Wirkliche Gerechtigkeit gibt es im normalen Leben kaum

 Kleines Gespräch mit Andrea Maria Schenkel anlässlich des Erscheinens ihres vierten Romans „Finsterau“  

Uwe Wittstock:   Wie Ihre beiden Krimi-Bestseller „Tannöd“ und „Kalteis“ geht ihr neuer Roman „Finsterau“ auf einen autentischen Fall zurück. Lieben Krimi-Leser wahre Geschichten?
Andrea Maria Schenkel:   Ich denke schon. Der Leser spielt bei jedem Wort mit dem Gedanken: War es wirklich so? Bei „Finsterau“ ist der Anteil der historischen Fakten allerdings sehr gering.
Wittstock:   Wie finden Sie die Fälle, die Sie in ihren Romanen verarbeiten?
Andrea Maria Schenkel:   Ich habe ein Faible für alte Zeitungen. Für mich machen sie Vergangenheit lebendig. In ihnen finde ich meine Stoffe.
Wittstock:   Reden Sie mit Zeugen der jeweiligen Fälle oder genügen Ihnen die Prozess-Akten? Andrea Maria Schenkel:   Nein, keine Zeugen. Für den neuen Roman hatte ich nur einen Zeitungsartikel. Daraus hat sich in meiner Phantasie die Geschichte entwickelt. Bei „Kalteis“ dagegen habe ich wochenlang im Staatsarchiv gesessen und alles über den Fall gelesen. Außerdem alles, was ich über Serienmörder finden konnte.
Wittstock:   Hat Ihnen das auch bei „Finsterau“ geholfen?
Andrea Maria Schenkel:   Nein, gar nicht. Ein Roman entsteht ja nicht nur aus den Fakten der Handlung, sondern er braucht Atmosphäre. Für „Finsterau“ musste ich zum Beispiel genau wissen wollen, wie man kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Land Wäsche gewaschen hat. Gar nicht so leicht, das zu recherchieren.
Wittstock:   Wie Ferdinand von Schirach in seinen Büchern übt auch ihr Roman Kritik an Justiz-Verfahren. Ist das ein wichtiges Thema heute?
Andrea Maria Schenkel:   Unbedingt. Die amerikanischen Fernsehr-Serien über Juristen vor Gericht vermitteln ein falsches Bild: Da sieht es immer so aus, als könnten die Richter Gerechtigkeit schaffen. Doch wirkliche Gerechtigkeit gibt es im normalen Leben kaum. Tatsächlich können Gerichte nur nach den Beweisen urteilen, die ihnen vorliegen – die sind aber oft missverständlich oder unvollständig. Dann kommt es Justiz-Irrtümern.
Wittstock:   Sie benutzen oft Dialekt-Begriffe in ihren Romanen. Sie wirkt so sehr autenthisch. Aber viele Leser kennen diese Worte gar nicht.
Andrea Maria Schenkel:   Sie kennen die Begriffe nicht, aber sie können sie verstehen beim Lesen. Ich will, dass die Figuren in meinen Büchern so reden, wie sie seinerzeit tatsächlich geredet haben könnten. Auch wenn manche Worte inzwischen ungebräuchlich sind. Aber so, wie ich diese Worte im Roman einsetze, sind sie immer verständlich und geben einer Geschichte ihren echten Klang.

Das Gespräch erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ am 12. März 2012

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»Vorbild für Entenhausen«

»Vorbild Geschichten wie bei Comics und »Harry Potter«: Ein Gespräch mit Martin Mosebach über den Erfolg des Erzählers Charles Dickens, der vor 200 Jahren geboren wurde und die Literatur noch immer prägt   

Uwe Wittstock:   Dickens’ Erfolg ist gigantisch. Seine Bücher haben eine Gesamtauflage von mehreren hundert Millionen. „Oliver Twist“ wurde mehr als 20-mal verfilmt, noch häufiger die Weihnachts-Geistergeschichte um den herzlosen Scrooge. Was macht diese literarische Anziehungskraft aus?
Martin Mosebach:   Die berühmten Romane „Oliver Twist“ und „David Copperfield“ oder auch die „Weihnachtsgeschichte“ haben den Welterfolg des Genres Jugendliteratur erst eigentlich möglich gemacht. Ihr Rezept: eine klare Trennung zwischen bösen und guten Charakteren und dazu einen jungen Helden, der sich als Identifikationsfigur anbietet. Jeder Jugendliche, der sich einsam, unverstanden und also unglücklich fühlt – wie man das als junger Mensch gelegentlich tut -, findet in diesen Romanen ein literarisches Gegenüber, in das er sich einfühlen kann. Und am Schluss siegt das Gute. Der junge Held triumphiert, die Sehnsucht junger Leser nach Anerkennung und Größe erfüllt sich. Die zahllosen jugendlichen Helden in den Jugendbüchern des 20. Jahrhunderts sind Enkel und Urenkel von Oliver Twist.
Wittstock:   Zugleich sind Dickens’ Romane sehr komisch.
Mosebach:   Ja, das bunte Personal, das die Helden in Dickens’ Romanen umgibt, ist immer wieder hinreißend. Dickens hat die Figuren der italienischen Commedia dell’Arte und der altenglischen Weihnachtspantomime in die Prosaliteratur eingeführt und mit dem Gesellschaftsroman verschmolzen. Er hatte eine unerschöpfliche Fantasie, wenn es darum ging, kauzige, kuriose, witzige Nebenfiguren zu erfinden. Aber auch gruselige, erschreckende, beängstigende Gestalten. Er hat damit ein bis in unsere Gegenwart vielfach benutztes Erzählmodell entwickelt. Ganze Comic-Welten wie Disneys Entenhausen oder das Springfield der Simpsons folgen diesem Muster: Um eine Zentralfigur schart sich ein Ensemble von drolligen, leicht wiedererkennbaren Typen, die in bunter Folge auf- und wieder abtreten und so ein komisches Milieu erschaffen. Vor allem: keine Psychologie! Stattdessen: Typen- und Maskentheater! Auch „Harry Potter“ geht letztendlich auf Charles Dickens zurück: der jugendliche Held, umgeben von einer schier unüberschaubaren Menge bi-zarrer oder eben schauerlichfantastischer Nebenfiguren.
Wittstock:   Anders als J. K. Rowling war Dickens ein ausgesprochen sozialkritischer Autor. Das Bild von der Not der Arbeiter im Manchester-Kapitalismus ist maßgeblich von Dickens mitgeformt worden.
Mosebach:   Dickens hatte die Schattenseiten seiner Zeit am eigenen Leib erfahren. Er erlebte den sozialen Abstieg seiner Familie, als sein Vater ins Schuldgefängnis kam und er als Zwölfjähriger für zehn Stunden täglich zur Arbeit in eine Schuhwichsfabrik geschickt wurde. Er sah die gnadenlose Welt der Armen mit den Augen des abgestiegenen Bürgerlichen, der diesen Abstieg als Schande empfindet. Die Erinnerung an diesen realen Albtraum hat ihn zeitlebens nicht verlassen.
Wittstock:   Hat Dickens mit seinen Büchern zur Einschränkung der Kinderarbeit beigetragen?
Mosebach:   Nicht nur mit seinen Büchern. Er polemisierte in zahllosen Zeitungsartikeln gegen die Lasten, die man in seiner Zeit den Kindern auflud. Andererseits hat er in seinen Romanen bestimmte Themen konsequent ausgespart: Die ganze Welt der Erotik und des Sexus zum Beispiel kommen bei ihm nicht vor. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in England ja nicht nur das Elend der Arbeitshäuser, in denen Oliver Twist fast umkommt. Vollständig wäre das Bild der Epoche erst, wenn Dickens auch die aus der Armut geborene Kinderprostitution beschrieben hätte, die damals an der Tagesordnung war. Ein Dostojewski hat das gewagt. Doch die viktorianische Gesellschaft war zu prüde, um so etwas offen zur Sprache zu bringen. Auch damals gab es Sextourismus: Allerdings musste der Gentleman der englischen Middle Class nicht auf andere Kontinente reisen, sondern nur in die Armenviertel Londons.
Wittstock:   Aber Dickens war kein Ideologe. Er hätte Karl Marx im London seiner Zeit treffen können, aber marxistische Ideen waren im völlig fremd.
Mosebach:   Die gesellschaftliche Ordnung wird in seinen Romanen nie in Frage gestellt. Letztlich war das soziale Elend viel größer, als er es schilderte. Dickens war kein Zola, er beschrieb das Elend so abgemildert, dass seine Leser es gerade noch ertragen konnten. Und die Lösung seiner Romane ist immer, dass zum guten Ende wohlhabende, gütige Menschen den Armen helfen und ihnen ihr Los erleichtern, nachdem vorher viele hartherzig weggeschaut haben. Auf diese Weise hat Dickens an das Gewissen seiner Leser appelliert. Man darf nicht vergessen: Marx rechnete fest mit einer proletarischen Revolution in England. Dickens’ Romane dagegen zielten darauf, das soziale Verantwortungsgefühl der bürgerlichen Leser zu schärfen. Er ist das literarische Pendant zum Tory-Premierminister Disraeli und seinem konservativen Paternalismus. Allerdings hatten die Engländer damals Kolonien, in die sie einen Teil ihrer sozialen Probleme verlagern konnten.
Wittstock:   War Dickens also ein Moralist?
Mosebach:   Er glaubte fest an eine Kombination aus Vernunft und gutem Herzen. Man kann das naiv nennen. Aber es lag in diesem Glauben, so wie Dickens ihn in seinen Romanen ausgesprochen hat, zweifellos eine Kraft – auch politisch. Die Doktrin, die er erzählend propagiert hat, lautete: Gutsein lohnt sich. Man darf ihn deshalb wohl einen Moralisten nennen, denn er warb eben nicht für utopische Ziele, sondern für eine Linderung konkreter Leiden, die letztlich im Interesse der gesamten Gesellschaft lag. Rückblickend könnte man sagen: Dickens hat die Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft besser verstanden als Karl Marx.

Das Gespräch mit Martin Mosebach erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ am 30. Januar 2012

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Land der vielen Seiten

Am 27. Januar 2012 sprach Marcel Reich-Ranicki im Bundestag über den Holocaust. Eine Zugfahrt mit dem literarischen Beichtvater der Deutschen. Reportage von Uwe Wittstock

Er ist die Ruhe selbst. Marcel Reich-Ranicki zeigt keine Spur von Nervosität auf dem Weg zu Frankfurter Bahnhof, obwohl er sich aufmacht zu der bedeutendsten Rede seines Lebens. Der bedeutendsten Rede zumindest nach gewöhnlichen Maßstäben. Der Deutsche Bundestag hat Marcel Reich-Ranicki gebeten, am Holocaust-Gedenktag über die Verbrechen der Deutschen zu sprechen. Als einer der letzten lebenden Zeitzeugen des millionenfachen Massenmords soll nicht nur die Abgeordneten, sondern letztlich das ganze Land an die deutschen Verbrechen erinnern. Vielleicht wird es bedeutendste Rede seines Lebens werden, aber sicher nicht die wichtigste. Die hat er längst gehalten, vor fast genau siebzig Jahren in Warschau. Auch damals im Herbst 1942 war er auf dem Weg zu einem Bahnhof – zu dem „Umschlagplatz“ genannten Höllenort im Warschauer Ghetto. Von dort gingen die Züge ab, die direkt in die Gaskammern von Treblinka führten. Über 300.000 Menschen wurden so in nur sieben Wochen viehisch ermordet. Damals war Reich-Ranicki nicht die Ruhe selbst, er rannte. Soldaten hatten seine Frau Tosia, gerade 22 Jahre alt, auf den „Umschlagplatz“ verschleppt. Jederzeit konnte der nächste Zug in die Vernichtung abfahren. Reich-Ranicki fand den Kommandanten der jüdischen Miliz, der Aufsicht führte über den Wartesaal des Todes. Nur für ihn als einzigem Zuhörer hielt Reich-Ranicki die tatsächlich wichtigste Rede seines Lebens, aus dem Stegreif, ohne Vorbereitung – und fand Worte, die den Mann überzeugten. SS-Leute waren nicht in der Nähe, so konnte der Kommandant es wagen, Tosia freizulassen, zurück ins Ghetto, zurück ins Leben. Wer einmal eine solche Rede halten musste, der hat vielleicht die Fähigkeit verloren, vor Ansprachen nervös zu sein. Auf dem Frankfurter Bahnhof, sieben Jahrzehnte und eine beispiellose Karriere als Kritiker später, sind sein Sohn Andrew und seine Schwiegertochter Ida bei ihm. Sie helfen dem 91jährigen in den ICE, die Stufen sind für ihn beschwerlich hoch. Die Familie hat ein Abteil reserviert, ein befreundeter Arzt, der Reich-Ranicki schon seit Jahren behandelt, begleitet sie. Er ist spürbar froh, den erfahrenen Mediziner bei sich zu haben. Aber Tosia fehlt, fehlt für immer, sie starb im vergangenen Mai nach nicht weniger als 69 Jahren Ehe. Es ist eine bemerkenswerte Erfahrung, mit Marcel Reich-Ranicki in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein. Er wird erkannt, gegrüßt oder angesprochen wie andere Prominente auch. Doch bei ihm kommt noch etwas hinzu: Fremde fühlen sich durch die Begegnung mit ihm auf offener Straße zu einer Art kultureller Selbstprüfung angeregt. Sie gehen auf ihn zu, schütteln seine Hand und legen Rechenschaft ab, was und wie viel sie gelesen haben. Reich-Ranicki ist zum literarischen Beicht- und Übervater der Nation herangewachsen. „Ihre Artikel, Ihre Rezensionen haben mir immer viel bedeutet“, sagt ein Herr mit Koffer auf dem Bahnsteig. Welche Rolle Reich-Ranicki im Bewusstsein vieler Leser einnimmt, war an seinem 85. Geburtstag zu erleben. Frankfurt feierte ihn in der Paulskirche, ihrem geschichtsträchtigsten Ort. Als Reich-Ranicki vorfuhr und aus dem Wagen stieg, zog gerade das endlose Band einer Studentendemonstration vorüber. Die jungen Leute protestierten gegen die Gebühren an den Universitäten. Die Studenten erkannten Reich-Ranicki sofort. Sie wussten, dass er Geburtstag hatte. Sie hörten für den Moment auf, ihre Protestparolen zu skandieren, und stimmten ein fröhliches „Happy birthday to you“ für ihn an. Kaum hat der ICE den Bahnhof verlassen, meldet sich Reich-Ranickis legendäre Ungeduld: „Mein Gott, der Zug fährt erbärmlich langsam.“ Dann, 50 Kilometer weiter, mit einem verzweifelten Blick aus dem Fenster: „Es passiert ja nichts!“ Hinter Fulda: „Es ist so langweilig.“ Hinter Wolfsburg: „Nichts los. Wie in Sibirien.“ Sohn Andrew versucht, beruhigend zu widersprechen: „Nein, Sibirien ist schlimmer.“ Worauf sich Reich-Ranicki bei seinem Arzt über den Sohn beklagt: „Er weiß alles besser.“ Gesprächsthemen werden gesucht, um den anspruchsvollen Reisenden zu unterhalten. Mit seinem Sohn, Mathematikprofessor in Edinburgh, spricht er gelegentlich polnisch, seine Schwiegertochter, die in Amerika geboren wurde, antwortet auf Englisch. Ob Bundespräsident Christian Wulff wegen seiner Affäre zurücktreten solle? „Natürlich“, sagt Reich-Ranicki sofort, „er muss unbedingt zurücktreten.“ Was in seinen Augen der entscheidende Fehler Wulffs sei? Reich-Ranicki zögert kurz, bevor er gewohnt entschieden antwortet: „Wulff hat offenbar zu hohe finanzielle Ansprüche, um als Politiker unabhängig zu sein.“ Am nächsten Tag im Parlament wird Christian Wulff neben ihm sitzen und ihn zum Rednerpult begleiten. Irgendwann bei Göttingen holt der Sohn eine leere Ringbuchmappe aus dem Koffer, die seine Frau noch kurz vor der Abreise gekauft hat. Gemeinsam mit seinem Vater heftet er das Redemanuskript ein. „Damit die Seiten nicht durcheinandergeraten können“, erklärt Andrew Ranicki. Die Vorbereitungen für diese besondere Rede bekommen nun doch eine feierlichere Form als die für all jene Reden über Schriftsteller und Literatur, die Reich-Ranicki nicht selten frei, ohne Manuskript oder Stichpunkte hält. Falls im Bundestag seine Kraft oder Stimme versagen sollte, haben die beiden abgesprochen, muss der Sohn die Rede des Vaters zu Ende bringen. Als spüre der Patriarch, dass jetzt doch, kurz vor Berlin, im Abteil eine Anspannung entsteht, die er nicht wünscht, fragt er: „Was haltet ihr von Thomas Gottschalks neuer Show?“ Die Mitreisenden wiegen eher skeptisch die Häupter. „Ja“, sagt Reich-Ranicki, „er muss besser werden.“ Sohn Andrew lacht und erzählt: Als sein Vater zum ersten Mal zu „Wetten, dass . .?“ eingeladen werden sollte, rief Gottschalk persönlich an und merkte bald, dass der Literaturkritiker Reich-Ranicki noch nie im Leben von der Existenz dieser Sendung oder eines Moderators namens Gottschalk gehört hatte. Woraufhin Gottschalk bat: „Herr Reich-Ranicki, geben Sie den Hörer doch mal Ihrer Frau, die wird Ihnen dann erklären, wer ich bin.“ Tosia bekam den Hörer, erklärte ihrem Mann, wer Gottschalk ist. Seit dem ersten Auftritt bei „Wetten, dass . .?“ verbindet die beiden Männer eine achtungsvolle Fernfreundschaft. Am Berliner Hauptbahnhof wartet bereits ein Beauftragter des Bundestags. Zwei Wagen fahren Reich-Ranicki und seine Begleiter zügig ins Hotel, denn schon am Tag vor dem Auftritt im Parlament ist der Zeitplan eng: Ein Abendessen ist angesetzt im Journalistenclub des Verlags Axel Springer, danach die „B.Z.-Kulturpreis-Gala“, bei der Reich-Ranicki eine Ehrenauszeichnung für sein Lebenswerk erhält – ein strammes Programm für einen 91-Jährigen. Als er am Abend den Preis schließlich in Händen hält und mit leicht brüchiger Stimme gedankt hat, erheben sich die Zuhörer und applaudieren lange. Am nächsten Morgen zollen die Abgeordneten im Bundestag Marcel Reich-Ranicki unverkennbar Respekt und Hochachtung, vielleicht sogar etwas wie Zuneigung. Als Marcel Reich-Ranicki Platz nimmt hinter dem Schild „Deutscher Bundestag“, wirkt er noch ein wenig kleiner. Leise spricht er, vernuschelt einzelne Wörter. Und doch wird die Geschichte verstanden: seine Geschichte aus der Geschichte, die von Tosia, seiner Frau, und dem „Umschlagplatz“, damals im Warschauer Ghetto, und den 300.000 Menschen, die allein von hier in die Gaskammern fuhren. Bundespräsident Christian Wulff applaudiert. Und Bundestagspräsident Norbert Lammert sagt, er sei „zutiefst dankbar, dass Sie mit Deutschland nicht nur die eine, die menschenverachtende Seite verbinden“.

Die Reportage erschien im Magazin „Focus“ vom 30. Januar 2012

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Engel des Vergessens

Laudatio zur Verleihung des Buchpreises der Stiftung Ravensburger an Maja Haderlap am 21. November 2011 in Berlin

Mein Damen und Herren, der erste Roman Maja Haderlaps hat eine Neigung zum Paradox. Er trägt den Titel „Engel des Vergessens“, handelt aber vom Erinnern. Er berichtet von den Kärntner Slowenen, die gegen Hitler kämpften und siegten, sich aber wie Verlierer fühlen mussten. Er erzählt von dem Glück, nach dem Ende des Krieges geboren zu sein, und zugleich von dem Unglück, unentrinnbar im Schatten dieses Krieges leben zu müssen. Es ist der Roman einer Frau, die zur späten Gefangenen einer Vergangenheit wird, die nicht vergehen will, und doch auch der Roman einer Befreiung dieser Frau aus dem Gefängnis der Vergangenheit, eben weil sie die Kraft gefunden hat, diesen Roman zu schreiben. Vielleicht darf man Maja Haderlaps Buch im Sinne dieser Paradoxien auch einen paradoxen Familienroman nennen. Denn Maja Haderlap färbt nichts schön in diesem Buch, sie täuscht ihre Leser nicht hinweg über die Spuren der Zerstörung, die durch die mörderischen Übergriffe der Nazis in ihre Familie hineingetragen wurden. Sie verschweigt nicht die tiefe Verstörung ihres Vaters, nicht die Rivalität zwischen Großmutter und Mutter, nicht die Fremdheit, mit der sich Vater und Mutter begegnen. Und doch lässt der Roman keinen Zweifel daran, dass die Familie das Zentrum ist, aus dem heraus die Menschen leben, die hier beschrieben werden, dass die Familie für sie die alles überwölbende Ordnung ist, in der sie sich aufgehoben fühlen. Zu Beginn des Romans lernen wir die Erzählerin als kleines Mädchen kennen, das fast buchstäblich am Rockzipfel der Großmutter hängt. Die Welt um sie herum scheint in geradezu archaischer Ländlichkeit zu ruhen, das Leben folgt dem Rhythmus der Jahreszeiten. Die Großmutter redet dem Holunderbusch gut zu, damit er früher blüht, sie vermag mit ihren Speisen Wunden zu heilen oder Krankheiten auszulösen, und sie backt Brot nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten. Fast glaubt man, als Leser im Märchen gelandet zu sein. Doch sehr bald schon mischt sich ein feiner Unterton der Gefährdung in die sinnliche Beschwörung des Idylls. Maja Haderlap zeigt, wie die Realität mit ihren bitteren Wahrheiten einbricht in das Wunderland dieser Kärntner Kindheit: Ihre Großmutter, so begreift die Enkelin nach und nach, wurde von den Nazis ins KZ Ravensbrück verschleppt, ihr Großonkel kam in Dachau um, ihr Vater wurde als Kind gefoltert, damit er den Großvater verrate, der als Partisan einen schier hoffnungslosen Kampf gegen Hitlers Truppen kämpfte. An keinem Menschen, so muss das Mädchen mit den Jahren erkennen, gehen solche Erfahrungen spurlos vorüber. Großmutter und Vater sind schwer traumatisiert, die eine hält eisern fest an der Macht, die sie in ihrer Familie ausübt, der andere ist so tief in Angst erstarrt, dass er nur in cholerischen Ausfällen die Kraft findet, sich kurz von ihr zu befreien. Die besondere literarische Leistung Maja Haderlaps liegt nicht zuletzt darin, für das allmählich sich ausbildende historische Bewusstsein ihrer Heldin eine ebenfalls allmählich sich wandelnde, schrittweise reflektierter werdende und deshalb immer angemessene Sprache gefunden zu haben. In einer Familie, die über ihre Vergangenheit spricht, wird Geschichte als erlebte Erfahrung weitergegeben. Wenn diese Geschichte friedlos und grausam war, können auch die weitergegebenen Erfahrungen nicht heiter und unbeschwert sein. Maja Haderlap beschreibt in ihrem Roman die Familie als generationsübergreifende Erfahrungsgemeinschaft. Sie führt dem Leser vor, wie sehr die Einfühlung in Familienmitglieder und deren Vergangenheit das historische Bewusstsein eines heranwachsenden Menschen formt. Das Kind beginnt mit dem Wissen um das Leiden von Großmutter und Vater nicht nur die eigene Familie mit anderen Augen zu sehen, sondern auch seine Mitmenschen und sogar die Landschaft, vor allem den Wald, in dem seinerzeit die Partisanen kämpften. Mit anderen Worten: Maja Haderlaps „Engel des Vergessens“ ist vieles zugleich. Es ist der Roman einer Kindheit auf dem Kärnter Land. Es ist die Geschichte eines Mädchens und dann einer jungen Frau, die lernt, in der Gegenwart ihrer Heimat deren finstere Vergangenheit wiederzuentdecken. Es ist damit auch so etwas wie ein Entwicklungsroman. Vor allem aber ist es in meinen Augen der Roman einer Familie, die ankämpft gegen die Folgen des Unrechts, das ihr in den Nazi-Jahren angetan wurde, und die sich gerade in diesem gemeinsamen Kampf als Familie erweist. Ich gratuliere Maja Haderlap sehr herzlich zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger.

Die Laudatio wurde bei der Preisverleihung am 21. November 2011 in Berlin gehalten.

Maja Haderlap: „Engel des Vergessens“. Roman Wallstein Verlag, Göttingen 2011 287 Seiten, 18,90 Euro

ISBN 978-3835309531

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Wozu diese seltsame Sache namens Leben?

Wolfgang Herrndorf hat einen spannenden und fabelhaft komischen Thriller mit philosophischen Untertönen geschrieben: „Sand“   

Zwei CIA-Agenten und ein Söldner rasen im Jeep durch eine arabische Hafenstadt. Bei einem Feuergefecht mitten im Frieden haben sie drei Männer getötet, um einen Verdächtigen in ihre Gewalt zu bringen. Vermutlich sind ihnen Verfolger auf den Fersen, doch sobald es zu dämmern beginnt, besinnt sich der Söldner auf seinen Glauben. Als frommer Muslim will er sein Abendgebet am Straßenrand verrichten, und zwar sofort. Die beiden Agenten erklären ihn für übergeschnappt, worauf lautstark ein theologischer Disput ausgetragen wird: Nichts, schreit der Muslim, sei den Amerikanern heilig, nichts. Ob er ernsthaft glaube, brüllen die Amerikaner, seinen Gott nach drei Morden mit einem Abendgebet milde stimmen zu können? Dann fuchteln alle drei eine Weile mit ihren Waffen und schlagen um sich, bevor sie sich darauf einigen, präzise in Richtung Osten zu fahren, damit der Söldner im weiterrasenden Wagen, sich gen Mekka verbeugend, seinen Glaubenspflichten nachkommen kann. Eine Szene, wie sie auch von Quentin Tarantino („Pulp Fiction“) stammen könnte – ein kunstvolles Gemisch aus entfesselter Brutalität, absurder Komik und religiösphilosophischen Fragen. Die Szene stammt aus dem Roman „Sand“ des Berliner Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, 46. Und dieses Buch ist ein furioses Meisterstück, das sich vor Anleihen bei populären Medien wie Kino oder Comic nicht scheut und doch vor allem eines ist: großartige Literatur. Bereits im vergangenen Jahr machte Herrndorf Furore mit seinem gleich dreifach preisgekrönten Buch „Tschick“. Das wurde gern ein Jugendroman genannt, weil seine Hauptfiguren nur 14 Jahre alt sind. Tatsächlich aber ist es eine wunderbare moderne Abenteuergeschichte, eine Art deutscher Huckleberry Finn, der von der Schönheit und den Schrecken eines wahrhaft freien Lebens jenseits aller Zwänge erzählt. Das neue Buch Herrndorfs lässt sich, wie auch die Filme Tarantinos, nur schwer den üblichen Genres zuordnen. Ist es ein Agententhriller über die Umtriebe der CIA in Nordafrika? Ist es ein politischer Roman aus dem Jahr 1972, der die blutigen Folgen des Kalten Krieges in der Dritten Welt vor Auge führt? Ist es die Geschichte der verzweifelten Selbstsuche eines Mannes, der alle Bindungen an die Vergangenheit verloren hat? Der Roman beginnt, wie man es aus dem Kino kennt: An ganz verschiedenen, scheinbar zusammenhanglosen Schauplätzen werden die Hauptfiguren vorgestellt. Zwei korrupte Polizisten vergnügen sich mit gefälschten Ausweisen („Sonderermittler des Tugendkomitees“) in den Bordellen der Stadt. Eine etwas zu modisch gekleidete CIA-Agentin kommt im Hafen an und gibt sich als Vertreterin eines Kosmetikunternehmens aus. Ein junger Araber schießt scheinbar grundlos in einer Hippie-Kommune um sich: vier Tote. Ein Abenteurer mit dem Faible für finstere Geschäfte wartet in einem Kaffeehaus auf einen Kunden, der illegal Zentrifugen erwerben will. Aus diesen losen Handlungsfäden flicht Herrndorf dann allerdings nicht, wie sonst in Krimis üblich, einen übersichtlichen Handlungszopf. Vielmehr rückt er einen Mann in den Mittelpunkt des Geschehens, dem nach einem Schlag auf den Schädel das Gedächtnis abhandenkommt und der zwischen alle Fronten gerät. Der arme Kerl kennt weder Ursache noch Ziel des heimlichen Kleinkriegs zwischen den Spionen, er kennt noch nicht einmal den eigenen Namen. Und dennoch machen alle Seiten gnadenlos Jagd auf ihn – was nicht nur sehr beängstigend, sondern oft auch sehr komisch ist. Zugegeben, es gab schon originellere Romanideen als die, eine Hauptfigur das Gedächtnis verlieren zu lassen. Doch durch sie verleiht Herrndorf seinem Thriller einen doppelten Boden. Denn nun dreht sich die Geschichte nicht mehr allein um die Aktivitäten der Agenten, sondern gleichnishaft auch um die uralten Fragen der Philosophie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu diese seltsame Sache namens Leben? Der Sinn des Lebens reduziert sich für Herrndorfs Helden schnell auf den panischen Kampf ums Weiterleben. Ein ungleicher Kampf, der Spuren hinterlässt: Sein Körper ist geschunden, fast alle Gliedmaßen bandagiert, in der Wüste droht er zu verdursten, in einer Höhle zu ertrinken. Er irrt durch sein Leben wie durch ein gigantisches Labyrinth. Doch sein Wille, Antworten auf die Frage zu finden, wie er in seine rätselhafte Lage kommen konnte, ist schier unermüdlich – und immer wieder scheint eine Lösung ganz nah zu sein. Und ist dann doch schnell wieder verschwunden. Ein wenig erinnert das Schicksal dieser Haupftfigur an das Eichhörnchen aus den „Ice Age“-Filmen, das den Kampf um die einzige Eichel weit und breit selbst unter widrigsten Umständen niemals aufgibt – obwohl ihm seine unerschöpfliche Leidenschaft ebenso unerschöpfliche Leiden schafft. Bewundernswert ist die erzählerische Virtuosität dieses Schriftstellers. Herrndorf braucht nur wenige Sätze, um dem Leser selbst komplexe Charaktere plastisch vor Augen zu stellen. Wenn er ein arabisches Kaffeehaus beschreibt, das Basar-Viertel der Stadt oder das Gassengewirr einer abgelegene Oase, glaubt man, es nicht nur vor sich sehen, sondern förmlich riechen zu können. Nicht alle Rätsel dieses Romans werden schließlich aufgeklärt. Gewöhnlich beschreibt ein Agententhriller kühl kalkulierte, strategisch durchdachte Missionen, um rationale Ziele zu erreichen. Derart vernünftig glauben auch Herrndorfs Geheimdienstleute zu handeln. Doch der Leser begreift schnell, dass ihre Aktionen im Grunde von Zufällen, Illusionen oder Irrtümern vorangetrieben werden und am Ende alle Pläne, dem hochgemuten Selbstbild der Akteure zum Trotz, im Sand verlaufen – worauf der Roman bereits mit seinem Titel anspielt. Möglicherweise ist „Sand“ Wolfgang Herrndorfs letztes Buch. Er macht auch öffentlich kein Geheimnis daraus, dass er krank ist, todkrank. In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ berichtet er seit knapp zwei Jahren von seinem Kampf gegen den Krebs. Auch dies ein ungleicher Kampf, der Spuren und einen geschundenen Körper hinterlässt. Bewundernswert ist der Witz, mit dem Herrndorf all das erträgt. Wehleidigkeit scheint er nicht zu kennen. Er hat ein fabelhaftes komisches Talent, und vielleicht ist das Lachen die beste Reaktion auf die Erkenntnis, dass vielleicht alles, absolut alles, letztlich im Sand verläuft.

Die Rezension erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ am 21. November 2011

Wolfgang Herrndorf: „Sand“. Roman Rowohlt Verlag, Reinbek 2011 480 Seiten, 19,95 Euro ISBN 978-3871347344

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Der Boss der Bücher

Klaus Eck ist der mächtigste Verleger Deutschlands.

Sein Buch-Imperium hat die Konkurrenten längst weit hinter sich gelassen. Doch eine Lücke bleibt. Und schmerzt.   Das Leben ist launisch, es schlägt Haken. Selbst einem Erfolgsmenschen wie Klaus Eck gelingt nicht alles. Eigentlich träumte er von einer glänzenden Karriere als Hotelbetrüger. Damals, mit Fünfzehn, als er im Regal der Eltern Thomas Manns „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ entdeckte. Sofort erlag er dem Charme des Titelhelden. Und dem Charme wahrhaft großer Literatur. Das sollte sein Leben werden. Doch wie leicht verfehlt man sie, die zarten Träume der Jugend. Karriere hat Klaus Eck gemacht und weiß Gott eine glänzende. Aber nicht im glorreichen Arbeitsfeld Felix Krulls, sondern im ehrbaren Beruf des Verlegers. Heute ist er der Mächtigste seines Standes in Deutschland, ein Tycoon der Buchbranche. Gleich 45 Verlagsprogramme hören auf sein Kommando. 328 Millionen Umsatz bringen sie jährlich auf die Waage. Random House heißt sein Imperium, beim Leser nach wie vor besser bekannt unter dem alten Namen Bertelsmann. Klaus Eck ist trotz seiner Machtfülle ein auffällig umgänglicher Mensch, ein Herrscher, der nicht herrisch auftritt. Wie ein Stopp-Schild trägt er den Satz vor sich her: „Random House ist keine One-Man-Show“, und betet routiniert eine Liste von Verlagsleitern herunter, denen im operativen Geschäft der Hauptteil des Lorbeers gebühre. Der feinnervige Literaturbetrieb weiß so etwas zu schätzen und begegnet Eck nicht zuletzt deshalb mit hohem Respekt. Mit Respekt. Doch die Bewunderung der Branche, ihre Verehrung heimsen andere ein. Michael Krüger zum Beispiel, der Leiter des Hanser Verlages. Neben dem Riesen Random House nimmt sich Hanser zwar fast aus wie ein Zwerg – hat aber die edleren Bücher und erlauchteren Autoren im Programm: von Botho Strauß, dem orakelnden Zeitdeuter, bis zur viel gefeierten Nobelpreisträgerin Herta Müller. Natürlich weiß Klaus Eck das. Er kann darüber wenn nicht Lachen, so doch lächeln. „Ich wollte immer Dinge voranbringen“, sagt er, „wollte nie stehen bleiben. Dazu gehört für mich nicht nur der Sinn für gute Bücher, sondern eben auch der Sinn für gute Zahlen, Verkaufszahlen.“ Und den hat Eck: Seit er vor zehn Jahren die Verlegerische Geschäftsführung übernahm, hat sich die Anzahl der unter dem Dach von Random House zusammengefassten Verlage verdoppelt, ihr Umsatz sogar verdreifacht. Die Quote der Neuerscheinungen ist aber nur um 50 Prozent gestiegen: ein klares Indiz dafür, dass nicht schlicht mehr Titel produziert werden, sondern dass die Auflagen der Titel gesteigert wurden. Eck reiht die Sätze aneinander, wie ein eilig schnurrendes Schweizer Uhrwerk die Sekunden. Wenn man ihm zuhört, ahnt man, welche Schlagzahl er als Chef vorlegt. Vielleicht ist es also rundum folgerichtig, daß gerade Michael Krüger Random House – und damit Eck – vor ein paar Jahren als Plattmacher des deutschen Literaturmarkts angriff. Random House kaufe immer mehr Verlage auf, richte sie auf seichte Unterhaltung aus und verstopfe damit die Buchhandlungen. Für die Titel der wirklich guten, bedeutenden Autoren, bliebe so kein Raum mehr. Es war eine neue Runde im alten Streit zwischen Kunst und Kitsch, zwischen – angeblich – hehrer Dichtung und – angeblich – austauschbarer Massenware. Doch wer in Klaus Eck nur den Buch-Geschäftsmann sieht, den Kommerz-Heini, dem Literatur nichts und Profit alles bedeutet, macht es sich zu leicht. „Auch ich habe mal“, erzählt Eck, „Gedichte geschrieben. Zum 20. Geburtstag machte meine Freundin, spätere Frau, ein Buch daraus. Auflage: 1 Exemplar.“ Kein echter bestseller. „Aber der Ton der Gedichte war von Brecht abgeschaut, der war nicht von mir. Später habe ich an einer Doktorarbeit geschrieben über englisches Drama. Aber es kam mir vor, als würde das Leben immer langsamer, als würde ich stecken bleiben.“ Aus dem befürchteten Stillstand rettete Eck sich in ein Volontariat beim Lübbe Verlag. Vom Buchgeschäft hatte er nicht die geringste Ahnung. „Der Verleger Gustav Lübbe fragte am ersten Tag: Was wollen sie denn bei uns machen?“ Er habe, erzählt Eck, kühn davon gesprochen, einen neuen Thomas Mann entdecken zu wollen. „,Junger Mann´, meinte Lübbe daraufhin zu mir, ,damit Sie gleich was Richtiges lernen, stellen Sie mir erst mal einen Band mit Häschenwitzen zusammen. Die verkaufen sich immer.´“ Seit dieser frühen Lektion ging es für Eck immerzu aufwärts. Nach nur vier Jahren wurde er bereits Cheflektor beim leicht eingestaubten Goldmann Verlag, den er zusammen mit seinem legendären Marketing-Chef Volker Neumann so glänzend aufpolierte, dass ihm Bertelsmann die Verantwortung für noch zwei andere Verlage übertrug. 1996 rückte er dann in die erste Reihe des Konzerns vor und nennt sich seit 2001 Verlegerischer Geschäftsführer der in Random House umbenannten Verlagsgruppe. Doch sein Ehrgeiz galt nie den Bilanzen allein. Den Charme wahrhaft großer Literatur, den er mit Felix Krull entdeckte, hat er nie vergessen. 1998 riskierte er eine Beteiligung am Berlin Verlag, einem literarische hoch ambitionierten Unternehmen, dem es nie an großen Autoren, aber so oft am Glück bei den Lesern fehlte, dass Eck sich 2003 wieder zurückziehen müsste. „Eine große Niederlage“, so Eck. Inzwischen hat er mit Luchterhand, der DVA und Manesse drei andere renommierte Verlage zu Random House geholt, die nicht nur den kulturellen Ruf des Konzerns spürbar gut tun, sondern außerdem den Controllern nur wenig Kopfschmerzen machen. Doch ein Wermutstropfen bleibt: Auch Eck hat Random House nicht in eine Heimat für Schriftsteller verwandeln können, die man heute als die Repräsentanten der Weltliteratur betrachtet. Nachdem er Luchterhand kaufte, verließ Christa Wolf den Verlag. Sie könne nicht zulassen, sagte sie ihm, dass ihre Bücher im selben Haus erscheinen wie die Dieter Bohlens. Den neuen Thomas Mann, von dem Eck als junger Lektor bei Lübbe schwärmte, hat er bis heute nicht entdeckt. Wie leicht verfehlt man sie, die zarten Träume der Jugend. Auf die Frage, ob ihn das aller Karriere-Triumphe zum Trotz schmerzt, stockt das schnurrende Uhrwerk seiner Sätze für einen winzigen Augenblick. Dann sagt er energisch: „Ganz einfache Antwort: Ja. Natürlich schmerzt das. Auch ich wäre gern ein Michael Krüger geworden.“ Wie geht er mit dieser Enttäuschung um? „Ich suche immer noch. Und wenn ich ein besonderes Buch finde, ein herausragendes, dann versuche ich es im Verlag besonders zu fördern. Manchmal, seltenen, erfüllen sich die Blütenträume. Manchmal nicht. Doch wenn nicht, was kann man tun? Nur es erneut zu versuchen.“

Das Porträt erschien im „Focus“ vom 10. Oktober 2011

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Mein Opa, der Kommunist

Komödie oder Tragödie? Oder beides?
Der Roman »In Zeiten abnehmenden Lichts« von Eugen Ruge macht 50 Jahre deutscher Vergangenheit als Familiengeschichte erlebbar und könnte ein großer internationaler Erfolg werden   Das Familienfest endet in einer prachtvollen Katastrophe. Der Patriarch hat Geburtstag und will wie immer bejubelt werden. Er ist Kommunist von Kindesbeinen an, hat gegen die Nazis gekämpft und wird dafür in der DDR zeitlebens als Held gefeiert. Doch dummerweise ist inzwischen der Oktober 1989 angebrochen, es rumort mächtig in Ostberlin, und der einzige Enkel des Jubilars ist schon in den Westen gegangen. Bei den alljährlichen Festvorbereitungen war dieser Enkel allerdings für die Stabilität des großen Familientischs zuständig. Nun fehlen seine technischen Kenntnisse, und als sich während der Feier nach Blumenübergabe und Ansprache des Parteisekretärs einer der Gäste kurz aufs kalte Büfett stützt, passiert mit dem Tisch exakt das, was wenige Wochen später mit dem Staatsapparat der DDR geschehen wird: Er bricht zusammen. Dieses symbolträchtige Geburtstagsfest ist so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt in Eugen Ruges fabelhaftem Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Hier kommen sie alle zusammen: Die Großeltern sind treue Gefolgsleute Stalins, die nicht einmal der Tod eines ihrer Söhne im sowjetischen Gulag vom Glauben an den Kommunismus abbringen konnte. Dazu ihr überlebender zweiter Sohn mitsamt seiner russischen Frau, der als gemäßigt kritischer Historiker in der DDR Karriere machte. Und schließlich die Frau des in den Westen geflohenen Enkels, die zwar mit der Opposition gegen Honeckers Regime sympathisiert, aber dennoch mit ihrem Kind, dem Urenkel, im Osten blieb. Ruge erweist sich mit diesem Buch als großartiger Erzähler. Glänzend gelingt es ihm, das bewegte Schicksal dieser ostdeutschen Familie über 50 Jahre hinweg literarisch zu bändigen. Bislang schrieb er vor allem Theaterstücke und hat dabei offenkundig gelernt, selbst große Stoffmassen spannend zu formen. Bereits vor zwei Jahren wurde er für das damals erst halbfertige Manuskript mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet. Mit der von Günter Grass gestifteten Preissumme von 15 000 Euro konnte Ruge die Arbeit an dem Buch mit der notwendigen Ruhe abschließen. Er ist ein zurückhaltender Mann, der ohne die kleinen Eitelkeiten auskommt, die viele Autoren an den Tag legen, sobald ein Buch von ihnen zum Sprung auf die Bestsellerlisten ansetzt. Schon bevor sein Roman erschien, wurde er für den deutschen Buchpreis nominiert, und Verlage aus sechs Ländern, darunter die USA, sicherten sich die Übersetzungsrechte. Ein internationaler Erfolg kündigt sich an. In den wesentlichen Punkten ist der Roman der Geschichte von Ruges Familie nachempfunden. Seine Großeltern mussten als KPD-Anhänger vor Hitler nach Mexiko ins Exil fliehen. Sein Vater verbrachte Jahre in Stalins Arbeitslagern. Und Ruge selbst verließ die DDR noch vor dem Mauerfall in Richtung Westen. Doch mit Klagen gegen sein Buch wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten muss er dennoch nicht rechnen: „Aus einem einfachen Grund“, sagt er: „Alle, die ich in dem Roman so genau beschreibe, dass sie sich wiedererkennen könnten, sind inzwischen tot.“ Auf den Rat seines Vaters hin hat Ruge in der DDR zunächst Mathematik studiert, ein „ideologiefreies“ Fach, und im Potsdamer Zentralinstitut für Physik gearbeitet. Doch der familiären Leidenschaft für politische Themen entkam auch er nicht. Seit 1985 arbeitete er fürs Fernsehen, und schon drei Jahre später sah er für sich keinen Platz mehr in der DDR. Obwohl ihm die Geschichte seines Romans so nah ist wie keine andere, erzählt Ruge sie mit der Gelassenheit eines alten Meisters. „Die Idee zu dem Buch hatte ich gleich nach der Wende“, berichtet er, „aber mein Versuch, sie aufzuschreiben, misslang, ich hatte noch zu wenig Distanz.“ Gut zehn Jahre später wurde dann eine bedrohliche Krankheit bei Ruge diagnostiziert, und es sah so aus, als bliebe ihm nicht mehr viel Zeit, sein großes Projekt anzugehen. „Vielleicht schreibt man mit einer solchen Diagnose im Hinterkopf anders, reifer. Ich hoffe es. Auf jeden Fall wollte ich die Geschichte nicht verloren geben, ich wollte sie aufheben in literarischer Form. Also fing ich endlich an.“ Glücklicherweise bestätigten sich die Befürchtungen der Ärzte nicht. Dennoch ist es wohl kein Zufall, dass nicht die Politik, sondern die Vergänglichkeit des Lebens die heimliche Hauptrolle in Ruges Roman spielt: Die blutigen Kämpfe der Großeltern mit den Nazis, das endlose Ringen des Vaters um etwas mehr Meinungsfreiheit in der DDR – all das wirkt schon wenige Jahre nach dem Mauerfall so fremd und schwer verständlich, als entstamme es einer fernen Epoche, und hat doch das Leben ganzer Generationen bestimmt, die uns heute noch nah sind. Das große Können Ruges zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er seinem Roman trotz allem keinen melancholischen, sondern oft genug einen heiteren Grundton gibt. Er hat aus seinen Figuren farbige, eigenwillige Charaktere gemacht, die man so schnell nicht wieder vergisst. „Familien sind“, meint Ruge, „ob sie nun aus Ost- oder Westdeutschland kommen, im Grunde ähnlich. Natürlich hat sich in der DDR Politik und Zeitgeschehen oft trennend zwischen die Generationen geschoben. Aber ist das im Westen wirklich anders?“ Und in diesen Missverständnissen zwischen den Generationen, das zeigt Eugen Ruges lebenskluger Roman, steckt eben nicht nur der Stoff für Tragödien, sondern auch der für Komödien.

Der Artikel erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ am 12. September 2011

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Der Anwalt des Lesers

Mit Erzählungen wurde er zu einem der erfolgreichsten Autoren Deutschlands. Jetzt hat Ferdinand von Schirach seinen ersten Roman „Der Fall Collini“ geschrieben. Ein ebenso kluges wie spannendes Buch   Der Roman ist noch keine zwei Seiten alt, da liegt dem Leser bereits eine Leiche vor Augen. In Berlins bestem Hotel hat ein alter Mann einen noch älteren erschossen. „Vier Projektile waren in seinen Hinterkopf eingedrungen, eines hatte sich im Gehirn gedreht, war wieder ausgetreten und hatte das halbe Gesicht weggerissen.“ Aber damit ist der Täter noch immer nicht zufrieden. Er tritt den Kopf des Toten so lange, bis schließlich der Absatz seines Schuhs abreißt. Dann erst fährt er mit dem Lift nach unten, setzt sich in die Hotelhalle und wartet auf die Polizei, die ihn verhaftet. Ferdinand von Schirachs erster Roman „Der Fall Collini“ ist definitiv kein sanftmütiges Buch. Es erzählt eine grimmige, eine unversöhnliche, eine heillose Geschichte. Sie führt, was beim Lebensalter der Beteiligten niemanden überraschen sollte, weit zurück in die Vergangenheit. Collini, der Täter, ist ein riesiger, wortkarger Mann, der wie aus einem anderen Erdzeitalter in unsere Gegenwart hineinstapft, aus einer Epoche, in der Begriffe wie Schuld, Gerechtigkeit oder Buße noch unbezweifelbare Größen waren. Sein Opfer aber ist ein Großindustrieller, ein moderner, hochkultivierter und vielfach leidgeprüfter Mann mit untadeligem Ruf. Von Schirach konstruiert in seinen Büchern gern solche schroffen Gegensätze. Mit den beiden Erzählungsbänden „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) ist er zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren der letzten Jahre geworden. Als er 2010 außerdem noch den renommierten Kleistpreis erhielt, stieg er im Literaturbetrieb schnell auf in den exklusiven Kreis der am missgünstigsten beäugten Schriftsteller. Denn er, der seit Langem ein erfolgreicher Berliner Strafverteidiger ist, machte den deutschen Vollzeitautoren wie im Vorübergehen vor, dass man schon mit einer Handvoll wirklich kluger und präzise gebauter Erzählungen das Herz des Publikums erobern kann. Natürlich hat „Der Fall Collini“ schon wegen seines dramatischen Auftakts etwas von einem Kriminalroman. Doch wie in vielen anderen Geschichten von Schirachs steht auch hier nicht das Verbrechen oder dessen Aufklärung im Vordergrund, sondern die Arbeit der Justiz. Das besondere Talent dieses Schriftstellers ist es, fundamentale Fragen unseres Rechtssystems in überraschende, emotional erschütternde Geschichten zu verwandeln. Kann man Schuld verlässlich messen? Ist sie zu jeder Zeit gleich groß? Oder kann sie zum einen Zeitpunkt fast nicht vorhanden sein, Jahrzehnte später aber erdrückende Dimensionen annehmen? Diese scheinbar spröden rechtsphilosophischen Fragen machen den Kern des neuen Buches aus. Aber von Schirach hat sie mit so viel dramaturgischem Geschick inszeniert, dass sein Roman einen enormen erzählerischen Sog entfaltet. Zudem bringt er eine rechtspolitische Affäre in Erinnerung, durch die ausgerechnet im studentenbewegten Jahr 1968 Schuld von gigantischem Ausmaß mit juristischen Taschenspielertricks zum Verschwinden gebracht wurde. Themen wie diese haben ihn, sagt von Schirach, von Jugend an beschäftigt. Sein Großvater Baldur von Schirach zählte zu den frühesten Anhängern Hitlers, wurde zum Reichsjugendführer ernannt und schließlich im Nürnberger Prozess zu 20 Jahren Haft wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt. „Wenn Sie mit einem Namen wie meinem aufwachsen, müssen Sie sich spätestens mit 15 oder 16 Jahren sehr grundsätzliche Fragen stellen und zu grundsätzlichen Antworten kommen, mit denen Sie leben können. Das ist Ihre Verantwortung. Und die Antworten, die man findet, dürfen nicht hasserfüllt, sondern müssen vernünftig sein, sonst sind sie auf Dauer nicht tragfähig.“ Beim Schreiben am „Fall Collini“ sind offenkundig Erinnerungen Ferdinand von Schirachs an seinen Großvater in die Figur des ermordeten Großindustriellen eingeflossen: „Man kann als Schriftsteller ja nur auf die eigenen Erfahrungen zurückgreifen“, sagt von Schirach, „Ferien vom Ich gibt es nicht, auch dann nicht, wenn man am Schreibtisch sitzt.“ Doch sobald man Genaueres von ihm wissen will, wechselt er das Thema. Die Fragen, die seine spezifische Familiengeschichte aufwerfen, sind ihm zu persönlich, als dass er sie in Interviews abhandeln möchte. Zudem weiß er wohl, wie leicht Auskünfte über das Verhältnis zu seinem Großvater als Versuch ausgelegt werden könnten, die Vergangenheit dieses Mannes öffentlich auszuschlachten, um sich selbst ins Gespräch zu bringen. Bis heute ist von Schirach, trotz seines Erfolgs, nicht wirklich im Milieu der Schriftsteller angekommen, nicht zu einem Teil des Literaturbetriebs geworden. „An meinem Freundeskreis hat sich nichts geändert. An meiner Arbeit auch nicht“, sagt er und klingt zufrieden: „Ich übernehme weiterhin nur wenige Mandate, damit ich mich auf die Fälle konzentrieren kann. Das alles ist so geblieben, wie es seit Jahren ist. Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, Menschen vor Gericht zu verteidigen, und ich kann mir nicht vorstellen, das zu ändern.“ Im neuen Roman setzte von Schirach speziell der Berliner Justiz ein kleines literarisches Denkmal. Er beschreibt das Gebäude des Kriminalgerichts in Moabit, beschreibt dessen 30 Meter hohe, spektakuläre Halle, dazu die endlosen Flure und Treppenhäuser. Die Architektur zielt darauf, den Angeklagten und Zeugen die Macht der Gerichte geradezu körperlich vor Augen zustellen. Sicher, der Roman hat auch ein paar Schwächen. Manches wirkt ein wenig zu glatt, zu gradlinig konstruiert. Auch die Liebesgeschichte, die von Schirach in die Handlung eingeflochten hat, ist nicht immer überzeugend: Seine Fähigkeit, literarische Bilder der Einsamkeit zu beschwören, ist deutlich größer als die, glaubwürdige Bilder der Zweisamkeit zu finden. Doch das sind Beckmessereien. Dieser Schriftsteller ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur heute: Ein Mann, dessen Kenntnisse und Lebenserfahrung weit über den Literaturbetrieb hinausgehen, der glänzend zu erzählen versteht und frei ist von jener maßlosen Selbstbesessenheit vieler deutscher Autoren, die deren Bücher oft so unendlich fade macht.

Der Artikel erschien im „Focus“ vom 5. September 2011

Ferdinand von Schirach: „Der Fall Collini“. Roman Piper Verlag, München 2011 208 Seiten, 16,99 Euro ISBN 978-3-4920-54751

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Die öffentliche Frau

Was ist das Erfolgsgeheimnis von Charlotte Roche?

In ihrem neuen Roman ist oft von Sex die Rede, aber viel häufiger noch von Schuld und Angst. Wie wird aus diesem Stoff ein Bestseller?   Charlotte Roche ist gleich mehrfache Rekordhalterin. Seit Jahren, nein: seit Jahrzehnten erzielte kein deutscher Erstlingsroman so hohe Verkaufszahlen wie ihre „Feuchtgebiete“: knapp zwei Millionen. Kein anderes Debüt stand in dieser Zeit so lange ununterbrochen auf Platz eins der Bestsellerlisten wie ihres: 30 Wochen. Und noch nie war die Startauflage eines deutschen Romans so hoch wie jetzt die von Roches zweitem Buch, „Schoßgebete“: 500 000 Exemplare. Doch nur eine Woche nach Erscheinen musste der Verlag schon nachdrucken: noch einmal 100 000 Exemplare. Eine triumphale Bilanz. Was nicht heißt, Roche sei beruflich immer nur von Erfolg zu Erfolg geeilt. Populär und preisgekrönt wurde sie als Moderatorin der Musiksendung „Fast Forward“. Nachdem die aber 2004 den Quotentod gestorben war, scheiterten alle folgenden TV-Projekte: Drei eigene Sendereihen floppten, und ihr Engagement als Talkerin an der Seite von Giovanni di Lorenzo fand ein frühes Ende. Im Grunde ist Charlotte Roches Autorenkarriere das strahlende Comeback eines nahezu abgehalfterten Fernsehstars, für den es auf dem Bildschirm keinen Platz mehr zu geben schien. Doch was ist das Geheimnis ihres literarischen Erfolgs? „Feuchtgebiete“ konnte man noch als Zufallstreffer abtun, als erstaunlich witzige und marktgängige Mixtur aus Teenie-Sex, mangelnder Körperhygiene und Scheidungskind-Tragödie. Der Siegeszug von „Schoßgebete“ dagegen lässt sich weitaus schwerer erklären. Zwar spielt Sex auch hier eine Hauptrolle, zwar gibt es auch hier komische Momente, aber letztlich erzählt das Buch die todtraurige Geschichte eines zerstörten Lebens. So etwas findet man selten auf den Spitzenplätzen der Sellerlisten. Sicher, der Roman reizt die Sensationsgier. Charlotte Roche lässt ihrer Heldin Elizabeth Kiehl, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht, den gleichen Schicksalsschlag widerfahren, der auch ihr Leben überschattet: Auf dem Weg zu ihrer Hochzeit in England sterben ihre drei Brüder bei einem Autounfall, und ihre Mutter wird schwer verletzt. Doch nicht die Katastrophe selbst steht im Mittelpunkt der Geschichte, sondern die Spuren, die sie in Elizabeths Seelenleben hinterlässt. Was tut ein Mensch, wenn er von bleischwerer Schuld gequält wird? Was tut er, wenn ihn diese Schuld in panische Angst versetzt? Genau das ist es, wovon der Roman vor allem erzählt: Elizabeth fühlt sich schuldig am Tod ihrer Brüder. Wegen ihrer Hochzeit brachen sie nach England auf. Wegen ihres Hochzeitskleids, das im Flugzeug nicht faltenlos zu transportieren war, fuhren sie mit dem Auto – in dem sie dann starben. Nicht gerade das Thema, aus dem üblicherweise literarische Massenerfolge gestrickt werden. Angesichts drückender Schuldgefühle haben fromme Menschen seit Jahrhunderten die Möglichkeit, vor ihren Gott zu treten und um Vergebung zu flehen. Aber Menschen ohne Glauben, zu denen Elizabeth sich ebenso zählt wie Charlotte Roche und mit ihnen heutzutage Millionen andere, bleiben allein mit ihrer Verzweiflung. Dies ist das heimliche Angebot zur Identifikation mit ihrer Heldin, das Roche in „Schoßgebete“ macht, obwohl doch diese Hauptfigur so überdreht, neurotisch und sexbesessen auftritt, dass sich sonst wohl kaum ein Leser mit ihr würde identifizieren wollen. Systematisch geht das Buch die typischen Wege für den Umgang mit Schuld und Angst einer religionsfernen Gesellschaft durch. Die Psychotherapie zum Beispiel, die Elizabeth dreimal wöchentlich besucht. Oder die weltlichen Ersatzreligionen wie den Umweltschutz, dem sie sich mit glühend-gläubigem Fanatismus verschreibt. Oder ihr Zorn auf manche Boulevard-Medien, der sie so angenehm von ihrem Erinnerungsschmerz ablenkt. Und schließlich der Sex, mit dem sie wie durch eine Droge ihre Befürchtungen und Selbstvorwürfe wenigstens vorübergehend zu betäuben versucht. Das wichtigste Instrument der Kirche zur Befreiung von Schuldgefühlen ist wohl die Beichte. Auch Elizabeth kann auf sie in ihrer Seelennot nicht verzichten. Allerdings legt sie – und mit ihr Charlotte Roche – ihre Beichte nicht vor einem Geistlichen ab, sondern vor der höchsten Instanz die unsere Mediengesellschaft kennt: vor der Öffentlichkeit, vor den Lesern. Zugegeben, der Roman „Schoßgebete“ ist kein literarisches Meisterwerk und Roche keine Sprachartistin. Sie lässt ihre Heldin daherschwallen wie ein Mensch, der offenkundig zu viele Musiksendungen gesehen hat und das Geplapper der Moderatorinnen dort für gutes Deutsch hält. Aber das Buch führt jene unerlösten Schuld- und Angstgefühle vor, die gerade in wohlhabenden und wenig gottesfürchtigen Gesellschaften wie Epidemien um sich greifen – die Angst, den erreichten Wohlstand wieder zu verlieren, und die feine, oft unbewusste Ahnung von Schuld angesichts der vielen anderen, denen es schlechter geht als einem selbst. Natürlich, Charlotte Roche übertreibt die Panik ihrer Hauptfigur Elizabeth ins Maßlose. Aber radikale Übertreibung der realen Verhältnisse war schon immer eine wichtige und Erfolg versprechende Strategie der Literatur, denn Übertreibung macht das Verborgene sichtbar. Das Geschick, mit dem Charlotte Roche ihre Geschichte zudem mit Sexszenen garniert, tut das ihre, die Leser bei der Stange zu halten. Obwohl all das, was sie dort beschreibt, so gut wie nichts ist gegen das, was im Internet nur wenige Mausklicks entfernt jedermann jederzeit zur Verfügung steht. Wenn Christo ein genialer Verhüllungskünstler war, darf man Charlotte Roche vielleicht eine gewiefte Enthüllungskünstlerin nennen. Sie breitet ihr persönliches Lebensdrama vor aller Öffentlichkeit aus, indem sie es von der Kunstfigur Elizabeth so erzählen lässt, dass sich die verblüffte Öffentlichkeit ein wenig darin wiedererkennen kann. Sie liefert sich der Zudringlichkeit der Medien aus und schützt sich zugleich vor ihnen, indem sie Elizabeth wie einen Schild vor sich hält. Das Resultat ist kein Kunstwerk, aber dafür ein beachtliches Kunststück.

Der Artikel erschien im „Focus“ vom 29. August 2011

Charlotte Roche: „Schoßgebete“. Roman Piper Verlag, München 2011 283 Seiten, 16,99 Euro ISBN 978-3-492-05420-1

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Der Mönch, der Dichter und der Tod

 Was darf die Literatur?

Albert Ostermaier erzählt in seinem neuen Roman von einem selbst erlebten Medizinkrimi. Beteiligt ist ein Geistlicher. Als Vorbild lässt sich unschwer Notker Wolf identifizieren, das Oberhaupt des Benediktinerordens   Wo verläuft die Grenze zwischen Literatur und Leben? Leicht war diese Frage nie zu beantworten, und manchmal führt sie bis vor höchste Gerichte. 2007 billigte das Bundesverfassungsgericht das Verbot des Romans „Esra“. Der Autor Maxim Biller, 50, hatte die Titelheldin seines Buches nach Ansicht der Juristen allzu genau einer Ex-Freundin nachgestaltet und sie durch die Beschreibung zahlreicher Sexszenen in ihrer Intimsphäre verletzt. In diesen Tagen erscheint nun der Roman „Schwarze Sonne scheine“ des Münchner Schriftstellers Albert Ostermaier. Er könnte den Stoff liefern für die nächste Runde im Streit um die Frage, was die Literatur darf und was ihr verboten ist, sobald sie reale Personen erkennbar schildert. Zusätzliche Brisanz erhält der Fall, weil ein prominenter Gottesmann beteiligt scheint: Abtprimas Notker Wolf, 70, der höchste Repräsentant des Benediktinerordens weltweit. Ostermaier, 43, ist kein Unbekannter: Mit dem Kleist- und dem Brecht-Preis erhielt er bedeutende literarische Auszeichnungen, seine Stücke werden an einigen der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen gespielt. In seinem neuen Roman erzählt er von einem angehenden Schriftsteller, der ihm selbst in vielen Punkten zum Verwechseln ähnlich ist. Anfang der 90er-Jahre hat der junge Mann erste Gedichte geschrieben und träumt von literarischem Ruhm. Doch nach einer überstandenen Krankheit drängt ihn ein väterlicher Freund, der zugleich Abt des nahe gelegenen Benediktinerklosters ist, zu einer gründlichen Nachuntersuchung. Der Geistliche verfügt über beste medizinische Kontakte und empfiehlt eine „geniale Ärztin“, eine „Virologin am Max-Planck-Institut“. Ihr vertraut sich der Nachwuchsdichter tatsächlich an, und das Ergebnis der Untersuchung ist niederschmetternd: Ein heimtückisches Virus hat ihn befallen, er wird in spätestens sechs Monaten tot sein, wenn er nicht sofort mit der Virologin zu einer Spezialtherapie nach Atlanta/USA aufbricht. Möglicherweise ist eine Lebertransplantation nötig. Die Hiobsbotschaft versetzt den jungen Autor in Panik, dennoch besteht er auf einer Kontrolluntersuchung durch einen weiteren Mediziner. Doch die braucht Zeit, wochenlang schwebt die bedrohliche Diagnose wie ein Todesurteil über dem Dichter. Schließlich stellt sich zweierlei heraus: Der junge Mann ist kerngesund und die angebliche Virologin gar keine Ärztin, sondern eine Möchtegern-Medizinerin, die ihr Studium nach dem sechsten Semester abgebrochen hat. In ein ungünstiges Licht gerät damit allerdings auch jener väterliche Freund, der die vermeintliche Ärztin und Virologin empfahl – zumal er ihr bereits etliche Klosterbrüder als Patienten zuführte und nach ihrer Entlarvung nicht juristisch gegen sie vorgeht. So weit der Roman. In ihm hat Ostermaier diesem Geistlichen den Namen Silvester gegeben. Doch in einem Kapitel beschreibt er ihn näher, vor allem seine Neigung zu öffentlichkeitswirksamen Auftritten: Er werde, heißt es, „der rockende Abt“ genannt, da er gelegentlich in Mönchskutte mit einer Hard-Rock-Gruppe auftritt und auf der Querflöte Songs wie „Locomotive Breath“ von Jethro Tull spielt. Der Hinweis ist deutlich: Notker Wolfs Auftritte als „rockender Abt“ mit der Gruppe Feedback sind von Kirchentagen und aus Talkshows bekannt. Sein Querflöten-Solo zu „Locomotive Breath“ ist auf YouTube abrufbar. Zudem gibt es Verbindungen zwischen Ostermaier und Wolf. Wer ihre Namen gemeinsam googelt, stellt fest, dass beide Absolventen derselben Schule sind: des Rhabanus-Maurus-Gymnasiums im oberbayerischen St. Ottilien, das lange vom dortigen Benediktinerkloster getragen wurde. Im Fall des verbotenen Romans „Esra“ war es ähnlich: Autor Maxim Biller hatte über seine Heldin im Buch geschrieben, sie habe als junge Türkin einen deutschen Filmpreis erhalten. Mit diesen Angaben war über das Internet ihre Identität problemlos zu ermitteln. Dass Leser kaum je auf die Idee kommen, denkbaren Vorbildern für Romanfiguren per Suchmaschine auf die Spur zu kommen, konnte die Verfassungsrichter bei ihrer Entscheidung nicht beirren. Ihrer Ansicht nach reicht es bereits aus, wenn nur der engste Bekanntenkreis der Betroffenen sie im Roman wiederzuerkennen vermag. In diesem Sinne kann an der Identifizierbarkeit Notker Wolfs in Ostermaiers Roman wenig Zweifel bestehen. Dennoch hat das Buch vermutlich gute Chancen, juristisch unbehelligt zu bleiben. Denn für ein Verbot müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Eine reale Figur wird erkennbar geschildert, und sie wird durch die Darstellung im Buch in ihren Persönlichkeitsrechten schwerwiegend verletzt. Doch der Autor Ostermaier hält sich im Roman bei allen Spekulationen darüber, welche Art von Verbindungen zwischen der Scheinmedizinerin und dem musizierenden Gottesmann bestehen könnte, auffällig zurück. Sein jugendlicher Held setzt hinter jede Vermutung über die Rolle des Geistlichen bei dem obskuren Zwischenfall immer wieder Fragezeichen. Die Motive des Klostervorstands bleiben damit in der Schwebe. Mehr noch, Ostermaier schreibt über den Abt sogar ausdrücklich: „Hundertprozentig hatte er keine Pläne entworfen und dann den Gewinn geteilt oder abgerechnet, so war er nicht.“ Und die Überlegung, die Hochstaplerin und der Klosterchef hätten sich vielleicht als Herren über Leben und Tod der angeblich sterbenskranken Patienten gefühlt, gibt Ostermaier als Entwurf zu einem Thriller-Drehbuch aus, der seinem jungen Romanhelden durch den Kopf schießt. Also als eine Fiktion innerhalb der Fiktion des Romans. Dagegen juristisch vorzugehen dürfte schwer sein. Offenbar hat sich Ostermaier bei der Arbeit an seinem Roman rechtlich eingehend beraten lassen. Nach dem „Esra“-Urteil wurde gelegentlich die Befürchtung geäußert, künftig würden in den Verlagen nicht mehr nur die Lektoren, sondern auch die Anwälte über die Form entscheiden, in der Romane erscheinen. Ostermaiers „Schwarze Sonne scheine“ könnte dafür ein guter Beleg werden. Der Artikel erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 16. Mai 2011 Albert Ostermaier: „Schwarze Sonne scheine“. Roman Suhrkamp Verlag, Berlin 2011 288 Seiten, 22,90 Euro ISBN 978-3-516-42220-5

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