Kinder ändern ihre Eltern

Dirk von Petersdorff erzählt vom „Lebensanfang“ in einer Welt ohne letzte Gewissheiten

Wir sind zur Ironie verurteilt. Ob wir sie nun feiern oder fürchten, verhöhnen oder verherrlichen, wir werden sie nicht los. Denn wir besitzen keine letzten Gewissheiten mehr, die für alle verpflichtend wären, weder im religiöser noch im weltanschaulicher Hinsicht. Wer die Augen nicht verschließt vor der Gegenwart, weiß, dass grundverschiedene Glaubenswahrheiten und politische Überzeugungen gute Gründe für sich ins Feld führen können, und dass sie miteinander im Wettstreit liegen, ohne je einen alleinseligmachenden Sieger zu ermitteln. Also muss, wer einen Standpunkt bezieht, sich eingestehen, dass es auch andere Standpunkte gibt, die mit gleichem Recht bezogen werden können, und dass er seinen eigenen deshalb mit Distanz, mit Ironie zu betrachten hat. Das verleiht dem Denken eine eigentümliche Freiheit und Unverbindlichkeit. Alles wirkt wie gut wattiert und deshalb recht konturenarm. Doch was wird aus all dem, was wird aus Ironie, Freiheit und Unverbindlichkeit, wenn eines der natürlichsten Ereignisse des Lebens eintritt – und man Kinder bekommt? Eltern und Kinder haben definitiv kein unverbindliches Verhältnis zueinander, für Ironie ist da allenfalls an der Oberfläche Platz. Ansonsten entfaltet sich eine lebensformende Bestimmtheit. Und von der Freiheit bleibt nur die Freiheit, die neue Bindung samt zugehörigen Pflichten anzunehmen oder auszuschlagen. Aber sicher ist: Wie immer man sich entscheidet, beides wird nicht spurlos an einem vorübergehen, gut wattiert und konturenarm ist da nichts mehr. Das Buch „Lebensanfang“ des Lyrikers und Essayisten Dirk von Petersdorff ist ein scheinbar einfaches, genauer betrachtet jedoch literarisch sehr ambitioniertes Unternehmen. Er erzählt von den ersten zwei, drei Jahren mit seinen Kindern Max und Luise, Zwillingen, die sein Leben so gründlich auf den Kopf stellten, wie Kinder das nun einmal tun. Das Thema hat sich in den letzten Jahrzehnten, spätestens seit Peter Handkes ernster „Kindergeschichte“ und Axel Hackes komischem „Erziehungsberater“, zu einem neuen Genre ausgewachsen: Immer mehr Väter oder Mütter berichten in meist heiteren Büchern davon, wie die Welt für sie durch Kinder plötzlich eine andere wurde – doch auch in diesen Fällen gilt der Verdacht, dass Komik und Ernst in enger Nachbarn wohnen und sie oft nur ein winziger Schritt trennt. Petersdorff macht ernst. Der Sohn Max hat die üblichen Blähungen und Schlafstörungen der ersten Monate noch nicht überwunden, da sitzt der Vater schon vom Schlafentzug an den Rand seiner Kraft gebracht bei einer Ärztin und bekommt Beruhigendes verschrieben. Doch das hilft wenig: Als er morgens übermüdet zum Rasieren ins Bad torkelt, „sah ich neben mir im Spiegel ganz deutlich einen Totenschädel. Er war rechts von meinem Gesicht. Er war etwas kleiner als mein Gesicht. Er schwebte. Ich dachte an den Biologieunterricht, als der Lehrer aus dem Nebenzimmer das Skelett herein schob. Legte den Rasierapparat beiseite, ging zum Frühstückstisch und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.“ Lustig? Sicher. Es ist immer komisch, aber auch sehr ernst, wenn jemand an seine Grenzen gebracht wird. Doch es geht um mehr als die körperlichen Erschöpfungszustände junger Eltern. Der Vater reagiert nicht zuletzt deshalb so heftig, weil er spürt, dass er zugleich an die intellektuellen Grenzen seines gewohnt ironischen Weltverhältnisses stößt. Wobei der Begriff intellektuell die Sache nicht wirklich trifft, auch spirituell oder metaphysisch wären nicht die richtigen Worte. Vielmehr erlebt sich der Vater, der durch seine Kinder lang verschüttete Erinnerungen an die eigene Kindheit wiederentdeckt, immer unabweisbarer als Teil einer tief hinabreichenden Generationenfolge, als Teil von etwas Überindividuellem, Unbegrenztem, das eine ganz unironische Wahrheit besitzt. „Immer wurde so gehalten“, denkt er, als sich seine Kinder auf seinem Schoß zusammenrollen, „es gibt ein Leben, das auf dem Schoß einschläft, leise pustet, gelegentlich schnauft. Es gibt ein Leben, das Wache hält, den Schlaf beäugt, selber ziemlich müde ist. „Lebensanfang“ ist bei all dem kein sentimentales oder frommes Buch. Der Lyriker Petersdorff ist vor allem ein Sprachjongleur, Jens Jessen nannte ihn einmal den „Schelm unter den Postmodernen“. Wie sich das für einen Autor gehört, der die literarische Moderne für erschöpft hält, entzieht er sich deren Forderung nach sprachlicher Reinheit und Geschlossenheit. Er tänzelt durch die Sprachebenen und Schreibformen, kombiniert biblische oder vorsokratische Tonfälle mit dem Slang der Gegenwart, poetische Passagen mit nüchternen Berichten, intime Empfindungen mit essayistischen Überlegungen. Ob es heute schwieriger ist als früher, mit Kindern zu leben? Zumindest hat jeder, der bereit ist, sich über sie und das Leben mit ihnen Gedanken zu machen, heute wohl mehr Anlass und auch mehr Zeit, dieser Bereitschaft nachzugeben. „Wenn ich früher“, schreibt Petersdorff, „den Pluralismus der Lebensstile gefeiert hatte, dachte ich jetzt über eine Werteerziehung von Max und Luise nach.“ Womit er weder das eine noch das andere für falsch erklärt, sondern beides parallel zu akzeptieren lernt. Mit Kindern wird, lautet eine alte Weisheit, alles intensiver, sowohl Glück als auch Unglück. Warum sollte also in einer absurden Welt ohne letzte Gewissheiten mit ihnen nicht auch das Gefühl für das Absurde und den Verlust letzter Gewissheiten intensiver werden?

Die Rezension erschien in der „Welt“ com 8. Dezember 2007

Dirk von Petersdorff: „Lebensanfang“. Eine wahre Geschichte C.H. Beck Verlag, München 2007 170 S., 17,90 €

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