Paul Michael Lützeler zeigt, welche Rolle der Bürgerkrieg für Schriftsteller heute spielt
Der Literaturbetrieb brummt. Fast 100.000 Neuerscheinungen kommen Jahr für Jahr auf den deutschen Markt. Aber ihre Verweildauer im Buchhandel wird immer kürzer. Früher hatten sie rund sechs Monate, bevor sie von den unvergesslichen Meisterwerken der jeweils nächsten Saison von den Büchertischen geschubst wurden. Heute bleiben ihnen oft nur noch drei Monate. Denn immer mehr Verlage pressen ihre Produktionen inzwischen quartalsweise auf den Markt. Kurz: Der Betrieb ist gefräßig wie nie. Aber, wird überhaupt noch gekaut, was da verschlungen wird? Will sagen: Wer denkt noch nach über all das, was da unausgesetzt über die Verlags-Fließbänder rauscht? Paul Michael Lützeler zum Beispiel, Literaturwissenschaftler an der Washington University in St. Louis, Missouri. Er gehört zu jenen Kennern mit langem Atem, die noch immer mit eingehenden Analysen einen Überblick im Dschungel der Gegenwartsliteratur zu schaffen versuchen, einen Überblick, der über die knappen Wegweisungen des täglichen Rezensionsrummel spürbar hinausgeht. Sein jüngstes Buch „Bürgerkrieg global“ hat er nach thematischen, nicht nach formalen Vorlieben der zeitgenössischen Autoren ausgerichtet: Welche Erfahrungen, Ansichten, Bilder von den Krisenherden und Schlachtfeldern unserer Zeit halten diese Erzähler in ihren Büchern fest? Das Thema ist schon deshalb gut gewählt, weil es naturgemäß einen beträchtlichen existentiellen Ernst einfordert und Autoren wenig Raum für privatistische Unverbindlichkeiten lässt. Es ist so etwas wie eine moralische Nagelprobe für ästhetische Programme, die sich angesichts schwindender universalistischer Gewissheiten eher zu ironischer Relativierungen als zu auftrumpfendem Pathos verpflichtet sehen. Wesentlicher intellektueller Orientierungspunkt bei der Untersuchung der Bücher bleibt für Lützeler der „postkoloniale Blick“ auf die geschilderten Konflikte: „Gemeint ist damit die Sehweise der Empathie, des Verstehenwollens und der transnationalen Anerkennung der Menschenrechte.“ Manche der Romane, denen sich Lützeler widmet, wie Uwe Timms „Schlangenbaum“ oder Nicolas Borns „Fälschung“, stammen noch aus der Zeit, in der die Welt in West- und Ost-Block zerfiel. Die meisten aber sind aus der jüngsten Zeit und spiegeln die, wie Enzensberger sie einmal nannte, „Neue Weltunordnung“ nach dem Ende des Kalten Kriegs. Christian Krachts Roman „1979“ über die islamische Revolution im Iran, Norbert Gstreins Blick auf den Jugoslawienkrieg in „Handwerk des Tötens“ und die Schilderungen des Massenmordes von Ruanda 1994 in „Kain und Abel in Afrika“ von Hans Christoph Buch und „Hundert Tage“ von Lukas Bärfuss sind einige der wesentlichen Bezugspunkte dieser Untersuchung. Bemerkenswert ist daran nicht allein die Sorgfalt, mit der Lützeler diese Romane durchleuchtet, sondern dass er dafür zunächst einmal eine solide Basis schafft, indem er die politischen Entstehungsbedingungen der verschiedenen Kriege nachgeht und ihre entscheidenden Konfliktlinien darlegt. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann die ästhetischen Anstrengungen der Autoren, ihren wuchtigen Themen als Romanciers Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, erst in den Feinheiten würdigen. Wer als Schriftsteller auf derart aktuelle und brisante Stoffe zurückgreift, muss es auch ertragen, mit seinem Buch am Gewicht seines Stoffs gemessen zu werden. Lützelers Studie zeigt, wie schwierig und zugleich wie notwendig es für die Literatur geworden ist, ihre eigene, spezifische Position zu politischen Fragen zu formulieren. Die Zeiten, in denen in den Augen vieler Künstler die ästhetische Avantgarde mit der politischen Avantgarde scheinbar problemlos zur Deckung zu bringen war, sind lange verflossen. Wohl kein ernstzunehmender Schriftsteller heute käme auf die Idee, sich als intellektuellen Vorreitern einer Bewegung zu betrachten, die den Wind der Weltgeschichte im Rücken habe. Viel eher sehen sie sich in einem traditionellen literarischen Sinne als Beobachter, die den miserabel Weltzustand beschreiben, ohne ihren Lesern Rezepte für dessen Besserung anbieten zu können. „Sie beschränken sich“ schreibt Lützeler, „auf die faktische Darstellung der Missachtung der Menschenrechte“. In einer Epoche schwindender kultureller Gemeinsamkeiten wirke das allemal überzeugender als jeder Versuch, Menschenrechte universalistisch verordnen zu wollen. Gewinnen also politische Themen ein größeres Gewicht in unserer Gegenwartsliteratur? Die Frage zeigt, welche Bedeutung solche Studien wie die Lützelers haben. Denn in der Flut alljährlicher Neuerscheinungen lassen sich Beispiele für nahezu jede beliebige thematische Vorliebe der Gegenwartsautoren finden. Wer will, kann daraus im Handumdrehen angebliche literarische Trends konstruieren, die schon in der nächsten Saison vergessen und von den nächsten abgelöst werden. Es sind gründliche und genau argumentierende Untersuchungen wie die Lützelers, deren Gedächtnisleistung über die Bücher der jüngsten zwei, drei Jahre hinausgehen, durch die sich einzelne Bücher als relevante Fixpunkte der Gegenwartsliteratur und der literarischen Debatten herauskristallisieren.
Die Rezension erschien in der „Welt“ vom 19. Dezember 2009
Paul Michael Lützeler: „Bürgerkrieg global“. Fink Verlag, München 2009 360 Seiten, 29,90 €