Ein Raubtier namens Leben

Das Marbacher Literaturmuseum der Moderne zeigt erstmals Robert Gernhardts wunderbare „Brunnen-Hefte“
Noch liegt sie entspannt da, die Katze, sie hat es sich gemütlich gemacht. Aber gleich, das sieht und weiß man, gleich wird sie mächtig ungemütlich werden. Der Vogel, der das Pech hat, knapp vor ihrem Maul zu hocken, kann nur noch seinen Schnabel ins Tintenfass tauchen. Auf dem nächsten Bild von Robert Gernhardts kleinem Comic-Strip ist der Vogel schon halb im Raubtierrachen der Katze verschwunden und schreibt, während er gefressen wird, mit seinem Tintenschnabel noch ein zittriges „Es war“ in die Landschaft. Auf dem dritten, letzten Bild des Strips ist der Vogel nicht mehr zu sehen, dafür kaut die Katze mit vollen Backen, und man kann nun die letzte Vogelnachricht vollständig lesen: „Es war die Katze.“ Ob und wo Gernhardt diese kurze Bildergeschichte veröffentlich hat, wissen nur die Götter und die Gernhardtforscher. Geboren aber wurde sie in einem seiner Notizhefte, die jetzt im Marbacher Literaturmuseum der Moderne zum ersten mal überhaupt ausgestellt werden. Eine Weltpremiere. „Hat die Literatur Folgen?“ notierte Gernhardt zu dem kleinen Strip, und man darf der Titel als zaunpfahlmäßigen Wink verstehen, dieses fabelhafte Dreibilder-Drama gefälligst als eine moderne Fabel zu lesen. Denn letztlich kann man die Werke aller Künstler mit einigem Recht auch als die zurückgelassenen Nachrichten über das betrachten, was ihnen das Leben antat, während das Leben sie nach Raubtierart verschlang. Gernhardt schrieb schon sehr früh, schon als Schüler und Student seine ersten komischen Gedichte und arbeitete an seinen ersten ernsten Gemälden. Doch ab 1978 trug er dann jederzeit Schulhefte DIN A5 bei sich, vorzugsweise solche der Firma Brunnen („Ein Lob den Brunnen-Heften: Prima Papier, prima Falz.“), in die er Einfälle, Reflektionen, Beobachtungen notierte und Bildideen, Impressionen oder Cartoon-Entwürfe skizzierte. Vielleicht ist es mehr als ein Zufall, dass dieser Beginn systematischer künstlerischer Materialsammlung zeitlich in etwa zusammenfiel mit dem Beginn der Metamorphose Gernhardts von dem in erster Linie komischen Autor zu einem literarischen Meister und lyrischen Alleskönner, als den man ihn heute getrost feiern und preisen darf. Die Krise, in die ihn diese Verwandlung stürzte, und die diese Verwandlung zugleich vorantrieb, hat er zum Thema seines einzigen Romans „Ich Ich Ich“ (1983) gemacht. Es war eine doppelte Krise, denn je mehr das Schreiben in den Vordergrund seiner Arbeit trat, desto weiter trat die Malerei, die Gernhardt lange als das Zentrum seines künstlerischen Ehrgeizes betrachtet hatte, zurück. Und in diesem Roman lässt er auch anklingen, welche Bedeutung seine unermüdliche Produktivität für ihn hatte. „Rasch“, so ersehnt sich der Held des Romans, Gernhardts alter ego, „rasch wird sich das Atelier mit den sinnlichsten Werken füllen. ‚Du, Du, Du’, werden sie dem Maler von Tischen, Wänden und Staffelei zurufen, wenn er des Morgens in ihre Mitte tritt. ‚Ich, ich, ich“, wird es ihn durchströmen, das alles bin ich. Ich mache, also bin ich.“ Entschiedener kann man es nicht sagen. Der Künstler ist, was er macht, und er ist nur dann, wenn er etwas macht. Lange Zeit wollte der Literaturbetrieb in Gernhardt nur einen amüsanten Entertainer sehen, und kümmerte sich wenig um Sätze wie diese. Doch sie lassen ahnen, mit welcher Entschlossenheit hier jemand ans Werk ging, an sein Werk, und welche Bedeutung die Brunnen-Hefte für ihn hatten. Vom Beginn der achtziger Jahre an veröffentlichte er nicht nur unermüdlich Buch um Buch, kaum eine Saison blieb ohne Neuerscheinung aus dem Hause Gernhardt. Aber neben der konzentrierten Arbeit an diesen Großvorhaben nutzte er jeden Augenblick der ungenutzt zu verstreichen drohte, im Restaurant etwa, bei Bahnfahrten, in Wartezimmern von Ärzten oder Krankenhäusern, zu Notizen oder Zeichnungen in die Brunnen-Hefte. So war er ein buchstäblich unentwegt Produzierender, eine „homo producens“, wie er kurz vor seinem Tod 2006 schrieb, der 675 solcher Hefte gefüllt hatte und an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach übergab. Die Hefte wurden für ihn, wie Kristine Maidt-Zinke in dem begleitenden Marbacher Magazin schreibt, „Vorratskammer, Echoraum und Spiegelkabinett“. In ihnen finden sich die ersten Entwürfe und Vorstufen zu etlichen Gedichten, darunter auch zu einem von Gernhardts berühmtesten Sonetten, das mit der Zeile beginnt: „Sonette find ich sowas von beschissen“. Andererseits hat er diese Aufzeichnungen offenbar nicht systematisch ausgewertet und ausgeschlachtet. 1988, als bereits rund 180 Hefte vorlagen, zählte er sie zum ersten Mal, vermerkte dann aber, er habe nicht „noch einmal hineingeschaut“. Er betrachtete sie vielmehr als ein eigenständiges Werk mit eigenständigen Qualitäten, „da sie reine Bewegung sind und kein Ankommen“ kennen. Vermutlich hatten die „Brunnen-Hefte“ für Gernhardt eine ähnliche Funktion wie die „Cahiers“ für Paul Valéry. Sie bildeten eine Art Puffer, der Distanz schaffte zur Wirklichkeit. Sie gaben ihm überall und jederzeit die Gelegenheit, sich schreibend und zeichnend übers krude Dasein zu erheben, es gleichsam aus der Vogelperspektive zu betrachten, wohl wissend, dass die Katze namens Leben dicht hinter ihm lauert, den Raubtierrachen schon aufgesperrt, und dass sie allen Fluchtversuchen irgendwann unweigerlich ein Ende machen wird. Robert Gernhardt war, dass zeigen diese Hefte, mehr als der helle, schnelle, unterhaltsame Volksdichter. Er war nicht nur der Sprachartist und Pointenvirtuose, der tiefere Spuren im Gedächtnis der Leser hinterlassen hat als fast alle anderen deutschen Lyriker der Gegenwart. Er zählt zu jenen großen Künstlern, die lebenslang die Kunst selbst zu ihrem Thema gemacht haben, jenes ewige Verwirrspiel um Sein und Schein, um die Dauerhaftigkeit des Gemachten und die Flüchtigkeit des Gelebten. Und er kehrte von diesem gewöhnlich so steinigen Acker mit einer einzigartig reichen, lebendigen, sinnlichen Ernte zu den Lesern zurück.

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