Herta Müllers Nobelpreisrede verrät etwas vom Glauben an die große Kraft der kleinen Gesten
Ein Moment echter Menschlichkeit. Was ist das? Wie erlebt man ihn? Welche Folgen hat er? Er findet sich kaum in lauten Bekenntnissen zu Humanismus oder Brüderlichkeit. Viel eher begegnet man ihm, da sind sich Schriftsteller quer durch die Literaturgeschichte einig, in winzigen Gesten des Alltags. In kleinen Zeichen der Zuwendung, die nicht ausgestellt, sondern oft fast schamhaft verborgen werden. In die Tradition des Glaubens an die große Kraft der kleinen Gesten ordnete sich jetzt auch Herta Müller ein mit ihrer Nobelpreisrede, die sie, wie der Brauch es will, drei Tage vor der Übergabe der Auszeichnung durch König Carl Gustaf in Stockholm hielt. „HAST DU EIN TASCHENTUCH, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Ich hatte keines. Und weil ich keines hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Taschentuch. Ich hatte jeden Morgen keines, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Das Taschentuch war der Beweis, daß die Mutter mich am Morgen behütet. In den späteren Stunden und Dingen des Tages war ich auf mich selbst gestellt. Die Frage HAST DU EIN TASCHENTUCH war eine indirekte Zärtlichkeit.“ Herta Müller schreibt, das zeigt ihre Rede eindringlich, eine hoch politische und zugleich hoch poetische Prosa. Sie verwandelt das Taschentuch, das ihre Mutter ihr in unablässiger Fürsorglichkeit jahrelang aufdrängte, nicht in ein pathetisches Symbol, sondern betrachtet es viel eher als ein konkretes Zeichen des Widerstandes gegen die Diktatur Ceausescus, der sie als Kind und junge Erwachsene ausgeliefert war. Denn gestärkt auch durch das Gefühl mütterlicher Zuwendung fand sie die Kraft, an ihrem Arbeitsplatz den Anwerbungsversuch der rumänischen Stasi „Securitate“ zurückzuweisen. Als ihre Vorgesetzten sie daraufhin aus ihrem Büro vertrieben und sie als Übersetzerin im Treppenhaus arbeiten musste, breitete sie tagtäglich ihr Taschentuch auf einer der Stufen aus, bevor sie sich setzte – und konnte so in einer würdelosen Lage einen Rest Würde wahren. Nicht nur im eigenen Schicksal verfolgt sie die große Wirkung kleiner Taschentücher. Sondern auch in dem ihres Schriftstellerfreundes Oskar Pastior, ohne dessen Berichte kurz vor seinem Tod sie ihren Roman „Atemschaukel“ über die sowjetischen Arbeitslager aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht hätte schreiben können. Pastior klopfte, berichtet Herta Müller, als halbverhungerter junger Mann an die Tür einer unbekannten Russin. Sie gab ihm nicht nur Suppe, sondern, als es von seiner Nase in den Teller tropfte, auch ein Taschentuch – ein „weißes Taschentuch aus Batist, das noch nie jemand benutzt hatte. Mit einem Ajour-Rand, akkurat genähten Stäbchen und Rosetten aus Seidenzwirn war das Taschentuch eine Schönheit, die den Bettler umarmte und verletzte, einerseits Trost aus Batist, andererseits ein Maßband mit Seidenstäbchen, den weißen Strichlein auf der Skala seiner Verwahrlosung.“ Fünf endlose Lagerjahre lang bewahrte Pastior dieses Tuch in seinem Koffer und brachte es schließlich nach Hause. Es wurde für ihn, so Herta Müller, zu „Hoffnung und Angst. Wenn man Hoffnung und Angst aus der Hand gibt, stirbt man.“ Herta Müllers Rede dokumentiert zweierlei zugleich. Zum einen den enormen Erfahrungsdruck, dem man unter einem so brutalen Regime wie dem Ceausescus ausgesetzt sein kann und die bewundernswerte menschliche Größe, die von manchen im Widerstand gegen dieses Regime aufgebracht wird. Zum anderen aber auch, wie fern derartige Erfahrungen den Bürgern funktionierender rechtsstaatlicher Demokratien – glücklicherweise – stehen. Als sie, so erinnert sich Herta Müller, den Securitate-Mann zurückwies, der sie anwerben sollte, flüsterte der: „’Dir wird es noch leidtun, wir ersäufen dich im Fluß.’ Ich sagte wie zu mir selbst: ‚Wenn ich unterschreibe, kann ich nicht mehr mit mir leben, dann muss ich es selbst tun. Besser Sie machen es.’“ Aus diesem Entschluss zum Widerstand, aus diesem offenen Nein zur Diktatur, ob es nun die Diktatur Ceausescus oder die der patriarchalischen Provinzgesellschaft des rumänischen Banats war, speist sich Herta Müllers Werk thematisch bis heute. Und die Todesfurcht, mit der sie für diese Entscheidung zahlte, verwandelte sich in ihrem Fall offenkundig zu einem mächtigen Antrieb für ihre Arbeit und ihre literarische Unbeirrbarkeit. Unter den ungleich komfortableren Bedingungen eines Rechtsstaates sind derart extreme Erfahrungen seltener und fast immer privater statt politischer Natur. So macht die Literatur des Westens auf die Leser oftmals einen leichtgewichtigeren, beliebigeren Eindruck. Was die Bewunderung für eine existentielle Entschiedenheit wie die Herta Müllers, für die in unserem Alltag fast keine Notwendigkeit mehr besteht, umso mehr steigert. Selbst Herta Müllers Mutter wurde, bevor ihre Tochter in den Westen emigrierte, für einen Tag verhaftet. Auch sie hatte, erzählt Herta Müller in ihrer großen Rede, an diesem Tag ein Taschentuch bei sich. Nach dem Verhör weinte ihrer Mutter lange. Dann nahm sie das tränennasse Tuch und wischte die Möbel und den Boden des Büros, in das man sie eingesperrt hatte. Ihre Tochter war entsetzt über diese Demutsgeste, doch ihre Mutter antwortete ihr: „’Ich habe mir Arbeit gesucht, dass die Zeit vergeht. Und das Büro war so dreckig. Gut, dass ich mir eins von den großen Männertaschentüchern mitgenommen hatte.’ Erst jetzt verstand ich“ ergänzt Herta Müller, „durch zusätzliche, aber freiwillige Erniedrigung verschaffte sie sich Würde in diesem Arrest.“ Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 9. Dezember 2009