Er wachte bei den Tagungen eisern darüber, dass sie jede politische Festlegung vermied – denn das hätte sich als Sprengsatz erweisen können, der die 47er auseinander riss. Doch von Beginn an herrschte in ihren Reihen ein eher sozialistischer als sozialdemokratischer Konsens, und nachdem die Gruppe zur literarischen Großmacht aufstieg, beherrschte dieser Konsens lange auch das Klima der Buchbranche. Die Autoren, die sich in Adenauers Deutschland selbst gern als Nonkonformisten bezeichneten, hatten einen neuen geistigen Konformismus geboren, der erst in den neunziger Jahren auseinanderzubröckeln begann. Das Ende lässt etwas von Größe und Geist der Gruppe erkennen. Ungezählte Kulturinstitutionen leben fort und fort, obwohl ihre Funktion längst erfüllt und ihre Zeit vorbei ist. Richter dagegen rief, nachdem studentenbewegte Demonstranten 1967 gegen ein Gruppentreffen protestierten, seine Autoren nicht wieder zusammen. Einige von ihnen hatten sich gleich eilfertig mit den Demonstranten solidarisiert. Es war überdeutlich, dass der allmähliche Abstieg der Schriftsteller als öffentliche Orientierungsfiguren und der Aufstieg anderer Vordenker begonnen hatte. Da die Gruppe in diesem Augenblick die Kraft zu einem selbstgezogenen Schlussstrich fand, vermied sie, zu einem Schatten ihrer selbst zu verkümmern und wurde damit endgültig legendenfähig. Ilse Schneider-Lengyel, in deren Haus alles begann, blieben zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Jahre. Sie hatte an den Treffen bis 1950 und ein letztes Mal 1957 teilgenommen. Ihr Gedichtband „september-phase“ erschien 1952, doch gelang es ihr nicht, sich wieder einzufädeln in den literarischen Betrieb. Sie lebte allein, rauchte viel, schrieb wenig und starb 1972 in einer psychiatrischen Klinik. Die Leute vom Bannwaldsee haben ihr eine Woche vor dem 60. Gründungsjubiläum der Gruppe eine kleine Erinnerungsfeier im Festzelt ausgerichtet. Der 2.Bürgermeister, ein massiger Mann mit beiden Beinen sehr fest auf dem Boden, erinnert sich an sie, die oft auf dem Motorrad durch den Ort fuhr, als er noch ein Bub war. Danach spielt ein Quartett, dann werden einige ihrer Gedichte gelesen, kantige, spröde Verse, die sich aneinander reiben wie an Sandpapier. Dazu trommelt Regen aufs Zeltdach, auf die Caravans ringsum und auf das kleine Haus am See mit seinem großen Dach.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 6. September 2007

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„Pure Anarchie“

 Woody Allens erstes Buch seit über einem Vierteljahrhundert
Komisch zu sein, kann schnell zu einer sehr ernsten Sache werden. Jedenfalls wenn man Komik professionell betreibt. Woody Allen hat das mehr als einmal erfahren. Mit seinen frühen Filmen, einigen geradlinig aufs Lachen zielenden Genre-Parodien, hatte er sich in wenigen Jahren einen weltweiten Ruf als grandioser Spaßmacher erworben. Als er dann in „Annie Hall“ und „Manhattan“ seiner Komik eine intellektuelle Note gab, schieden sich zum ersten Mal die Geister. Die einen priesen den originellen Autorenfilmer Allen, andere trauerten dem Clown Allen nach und betrachteten die Nachdenklichkeit der neuen Filme schlicht als Symptom nachlassender komischer Kraft. Allen muss das ziemlich auf die Nerven gegangen sein. In seinem Film „Stardust Memories“ kriegt sein alter ego, der Regisseur Sandy, ständig zu hören, seine Filme seien nicht mehr so witzig wie früher. Als dann plötzlich Außerirdische vor ihm stehen, fragt er sie kummervoll nach dem Grund für all das Leid im Leben. Natürlich haben auch die keine Ahnung, aber sie wollen ihn trösten und sagen: „Wir mögen deine Filme. Vor allem die frühen, lustigen.“ Dabei sollte man es Komikern nicht zum Vorwurf machen, wenn sie zu neuen Ufern aufbrechen, statt an alten Erfolgsrezepten fortzustricken. Gerade komische Künstler geraten schnell in die Verlegenheit, sich verändern zu müssen, denn Komik verlangt fast naturgemäß nach einem Moment von Überraschung. Über Unvermutetes, Unvermitteltes lacht man leicht, über lang Erwartetes nur selten. Zum andern steckt in der anarchischen, sinnfreien, gnadenlosen Komik, wie sie Allens frühe Filme prägt, ein Element von Aggressivität, das nicht zu unterschätzen ist. Henri Bergson, einer der wenigen Philosophen, die eingehender über das Lachen nachgedacht haben, sah in der Komik den „Ansatz zu einem Attentat auf das soziale Leben“. Natürlich gibt es aus Sicht der Kunst eine Menge Gründe für solche Attentate und natürlich muss man jeden Künstler bewundern, der fortgesetzt die Kraft dazu aufbringt, sie zu verüben. Doch falls er sich irgendwann zu einer nachdenklichen, weniger aggressiven Form von Komik entscheidet, sollte man das nicht unbedingt als Versagen betrachten, sondern auch als ein Indiz zunehmender Reife. Wenn Woody Allen sein neues Buch, das erste seit 1980, jetzt „Pure Anarchie“ getauft hat, dann steckt also in dem Titel fast schon eine Ankündigung, fast schon ein Versprechen. Geht es zurück zu den Anfängen? Zurück zu den Wurzeln einer ungeniert direkten, von intellektuellen oder melancholischen Anwandlungen weitgehend freien Komik? Ja und nein. Tatsächlich passt das neue Buch gut in eine Reihe mit Allens früheren Sammlungen komischer Kurzgeschichten: „Wie du dir, so ich mir“ (1971), „Ohne Leit kein Freud“ (1975) und „Nebenwirkungen“ (1980). Allerdings waren auch die schon keine anarchischen Pointen-Feuerwerke, sondern wandten sich an ein Publikum, dem intellektuelle Neigungen nicht rundum fremd sind. An Parodien auf allzu hochgestochene Literaturkritiken, feierliche philosophische Dialoge oder gravitätische Vorlesungsverzeichnisse hat man einfach mehr Spaß, wenn man sich gelegentlich mit ernst gemeinten Exempeln dieser Gattungen beschäftigt, als wenn einem deren Originalton weitgehend unvertraut ist. Das ist in dem neuen Band nicht anders. Zwei der Geschichten zum Beispiel machen sich lustig über die jüngste Neigung ambitionierter Feuilletons, ihre Leser in haltlos tosendem Fachjargon über die jeweils neuesten naturwissenschaftlichen Welterklärungsmodelle auf dem Laufenden zu halten. In einer anderen wird das „Diätbuch“ von Friedrich Nietzsche gefunden, in dem die gesamte Philosophiegeschichte unter dem Hinblick auf Ernährungsvorschriften zu ihrem ultimativem Schlusspunkt getrieben wird: „Also aß Zarathustra“. In einem reinen Dialogstück wiederum verhöhnt Allen die überschwappende Sensationslust, mit der Prozesse gegen Prominente öffentlich regelrecht ausgeweidet werden – was er ja schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren hat. Neu in diesem Buch ist dagegen die Eigenheit Allens, manchen seiner Storys kuriose Zeitungsmeldungen voranzustellen – über eine Versteigerung extrem kostspieliger Trüffel zum Beispiel, über Textilien mit fest eingewobener Geruchsnote oder bei eBay zum Verkauf angebotene Gebete – um dann in der nachfolgenden Erzählung einige komische Aspekte solcher neuen Themen durchzuspielen. Manche der angelsächsischen Rezensenten wollten deshalb in seinen Geschichten Satiren sehen auf eine immer gründlicher aus den Fugen geratende, sich in immer aberwitzigere Irrwege verrennende Luxuswelt. Doch letztlich fehlt Allen für so etwas der Ingrimm, fehlt ihm jene Portion aufgebrachter Besserwisserei und Rechthaberei, ohne die Satiriker nur selten auskommen. Nein, der Witz in Allens neuen Geschichten speist sich genauso wie der seiner alten vor allem aus seiner Lust an absurden Kontrasten. Er will nicht mit satirischen Überspitzungen das Weltgewissen aufrütteln, sondern er kombiniert so schwung- wie kunstvoll Themenkreise, die gewöhnlich nichts miteinander zu tun haben, und freut sich dann an den Funken, die dabei fliegen. „Das ewige Nichts ist okay, wenn man entsprechend gekleidet ist“, lautet eine der klassischen Pointen aus den frühen Geschichten. Oder: „Es gibt nicht nur keinen Gott, sondern versuch mal, am Wochenende einen Klempner zu kriegen.“ In dem neuen Buch klingt das dann so: „Die große Frage der Philosophie bleibt: Wenn das Leben sinnlos ist, wie lässt sich die Buchstabensuppe erklären?“ Oder so: „Spinoza ernährte sich spärlich, weil Gott für ihn in allen Dingen wohnte und weil man nicht so ohne Weiteres einen Fleischklops verschlingen kann, wenn man das Gefühl hat, Senf auf den Urgrund alles Seins zu streichen.“ Auch in Sachen Komik hat jeder das Recht auf seinen persönlichen Geschmack, und es hat wenig Sinn, anderen vorschreiben zu wollen, worüber sie lachen sollen und worüber nicht. Ich finde Woody Allens Geschichten nach wie vor sehr lustig und das Verfahren, mit dem er seine Lacher herauskitzelt, klug und effizient. Dennoch: Das neue Buch ist nicht ganz frei von den Problemen, die jeden Komiker einholen, der seinen komischen Verfahren über Jahrzehnten die Treue hält. Für jemanden, der Allens Witz-Strategien gut kennt, kommen die Pointen heute eben nicht mehr so unerwartet und abrupt wie früher – und das verringert ihre Wirkung. Kaum dass in seinen Sätzen irgendein hochtrabender, gewichtiger Begriff wie „Sinn des Lebens“ oder „Gott“ auftaucht, geht man in Habachtstellung und wartet darauf, dass nun etwas betont Banales folgt, wie „Senf“ oder „Buchstabensuppe“, was für den komischen Kontrast sorgt. Das soll natürlich nicht heißen, dass es ein Großmeister wie Allen nötig hätte, jede seiner Pointen nach dem gleichen Muster zusammenzuzimmern. Gerade in dem neuen Buch gibt er, so kommt mir vor, seiner Neigung zum Absurden noch hemmungsloser die Sporen, was zu wunderschönen überdrehten Effekten führt. In einer der Geschichten tritt ein cooler, aber gesundheitsbewusster Kommissar auf. Da er aus Imagegründen nicht aufs Rauchen verzichten kann, „behilft er sich mit Schokozigaretten. Wenn er sie anzündet, schmilzt die Schokolade und tropft ihm auf die Hose, weshalb er mehr Geld für die chemische Reinigung aufwenden muss, als für ein Polizistengehalt gut ist.“ Wenig später verhört er dann zwei Verdächtige, „die ihre Unschuld beteuern und behaupten, ein Bauchredner und seine Puppe zu sein. Gegen zwei Uhr früh knickten sie bei der unbarmherzigen Vernehmung ein, die klugerweise auf Französisch geführt wurde, eine Sprache, die sie beide nicht beherrschten und in der sie folglich nicht lügen konnten.“ Indirekt macht die Lektüre des neuen Buches dennoch verständlich, weshalb der Regisseur Allen von Film zu Film so konsequent die Genres und Stilmittel wechselt. Hier sorgt er sehr bewusst dafür, so unberechenbar und überraschend wie möglich zu bleiben. Im Vergleich dazu ist sein literarisches Repertoire schmal: Er liebt den abgebrühten Tonfall harter Detektivgeschichten, das Vokabular betont intellektueller Texte oder auch den leicht hysterischen Jargon verschrobener Künstlermilieus, denn die verleihen seinen Geschichten eine Fallhöhe, die seinen Gags sehr zuträglich ist. Die Bandbreite der erzählerischen und sprachlichen Ausdrucksmittel eines Autors wie Robert Gernhardt zum Beispiel, der sich in erster Linie als Schriftsteller und nicht wie Allen als Filmer betrachtete, war da ungleich größer. Dennoch sind die Bücher Allens mehr als nur amüsante Fingerübungen eines großen Kinogenies. In ihnen schwingt, wie in seinen Filmen, hinter all ihrer vergnüglichen Aufgeregtheit und ihrem rasend schnellen Witz eine leise, sehr menschliche Melancholie mit. Gerade weil seine Geschichten sich letztlich nicht in purer Anarchie üben, weil sie nicht aggressiv und besinnungslos nur auf den nächsten Lacher aus sind, merkt man ihnen immer wieder für Momente eine tief sitzende Trauer darüber an, dass die Welt so ist, wie sie ist.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 1. September 2007

Woody Allen „Pure Anarchie“. Storys Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch. Verlag Kein & Aber, Zürich 2007 188 Seiten, 17,90 €

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Die sonderbare Karriere der Frau Choi

Birgit Vanderbeke erzählt vom Aufstieg eines Dorfs in Südfrankreich
Aus literarischer Sicht ist gegen die Provinz nichts zu sagen. Ein Schriftsteller kann im kleinsten Dorf die ganze Welt entdecken, kann vor den staunenden Augen seiner Leser im Mikrokosmos des Zusammenlebens von einer handvoll Menschen den Makrokosmos einer ganzen Gesellschaft entfalten. Wenn er es kann. Eine große Liebe zum Detail gehört dazu, die Fähigkeit, den Figuren tief in ihre Seelen zu schauen und vor allem die Bereitschaft, das Personal nicht kurzerhand in Schafe und Böcke, Gute und Schlechte, Sympathische und Unsympathische zu sortieren. Denn zum einen machen solche schnurgraden Frontverläufe eine Geschichte nicht gerade spannend, zum anderen lehrt die Erfahrung, dass Menschen gewöhnlich ambivalente Geschöpfe sind und nur selten durch und durch böse oder durch und durch liebenwert. In ihrer neuen Erzählung berichtet Birgit Vanderbeke von der Geschichte eines winzigen südfranzösischen Fleckens und der „Sonderbaren Karriere der Frau Choi“ in dieser ländlichen Welt vom Beginn der neunziger Jahre bis heute. Sie tut das im typischen Vanderbeke-Sound, einem lakonischen Parlando, das sich durch eine spielerisch vorgetäuschte Naivität und durch regelmäßige Wiederholung einiger feststehender Wendungen um ironische Pointen bemüht. Frau Choi stammt aus Korea, aus Gwangju und lässt sich mit ihrem kleinen Sohn in dem französischen Dorf nieder. Sie stößt als Ausländerin nicht auf Ablehnung, sondern ist mit ihrer unermüdlichen Tatkraft „schnell vom ganzen Ort hoch geachtet“. Tatsächlich gelingt es ihr fast im Alleingang, das aus der Welt gefallene Nest behutsam aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken und für einen sanften, kulturell anspruchsvollen und natürlich ganz und gar nicht zerstörerischen Tourismus zu erschließen. Die Geschichte ist nicht zuletzt deshalb literarisch so reizlos, weil Frau Choi immer alles richtig und nie einen Fehler macht. Mit federleichter Hand gewinnt sie ihre neuen Nachbarn für sich, räumt alle bürokratischen Hindernisse für ihre Pläne aus dem Weg, zieht genau die zahlungskräftigen, aber unaufdringlichen Gäste an, von denen jeder Fremdenverkehrsort nur träumen kann, bietet in ihrem architektonisch hinreißend gestalteten Restaurant nur die schmackhaftesten und zugleich gesündesten Speisen an. Nebenbei erzieht sie noch ihren Sohn zu einer perfekten Mischung aus Selbstbewusstsein und Respekt. Das klingt alles ein wenig zu schön, um wahr zu sein. Doch nicht nur beim Entwurf der Handlung, sondern auch mit ihrer Hauptfigur hat es sich Birgit Vanderbeke erstaunlich leicht gemacht. Denn Frau Choi ist der klassischen Klischee-Asiatin präzise aus dem Gesicht geschnitten, sanft, fleißig, von wunderbarer Weisheit und dabei immer ein wenig undurchschaubar. Das einzige Motiv, mit der Birgit Vanderbeke das Charakterbild ihrer Heldin aufraut, ist nicht eben subtil. Denn Frau Choi, die als geniale Köchin nebenbei manches hartnäckige Leiden ihrer Nachbarn durch Naturkost oder geheimnisvolle Pülverchen heilt, neigt offenbar zum Giftmord. Schon ihr Mann, ein Holländer, ist eines unklaren Todes gestorben. Dann trifft es den Bürgermeister, der mit dem Ort andere Ziele – schlechtere, versteht sich – verfolgte als sie. Schließlich serviert sie einem Gast, der eine ihrer Mitarbeiterinnen belästigt und bedroht, ein Gericht mit verdächtiger Pilzbeilage und prompt haucht auch der sein Leben aus. Über den Ehemann erfährt man wenig, aber die beiden anderen Opfer sind ausgemachte Widerlinge, so dass Frau Choi nicht wirklich als finstere Killerin, sondern eher als Retterin dasteht – und es niemanden in moralische Turbulenzen stürzt dürfte, wenn er liest, dass sogar zwei einschlägig ausgewiesene Wissenschaftler ihren sehr speziellen Zutaten nicht auf die Spur kommen. Birgit Vanderbeke hat mit „Muschelessen“ (1990) auf den Spuren Thomas Bernhards eine eindrucksvolle Familienschreckensgeschichte und mit „Alberta empfängt einen Liebhaber“ (1997) eine kunstvoll schillernde, ganz zarte Liebesgeschichte geschrieben. Sie schien auf gutem Weg, eine der wichtigen Erzählerinnen der deutschen Literatur zu werden. Doch die Bücher, die sie in den letzten Jahren vorgelegt hat, von „Geld oder Leben“ (2003) über „Sweet Sixteen“ (2005) bis jetzt zur „Karriere der Frau Choi“ sind von ernüchternder Dürftigkeit. Hier ist eine talentierte Autorin in eine lang anhaltende Krise geraten. Bleibt zu hoffen, dass sie bald zu ihrer alten literarischen Kraft zurückfindet.

Birgit Vanderbeke Die sonderbare Karriere der Frau Choi S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 124 Seiten, 16,90 €

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Gespräch mit Martin Mosebach über die Pläne zur Umgestaltung der Frankfurter Altstadt, den modernen Städtebau und das rituelle Krönungsmahl den deutschen Kaisers über einem offenen Laden sowie die Sicherheit, dass jeder Zustand, auch der Allererfreulichste, ein Übergangszustand ist

Der Romancier Martin Mosebach, der im Herbst 2007 den Büchnerpreis erhielt, ist in Frankfurt am Main geboren, lebt dort und hat seine Heimatstadt unverkennbar zum Zentrum seiner literarischen Welt gemacht. 2007 entschied der Frankfurter Magistrat, das zwischen Dom und Römer gelegene Technische Rathaus der Stadt abzureißen, um die im und nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörte Altstadt zumindest in Teilen seiner historischen Gestalt wiederanzunähern. Uwe Wittstock sprach mit Mosebach über diese umstrittenen und nicht zuletzt kostspieligen Pläne, Frankfurt in seinem Zentrum ein neues Gesicht zu geben, das seinem früheren ähnelt.

Uwe Wittstock: Das Technische Rathaus Frankfurts soll, vor drei Jahrzehnten erst errichtet, jetzt abgerissen werden, obwohl keine technischen Baumängel bestehen. Ist das in Ihren Augen nötig? Martin Mosebach: Das Areal zwischen Dom und Römer machte vor seiner Zerstörung den Kern der Frankfurter Altstadt aus. Die Altstadt war ein Meer aus schmalen, hoch gebauten, eng aneinander gepressten Häusern mit spitzen Giebeln, aus dem der Dom riesenhaft herausragte. Der Frankfurter Dom ist gemessen an anderen deutschen Domen ein bescheidenes Bauwerk. Aber der Domturm ist ein architektonisches Meisterwerk. Dem Architekt Madern Gerthener ist da Großes gelungen. Das zweite bedeutende Gebäudeensemble ist der Römer. Diese beiden architektonisch wichtigen Orte müssen zur Geltung gebracht, müssen eingerahmt werden. Dazu war das Häuser-Gewimmel bestens geeignet. Wittstock: Eine solche adäquate Einrahmung ist nach dem Krieg nicht wieder gelungen? Mosebach: Der moderne Städtebau hat dafür bis heute keine angemessene Lösung gefunden. Das moderne Bauen denkt nicht in dem engen mittelalterlichen Kataster – und kann in ihm nicht denken. Deshalb ließ man dieses Gebiet auch nach dem Krieg lange brach liegen. Dann entschloss man sich, dort das völlig überproportionierte Rathaus hinzusetzen, das den Dom seiner Wirkung beraubt. Ganz egal wie man die Qualität dieses Gebäude beurteilt: Es ist ein gewaltiger Elefantenkörper neben dem Dom. Das neu entstandene Areal ist nie von der städtischen Bevölkerung angenommen worden, es ist eine tote Welt geblieben. Das war keine Lösung, die auf Dauer Bestand haben konnte. Deshalb ist es sehr gut, wenn dieses Gebäude jetzt wegkommt.
Wittstock: Was soll dort stattdessen entstehen? Halten Sie es für richtig, wenn das Areal historisierend rekonstruiert wird?
Mosebach: Frankfurt ist eine Stadt der halben Sachen oder der Kompromisse. Das gehört seit je zu ihr. Hier wurde nie eine ästhetische Linie radikal durchgefochten, es wird vielmehr so lange diskutiert, bis alle Meinungen berücksichtig sind und der groß gemeinte ästhetische Wurf sehr klein gerät. Man überlegt gegenwärtig, einige Häuser der Altstadt, deren Pläne man noch hat, zu rekonstruieren und um sie herum Häuser nach dem alten Kataster zu bauen. Die sollen der Silhouette der Altstadthäuser nachempfunden sein, aber den Gesetzen moderner Architektur gehorchen. Ich halte das für sehr problematisch. Ich fürchte, man wird so zu etwas kommen, dass schnell veraltet und dann sehr unansehnlich ist. Wittstock: Ist denn die Rekonstruktion von Gebäuden, die vor sechzig Jahren zerstört wurden, nicht ebenfalls ästhetisch problematisch? Mosebach: Es geht hier doch nicht um solche großen, erhabenen Architekturfragen wie: Darf man Vergangenes rekonstruieren, oder löscht man damit die Erinnerung an die historischen Ereignisse aus, die zur Zerstörung führten. Hier geht es einfache Bürgerhäuser, nicht um architektonische Meisterwerke wie die Frauenkirche in Dresden. Diese Altstadthäuser sind Bestandteil des Rahmens von Dom und Römer. Wenn man einen alten Sessel hat, dem eine Lehne abgebrochen ist, kommt niemand auf die Idee, statt der Lehne vom Polsterer ein Erinnerungszeichen der Zerstörung an dieses Möbel anfügen zu lassen. Nein, man sorgt dafür, dass der Sessel repariert wird, damit er als Ganzes wirkt und seine Funktion erfüllt. Wittstock: Zwischen Dom und Römerberg verlief der sogenannte „Krönungsweg“ der Deutschen Kaiser. Sie zogen auf ihm während ihrer Krönungszeremonie zum Römer. Heute ist dort auf der einen Seite das Rathaus, auf der anderen liegen antike Fundamente zur Besichtigung frei. Wie kann man mit denen umgehen, wenn man der Altstadt wieder Züge ihrer alten Gestalt geben will? Mosebach: Diese Fundamente, das haben andere schon sehr schön formuliert, sind nicht das Forum Romanum. Es sind ein paar Mäuerchen und es ist sehr interessant, dass sie dort sind. Aber sie werden auch gut in einem Keller aufbewahrt sein. Man soll sie um Gottes Willen nicht zubetonieren, sondern bei angemessenem Zugang überbauen. Wenn wir durch eine Rekonstruktion des Altstadtcharakters wieder eine Ahnung bekommen von der Gestalt des „Krönungsweges“, wird das historisch äußerst reizvoll sein. Dies ist ein wesentlicher Ort deutscher Geschichte und der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches. Die allergrößte Zeremonie des Reiches zog nicht über irgendeine Camps Elysee, irgendeine Prachtstraße, sondern über ein enges Sträßlein. Das ist in meinen Augen ein ergreifendes Zeugnis für den Charakter dieses Reiches. Es herrschte ein ganz anderes Verhältnis zur Repräsentation des Reiches, das zersplittert war, das kein Zentralstaat war, und in dem man mit den Gegebenheiten der Bürgerstadt Frankfurt vorlieb nehmen musste. Dort hatte man bei einigen Häusern, die nebeneinander standen, die Zwischenwände herausgebrochen und nannte das so entstandene, gründlich verbaute Gebäude Römer. Unten war eine große Lagerhalle. Wenn der Kaiser sein rituelles Kaisermahl zu sich nahm, fand das quasi über einen offenen Laden statt. Alles war nur eine Improvisation. Wittstock: Haben Sie keine Angst, dass durch eine Rekonstruktion der Altstadt entlang des Krönungsweges eine Art Disney-Frankfurt entsteht? Mosebach: Mit dem Wort Disney geht man sehr großzügig um. Wer schon einmal in einem Disney-Park gewesen ist, weiß, dass es dort anders aussieht, als wenn historische Gebäude von anspruchsvollen Restauratoren wiedererrichtet werden. Den Disney-Vorwurf könnte man in Frankfurt auch gegen das Goethe-Haus erheben, das bis auf die Grundmauern abgebrannt war und – glücklicherweise – wieder aufgebaut wurde. Die Vergleichsgröße sollte nicht ein Disney-Park sein, sondern Warschau. Die Altstadt dort hat mir einen großen Eindruck gemacht. Natürlich, dem Warschauer Königsschloss sieht man an, dass es eine Rekonstruktion ist. Aber die großen Plätze mit ihren Bürgerhäusern sind gelungen.
Wittstock: Wird durch solche Rekonstruktionen nicht Geschichte – genauer: das düsterste Kapitel deutscher Geschichte – architektonisch beschönigt und überpinselt?
Mosebach: Es kommt doch nur darauf an, den Domturm, das beste Stück Frankfurter Architektur, der wie eine Glucke über der Altstadt saß, zur Geltung zu bringen. Um mehr geht es hier nicht. Den Krieg vergessen machen, das können wir in Frankfurt sowieso nicht. Die die Konstabler Wache, die Berliner Straße, die Kurt-Schumacher-Straße, all diese Unorte werden uns an den Krieg erinnern, so lange wir in dieser Stadt leben. Noch in einem Jahrhundert wird man ihr ansehen, dass ihr mal eine Katastrophe geschehen ist. Sieben Altstadthäuschen können einen Krieg nicht weglügen.
Wittstock: Wieso wurde gerade in Frankfurt so konsequent mit der Tradition gebrochen und vieles, was der Krieg verschonte, noch nachträglich zerstört?
Mosebach: Es ist leichter eine Residenzstadt wie München wiederaufzubauen, die am grünen Tisch entstanden ist. Etwas anderes ist es, eine gotische Altstadt wieder herzustellen, wie sie in Frankfurt über Jahrhunderte gewachsen ist. Bei einem solchen Organismus kann man nie sagen, welches der zu bewahrende Endzustand war, weil sich alles immerfort weiterentwickelte. Das Fachwerk vieler Häuser zum Beispiel, das heute bei den Rekonstruktionsplänen oft auf Befremden stößt, war über Jahrhunderte gar nicht zu sehen. Wenn man alte Kupferstiche oder Fotos betrachtet, sieht man, dass dieses Fachwerk verputzt war oder mit Schieferschindeln bedeckt, weil man Fachwerk als mindere Bauform empfand und den Anschein fester Steinhäuser erreichen wollte. Mein Vorschlag wäre, die Häuser als Fachwerk wieder zu errichten, dann aber zu verputzen, so wie sie um 1930 aussahen. Sie würden dann in viel geringerem Maße als Rekonstruktion wirken, und sie könnten ihrer dienenden Funktion als Rahmen für Dom und Römer besser gerecht werden.
Wittstock: In ihrem jüngsten Roman „Der Mond und das Mädchen“, der in Frankfurt spielt, deuten sie an, die Stadt habe fast jedes spezifische Aroma verloren: „Ausgesogenheit konnte man es nennen“, schreiben Sie, einen „vollständigen Verlust von Hall und Timbre“. Wird die Wiederherstellung der Altstadt daran etwas ändern?
Mosebach: Nein, daran wird man bestimmt nichts ändern können. Diese Art metaphysischer Öde, die ich spüre, wird man mit solchen Maßnahmen nicht in den Griff kriegen. Die Ursache dafür ist nicht eine Hässlichkeit, die man durch architektonische Reparaturen beseitigen könnte. Diese Öde liegt meinem Empfinden nach über der ganzen Stadt. Auch die wenigen Gebäude, die den Krieg überstanden haben, wirken seltsam neu. Die feinen Wurzelgeflechte, die ein Haus, eine Straßen, einen Winkel mit anderen Epochen verbinden, die sind hier gekappt. Das hat sicher viele Gründe. Darunter wohl auch den, dass ein relativ kleiner Stadtorganismus sich zu einer Finanzmetropole wandelte, in der viele Menschen nur sehr vorübergehend leben, bevor sie dann in andere Städte weiterziehen. Das heimatliche Element, das Beharrende, das typisch Frankfurterische ist fast nicht mehr vorhanden.
Wittstock: Aus diesem nomadenhaften Hin und Her vieler Menschen bildet sich aber auch etwas Neues. Das beschreiben Sie ebenfalls in ihrem neuen Roman.
Mosebach: Es bildet sich immer etwas Neues. Man kann mit großer Sicherheit sagen, dass jeder Zustand, auch der Allererfreulichste, ein Übergangszustand ist. Ich will deshalb gar nichts bejammern. Ich will nur feststellen, dass diese Stadt Voraussetzungsloser, Geschichtsloser ist als viele andere. Umso wichtiger wäre es, historische architektonische Haltepunkte wiederherzustellen.

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