Die Literaturkritikerin Elke Heidenreich über Musik-Bücher, Marcel Reich-Ranicki und ihren Rückzug aus dem Internet
Die Kritikerin und Moderatorin Elke Heidenreich (65) führte von April 2003 bis Oktober 2008 durch die ZDF-Sendung „Lesen!“ Nach der Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises durch den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki attackierte sie ebenfalls das öffentlich-rechtliche Fernsehen und bot ihre Kündigung an. Seit November 2008 produziert sie „Lesen!“ beim Internet-Literaturportal litCOLONY. Heidenreich, die sich auch als Autorin und Opernlibrettistin einen Namen gemacht hat, startet im Herbst ihre eigene Edition bei Bertelsmann.
Uwe Wittstock: Sie starten keinen eigenen Verlag, aber eine Buchreihe unter Ihrem Namen: Edition Elke Heidenreich. Darin bringen sie nur Bücher, in denen Musik eine wesentliche Rolle spielt?
Elke Heidenreich: Ja, es wird eine monothematische Reihe: Alle vier Monate vier Bücher, in denen Musik oder Musiker im Zentrum stehen. Es ist so ähnlich wie bei dem Verlag Mare, der lauter Bücher über Meer oder Seefahrt bringt. Eine Konzept-Buchreihe: Hier soll jeder, der sich für Lesen und Musik interessiert, blind zugreifen können und sich gut bedient fühlen.
Wittstock: Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Heidenreich: Ich habe immer mit Büchern zu tun gehabt. Das ist mein Beruf geworden. Meine große Liebe war daneben die Musik – wie dilettantisch auch immer. Zwischen beidem gibt es viele Berührungspunkte: Jeder Oper liegt eine Geschichte, ein Drama oder ein Roman zugrunde: Vom Orpheus-Mythos bis Kameliendame. Oder Gedichte werden zu Liedern vertont. Die Musik erzählt im Grunde auch die gleichen Geschichten wie die Literatur: Sie erzählt von Liebe und Tod. Musik ist wie Literatur Trost angesichts der Vergänglichkeit. Als ich dann vor fünf Jahren den Roman „Der Klang der Zeit“ von Richard Powers las, dachte ich darüber nach, wie viele Bücher mit Musik zu tun haben. Dann kam Steven Galloways „Der Cellist von Sarajevo“, dann kam „Konzert für die linke Hand“, ein Buch über Wittgenstein. Da dachte ich, es wäre schön, solche Bücher in einer Reihe zusammenzustellen. Damals wollte mich Random-House für ein Projekt gewinnen, ich sollte Verlegerin werden. Da aber alles Geschäftliche nicht mein Ding ist, kam das nicht in Frage. Dann habe ich diese Buchreihe vorgeschlagen, und das machen wir jetzt zusammen. Hier bin ich zwar Herausgeberin, aber nicht fürs Geld zuständig. So gefällt’s mir. Wittstock: Feinheiten der Musik und ihre Wirkung sprachlich wiederzugeben ist nicht einfach. Da ist der Kitsch immer sehr nah. Auch für große Autoren ist das eine Herausforderung. In welchen Büchern ist das Ihrer Ansicht nach am besten gelungen? Heidenreich: Bei Helmut Krausser zum Beispiel. In seinem großartigen Roman „Die kleinen Gärten des Maestro Puccini“, in dem er über die Affären Puccinis schreibt. Wunderbar. Oder im Sachbuch-Bereich: Oliver Hilmes mit seinen Büchern über den Wagner-Clan. „Herrin des Hügels“ über Cosima Wagner und jetzt sein Buch über „Cosimas Kinder“. Das sind Bücher, in die falle ich richtig hinein und lebe in ihnen. Großartig. Die Familie Wagner ist mindestens so interessant wie die Familie Mann. In der nächsten Staffel meiner Buchreihe habe ich einen Roman, der heißt „Die Geigenlehrerin“. Geschrieben von einer amerikanischen Rock-Musikerin namens Barbara Hall. Sie beschreibt, wie man als Musikerin scheitern kann und sich dann in einem Musikalienhandel verdingen muss, zusammen mit lauter anderen Freaks, die auch gescheitert sind, die glaubten, sie würden so gut Gitarre spielen wie Jimi Hendrix und nun verkaufen sie Kolofonium und Geigensaiten. Toller Roman über’s Musikermilieu. Wittstock: Marcel Reich-Ranicki hat, als er das Literarische Quartett aufgab, einen Kanon der deutschen Literatur in 5 großen Kassetten herausgegeben. Sehen Sie ihre Edition als eine Art Parallel-Unternehmen unter dem Vorzeichen der Musik?
Heidereich: Nein. Ich bin gegen jede Kanonisierung. Und ich bin auch dem Kanon Reich-Ranickis gegenüber skeptisch. Das weiß er. Ich habe ihn damals mit seinem Kanon in der Kölner Oper vorgestellt. Die Kassetten habe ich selbst auf die Bühne geschleppt: 13 Kilo Romane, 7 Kilo Dramen und noch 5 Kilo Essays. Ein verdienstvolles Nachschlagewerk, zusammengestellt nach seinem Geschmack. Für Schüler und Studenten ist das eine feine Sache als erste Orientierung. Doch ansonsten muss sich jeder selbst auf die Suche machen und seine Literatur entdecken: Was passt zu mir, was trifft meinen Geschmack. Ich würde nie einen Musik-Literatur-Kanon machen. Bei mir werden nicht nur die hohen Heiligen der Musikgeschichte vorkommen, nicht nur Bach, Verdi, Puccini, Strauß, Wagner, sondern auch Bücher über Pop-Musik. Wittstock: Wie ist Ihr Verhältnis heute zu Marcel Reich-Ranicki? Sie haben sich ja zerstritten, nachdem Sie ihn wegen seines Auftritts bei der Verleihungsgala zum Deutschen Fernsehpreis und seiner Kritik an vielen Fernsehprogrammen doch eigentlich unterstützt hatten. Heidenreich: Um das in Kurzform zu erzählen: Wir waren jahrelang distanziert befreundet, so befreundet, wie man mit ihm befreunden sein kann. Ich war auf seinen Hochzeitstagen, war mit ihm in der Oper, wir haben uns oft getroffen. Es hat uns viel verbunden und er hat mich nach jeder „Lesen!“-Sendung angerufen und oft gelobt, nur immer gesagt, ich rede zu schnell, und da hat er Recht.
Wittstock: Es wird ihn freuen, dass Sie seine Kritik schätzen. Heidenreich: Dann kam die Fernsehpreis-Verleihung für sein Lebenswerk, und er bat mich, die Laudatio auf ihn zu halten. Das hätte ich auch gern gemacht und habe bei den Veranstaltern der Verleihungsgala angerufen. Doch die sagten mir, die Laudatio hält Thomas Gottschalk. Darauf sagte Reich-Ranicki zu mir: Dann musst Du eben das nächste Mal in die Jury gehen, dann kannst Du auch die Laudatio halten. Aber es war für ihn kein großes Thema, für mich auch nicht: Macht es eben Gottschalk. Wittstock: Wie fanden Sie die Gala? Heidenreich: Zu diesem Verleihungsabend bin nur Reich-Ranicki zuliebe hingegangen, ich hasse solche Veranstaltungen. Es war so unvorstellbar primitiv, das kann man sich als Zuschauer gar nicht vorstellen, weil das Schlimmste natürlich rausgeschnitten wird. Es war unglaublich peinlich. Ich saß hinter Reich-Ranicki und merkte, dass er immer wütender wurde. Mir war klar, der explodiert gleich. Man hat den alten, fast neunzigjährigen Mann drei Stunden warten lassen, bevor er drankam. Als er dann dran war, hat er sofort losgepoltert und den Preis nicht angenommen. Ich fand das wunderbar.
Wittstock: Und Sie polterten mit?
Heidenreich: Sobald ich von der Veranstaltung nach Hause kam, habe ich voller Wut einen Artikel in die Tasten gehauen, gegen diesen Fernsehmist, spontan, undiplomatisch, direkt. Eine Nacht drüber schlafen, wäre wohl klüger gewesen. Weil der Artikel so ein Schnellschuss war, habe ich dann eine Woche später noch einen geschrieben, der etwas ruhiger war. Ich sehe einfach nicht ein, dass jeder Unterhaltungsscheiß die besten Sendezeiten kriegt und die Kultursendungen kommen erst um Halbelf dran. Witzig ist, dass ich zu dieser Zeit schon beim ZDF gekündigt hatte zum Ende des Jahres. Im Überschwang schrieb ich daraufhin in dem Artikel: Schmeißt mich doch raus, mit euch kulturlosen Banausen will ich nichts mehr zu tun haben. Also schmissen sie mich tatsächlich raus mit Pauken und Trompeten. Aber das war wegen meiner Kündigung nicht weiter schlimm für mich. Schlimm war, dass Reich-Ranicki nun seinerseits nachlegte und öffentlich sagte, ich sollte mich nicht wichtig machen, ich sei unverschämt. Er fiel mir in den Rücken, worüber ich mich sehr geärgert habe. Wittstock: Gab es seither Kontakt zwischen Ihnen und Reich-Ranicki? Heidenreich: Drei Wochen später war er auf meinen Anrufbeantworter: Liebste, ruf mich zurück, wir sollten mal wieder etwas zusammen machen. Ich habe ihn nie mehr zurückgerufen. Kurze Zeit später war er bei Beckmann in der Talk-Show und wurde gefragt: Wollen Sie sich denn nicht mit Elke Heidenreich vertragen? Er antwortete: Ich bin ihr ja nicht böse, sie ist mir böse, ich bin jederzeit bereit, mich zu versöhnen. Wenig später war ich bei Beckmann, wurde dasselbe gefragt und sagte: Nein. Und dabei bleibt’s. Ich habe Respekt vor ihm und seinem Lebenswerk. Aber ich war nicht so innig mit ihm befreundet, dass er mir bis auf die Knochen fehlt. Ich will seine vielen kleinen Bosheiten nicht mehr haben, die große Bosheit hat mir gereicht. Aber ich grüße herzlich seine liebe Frau Tosia. Wittstock: Fehlt Ihnen die Fernseharbeit? Fehlt ihnen die Möglichkeit, so viele Zuschauer zu erreichen? Heidenreich: Ja. Fehlt mir. Ich bin mit meinen Buchempfehlungen jetzt ein Jahr lang im Internet gewesen, das lief gut, hat Spaß gemacht, aber ich habe bei weitem nicht die Wirkung, wie früher durch das Fernsehen. Irgendjemand schrieb kürzlich, ich hätte aus dem Internet heraus immer noch größere Wirkung als alle anderen Literatursendungen im Fernsehen. Man sieht es an den Internet-Klicks. Das ist schön. Ich habe viele Leute ans Lesen gebracht, und das macht mir Freude. Die Möglichkeit, sie übers Fernsehen ans Lesen zu bringen, die fehlt mir. Aber nicht unter der Bedingung, dass das ZDF meine Sendung irgendwo spät abends versteckt. Das fehlt mir nicht. Und im Internet höre ich zum Jahresende auf, um mehr Zeit für meine Edition zu haben und um mich mal aus der aktuellen Dauer-Leseschleife auszuklinken.
Das Interview erschien in der „Welt“ vom 26. November 2009