Das Haus am Ende der Insel

„Blut im Wasser – Alexander Schimmelbusch erzählt von der Sinnsuche reicher Erben

Goethes Werther hat nicht nur in Liebes-, sondern auch in ökonomischen Fragen eine empfindsame Seele. Die Welt läuft, schreibt er, letztlich „auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer Willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst etwas abarbeitet, ist immer ein Tor.“ In diesem Sinne sind die Figuren Alexander Schimmelbuschs späte Nachfahren Werthers. Wie ihr Urahn sehen sie keine Leistung, sondern eine Schande darin, das Leben beim ewigen Affenrennen nach Geld oder Ehre zu vertun. In seinem ersten Roman „Im Sinkflug“ bedachte Schimmelbuschs Held die damals noch als Idole des Erfolgs verehrten Investmentbanker mit hinreißenden Hasstiraden. Denn er sah in ihnen den Inbegriff blinder, komplett sinnfreier Vorteilsgier. Bei seinem Erscheinen 2005 fand das Buch wenig Beachtung. Heute, vier Jahre und eine Bankenkrise später, könnte es wohl mit spürbar höheren Sympathiewerten rechnen. Auch die beiden Hauptfiguren aus Schimmelbuschs neuem Roman „Blut im Wasser“, mit dem er auf der Buchmesse 2009 den ersten Preis der Hotlist, den Buchpreis der unabhängigen Verlage, gewann, haben mit traditioneller Lohnarbeit nichts im Sinn. Allerdings fällt ihnen der Verzicht darauf ebenso leicht wie dem Helden des Erstlingsromans. Denn sie alle sind Erben steinreicher Familien und verfügen, selbst wenn sie lebenslang nicht einen Finger krumm machen, über sämtliche Segnungen des Luxus‘ und des Wohllebens. Doch andererseits: Da sie allen Sorgen um die tägliche Existenzsicherung enthoben sind, stellt sich für sie die Aufgabe, ihrem Dasein eine Bestimmung zu geben, die auf Selbstverwirklichung und nicht auf eine der von Werther schon verachteten Lumpereien hinausläuft, besonders deutlich und ungeschminkt. Natürlich wäre es leicht, sie als verwöhnte Snobs abzutun, denen sie oft genug zum Verwechseln ähnlich sehen. Doch damit machte man es sich zu einfach und verfehlte das Thema, von dem Schimmelbusch erzählen will. Wie gestaltet man sein Leben sinnvoll, wenn man nahezu alle materiellen Möglichkeiten hat? Wenn es ausschließlich darum gehen muss, den eigenen Leidenschaften zu folgen? Für Alex und Pia, die beiden Hauptfiguren des neuen Romans, scheint sich diese Frage schnell entschieden zu haben. Kaum sind sie sich begegnet, kommen sie mit allen Anzeichen bemerkenswerter Frühreife zu der Überzeugung, einander in tiefer Liebe verfallen zu sein. „Von Anfang an“, erinnert sich Pia, „wollte Alex mit mir schlafen, bedrängte mich regelrecht, charmant zwar, aber bestimmt. ‚Wir sind doch erst zehn‘, gab ich zu bedenken und Alex sagte: ,Wir haben keine Zeit zu verlieren.'“ Der Beifall Werthers wäre ihnen sicher: Eine intensiv gelebte Liebe als Daseinssinn und Selbstverwirklichung. Als die Romanhandlung einsetzt, sind die beiden längst erwachsen, leben in Amerika und haben sich schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Pia hat ihre Eltern und ihre Schwester verloren und erfährt nun von ihrem Arzt, dass sie todkrank ist und ihr wenig Zeit bleibt. Alex lässt es sich gut gehen. Er hat es sich als gebildeter, etwas hochnäsiger Playboy bequem gemacht – auch wenn er sich bei seinen sexuellen Eroberungen inzwischen gehörig langweilt. Es ist Winter, New York versinkt im Schnee, und sowohl Pia wie auch Alex entschließen sich unabhängig voneinander, aus entgegengesetzten Richtungen zu Alex‘ Landhaus bei Montauk an der Nordostspitze Long Islands aufzubrechen. Im raschen Wechsel zwischen Pias und Alex‘ Perspektive erlebt der Leser mit, wie sich die beiden einander annähern. Und vor allem durch Pias Erinnerungen klärt sich, weshalb es vor Jahren zu dem Zerwürfnis zwischen ihnen kam, das sie beide aus der Bahn warf. Das Ganze wird durchaus spannend erzählt. Doch ist es zugleich ein wenig sentimental und melodramatisch: die verunglückte Liebe der beiden, die ausweglos tödliche Erkrankung Pias und die unabgesprochenen Entscheidungen, nach Montauk zu reisen, durch die ausgerechnet zu Weihnachten ein Wiedersehen der ehemaligen Geliebten möglich werden könnte. Im Vergleich dazu war der Erstling Schimmelbuschs kaltschnäuziger und vor allem ironischer – was dem Thema gut tut, denn natürlich ist eine derart komfortabel abgefederte Lebenssinnsuche ebenso tragisch wie komisch zugleich.

Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 24. Oktober 2009

Alexander Schimmelbusch: Blut um Wasser. Roman
Verlag Blumenbar, München 2009 127 Seiten, 17,90 Euro. ISBN 978-3-936738-58-2

Dieser Beitrag wurde unter Alexander Schimmelbusch veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.