Franz Fühmann zeigt, welche Folgen die Gewöhnung an den alltäglichen Antisemitismus hat
Gelb, ganz gelb ist das Judenauto. Vier schwarze Gestalten sitzen darin. Sie rollen abends über einsame, entlegene Straßen und schwingen blutige Messer. Selbst vom Trittbrett des Wagens tropft Blut. Denn die vier Juden mit ihren langen Messern fangen Mädchen von der Straße weg und schlachten sie, um das Blut aufzufangen und daraus Brot zu backen, das sie dann bei finsteren Feiern zu Mitternacht essen. Ein neunjähriger Junge hört dieses antisemitische Greuelmärchen, das in leicht modernisierter Form die immer gleichen Motive jahrhundertealter judenfeindlicher Hetze variiert. Die Schauergeschichte wird ihm von seinen Mitschülern in einem kleinen böhmischen Städtchen Anfang der Dreißigerjahre erzählt. Die Kinder sind aufgewühlt, sind entsetzt, aber zugleich schwelgen sie in den blutrünstigen Details, die ein Hauch von Abenteuer in ihr Provinzleben bringen. Und sie glauben jedes Wort. Denn sie kennen sich aus mit den Juden. Zwar sind die meisten noch nie im Leben einem Juden begegnet. Aber von den Erwachsenen haben sie viel über die Juden gehört, und immer wieder das gleiche: Nämlich dass die Juden schuld sind an allem Schlechten in der Welt. Franz Fühmann (1922 – 1984) gehört nicht zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern seiner Generation, aber vielleicht zu den bedeutendsten. Die Geschichte von dem kleinen böhmischen Jungen und seiner Angst vor dem Judenauto zählt zu seinen besten. Sie ist ein Selbstporträt des Autors als Kind. Hier forscht er nach seinen frühesten Erinnerungen und Erfahrungen, die später dazu beitrugen, ihn zu einem willigen Gefolgsmann der Nationalsozialisten werden zu lassen. Ein Thema, dem Fühmann den ganzen Band „Das Judenauto“ widmet: Er schildert eine Reihe von Stationen aus seiner Kindheit und Jugend während Deutschlands dunklen Dreißigerjahren, aus seiner Zeit als Soldat in Hitlers Wehrmacht und als Kriegsgefangener in Stalins Lagern. Und er zeigt, welche katastrophalen Folgen die Gewöhnung an einen allgegenwärtigen, alltäglichen Antisemitismus für ihn letztlich hatte. In Fühmanns Lebensweg spiegelt sich viel von der verheerenden Geschichte der Deutschen während des vergangenen Jahrhunderts. Geboren wurde er nur vier Jahre nach dem Ende des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn in Rochlitz, einer Kleinstadt auf der tschechoslowakischen Seite des Riesengebirges. Seine Familie fühlte sich der deutschen Kultur verbunden und wurde – wie er im „Judenauto“ beschreibt – anfällig für die nationalistische Propaganda der Epoche. Sie betrachtete sich als Opfer politischer Bevormundung und einer feindlichen tschechischen Fremdherrschaft. Als mit dem Münchner Abkommen von 1938 das Sudetengebiet dem Deutschen Reich zugeschlagen wurde, führte Fühmanns Weg folgerichtig in die SA und später in die Wehrmacht als füg- und folgsamer Anhänger Hitlers. Seine frühe politische Verführbarkeit und die Suche nach ihren Ursachen wurden zum literarischen Lebensthema des Schriftstellers Franz Fühmann. Denn seine Anfälligkeit für totalitäre Ideen war mit dem Ende des Krieges nicht überwunden. Wie er in „Das Judenauto“ erzählt und später in seinem autobiografischen Essay „Vor Feuerschlünden“ (1982) aus größerer kritischer Distanz analysierte, wandelte er sich in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zunächst von einem glühenden Anhänger Hitlers zu einem begeisterten Parteigänger Stalins. Obwohl er durch die Kultur des ehemaligen Österreich-Ungarns und die Landschaft des Riesengebirges geprägt war, wählte er aus der Lagerhaft kommend die DDR als das Land seiner Entlassung. Lange versuchte er in der dort herrschenden sehr preußischen Spielart des realen Sozialismus und in den endlosen Waldebenen der Mark Brandenburg eine neue Heimat für sich zu finden. Obwohl Siegmund Freuds Werke in der DDR jahrzehntelang mit großem politischen Misstrauen beäugt wurden und seine Behandlungsmethoden bis zum Fall der Mauer 1989 verpönt blieben, beschäftigte sich Fühmann schon seit den frühen Sechzigerjahren mit der Psychoanalyse. Als Böhme, der noch dazu einige Jahre lang im Jesuiteninternat in Kalksburg bei Wien zur Schule gegangen war, spürte er eine geradezu instinktive Verbundenheit zum Denken Freuds. Daneben wurden seine Zweifel an der DDR immer quälender. Doch als ehemaliger Nationalsozialist hielt er sich lange Zeit nicht für berechtigt, am neuen sozialistischen Staat Kritik zu üben. Diese Zerrissenheit reichte tief: Fühmann betäubte sie lange mit Alkohol, was ihn um ein Haar das Leben kostete. Doch auch hier wurde wiederum die Politik zu einem Wendepunkt seiner Biografie. Als die Truppen des Warschauer Pakts 1968 dem Prager Frühling ein Ende machten, konnte Fühmann seine Sucht überwinden – denn nun, als wieder einmal deutsche Panzer durch die Tschechoslowakei rollten, gestand er sich endlich ein, dass er in den Machthabern der DDR letztlich Diktatoren sah, denen er außer Kritik nichts schuldig war. Man kann das Werk Fühmanns, beginnend mit dem „Judenauto“ als große literarische Selbstanalyse auf den Spuren Freuds lesen. Durch sie machte er sich nicht nur das eigene, vom Totalitarismus verführte Denken bewusst, sondern wurde auch fähig, die Mechanismen einer Erziehung zum Faschismus jenseits alle Theorien mit eindrucksvoller poetischer Kraft zu beschreiben. Ein willfähriger Untertan entwickelte sich zu einem Schriftsteller, der unterschiedlichste Lebensentwürfe und Weltanschauungen nebeneinander als gleichberechtigte Perspektiven auf die Wahrheit gelten lassen konnte. Schon 1980, als die DDR noch neun Jahre zu leben hatte, Fühmann aber nur noch vier, schrieb er: „Unsre Gesellschaft ist pluralistisch, Gottseidank ist sie es, bloß offiziell will man das eben nicht wahrhaben. Die verschiedenen Moralen sind nicht auf 1 Nenner zu bringen, na Gottseidank, und so etwas wie die ‚moralischen Anschauungen unserer Werktätigen‘ gibt es nicht, oder es sind immer die Repräsentanzen des Muffigen, Spießigen, Kleinkarierten.“ Ein deutlicheres Bekenntnis zur offenen Gesellschaft hat es in der Literatur der DDR nicht gegeben. Die Suche nach einer neuen Heimat war, gestand sich Fühmann gegen Ende seines Lebens ein, sowohl in politischer wie persönlicher Hinsicht gescheitert. Er fühlte sich, schrieb er in einem erst postum veröffentlichten Tagebuch, im realsozialistischen Preußen so fremd wie auf der Rückseite des Mondes.
Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 31. Oktober 2009
Franz Fühmann: „Das Judenauto“ Welt-Edition, 2009 205 Seiten, 9,95 € ISBN 978-3941711235