Was ist das Erfolgsgeheimnis von Charlotte Roche?
In ihrem neuen Roman ist oft von Sex die Rede, aber viel häufiger noch von Schuld und Angst. Wie wird aus diesem Stoff ein Bestseller? Charlotte Roche ist gleich mehrfache Rekordhalterin. Seit Jahren, nein: seit Jahrzehnten erzielte kein deutscher Erstlingsroman so hohe Verkaufszahlen wie ihre „Feuchtgebiete“: knapp zwei Millionen. Kein anderes Debüt stand in dieser Zeit so lange ununterbrochen auf Platz eins der Bestsellerlisten wie ihres: 30 Wochen. Und noch nie war die Startauflage eines deutschen Romans so hoch wie jetzt die von Roches zweitem Buch, „Schoßgebete“: 500 000 Exemplare. Doch nur eine Woche nach Erscheinen musste der Verlag schon nachdrucken: noch einmal 100 000 Exemplare. Eine triumphale Bilanz. Was nicht heißt, Roche sei beruflich immer nur von Erfolg zu Erfolg geeilt. Populär und preisgekrönt wurde sie als Moderatorin der Musiksendung „Fast Forward“. Nachdem die aber 2004 den Quotentod gestorben war, scheiterten alle folgenden TV-Projekte: Drei eigene Sendereihen floppten, und ihr Engagement als Talkerin an der Seite von Giovanni di Lorenzo fand ein frühes Ende. Im Grunde ist Charlotte Roches Autorenkarriere das strahlende Comeback eines nahezu abgehalfterten Fernsehstars, für den es auf dem Bildschirm keinen Platz mehr zu geben schien. Doch was ist das Geheimnis ihres literarischen Erfolgs? „Feuchtgebiete“ konnte man noch als Zufallstreffer abtun, als erstaunlich witzige und marktgängige Mixtur aus Teenie-Sex, mangelnder Körperhygiene und Scheidungskind-Tragödie. Der Siegeszug von „Schoßgebete“ dagegen lässt sich weitaus schwerer erklären. Zwar spielt Sex auch hier eine Hauptrolle, zwar gibt es auch hier komische Momente, aber letztlich erzählt das Buch die todtraurige Geschichte eines zerstörten Lebens. So etwas findet man selten auf den Spitzenplätzen der Sellerlisten. Sicher, der Roman reizt die Sensationsgier. Charlotte Roche lässt ihrer Heldin Elizabeth Kiehl, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht, den gleichen Schicksalsschlag widerfahren, der auch ihr Leben überschattet: Auf dem Weg zu ihrer Hochzeit in England sterben ihre drei Brüder bei einem Autounfall, und ihre Mutter wird schwer verletzt. Doch nicht die Katastrophe selbst steht im Mittelpunkt der Geschichte, sondern die Spuren, die sie in Elizabeths Seelenleben hinterlässt. Was tut ein Mensch, wenn er von bleischwerer Schuld gequält wird? Was tut er, wenn ihn diese Schuld in panische Angst versetzt? Genau das ist es, wovon der Roman vor allem erzählt: Elizabeth fühlt sich schuldig am Tod ihrer Brüder. Wegen ihrer Hochzeit brachen sie nach England auf. Wegen ihres Hochzeitskleids, das im Flugzeug nicht faltenlos zu transportieren war, fuhren sie mit dem Auto – in dem sie dann starben. Nicht gerade das Thema, aus dem üblicherweise literarische Massenerfolge gestrickt werden. Angesichts drückender Schuldgefühle haben fromme Menschen seit Jahrhunderten die Möglichkeit, vor ihren Gott zu treten und um Vergebung zu flehen. Aber Menschen ohne Glauben, zu denen Elizabeth sich ebenso zählt wie Charlotte Roche und mit ihnen heutzutage Millionen andere, bleiben allein mit ihrer Verzweiflung. Dies ist das heimliche Angebot zur Identifikation mit ihrer Heldin, das Roche in „Schoßgebete“ macht, obwohl doch diese Hauptfigur so überdreht, neurotisch und sexbesessen auftritt, dass sich sonst wohl kaum ein Leser mit ihr würde identifizieren wollen. Systematisch geht das Buch die typischen Wege für den Umgang mit Schuld und Angst einer religionsfernen Gesellschaft durch. Die Psychotherapie zum Beispiel, die Elizabeth dreimal wöchentlich besucht. Oder die weltlichen Ersatzreligionen wie den Umweltschutz, dem sie sich mit glühend-gläubigem Fanatismus verschreibt. Oder ihr Zorn auf manche Boulevard-Medien, der sie so angenehm von ihrem Erinnerungsschmerz ablenkt. Und schließlich der Sex, mit dem sie wie durch eine Droge ihre Befürchtungen und Selbstvorwürfe wenigstens vorübergehend zu betäuben versucht. Das wichtigste Instrument der Kirche zur Befreiung von Schuldgefühlen ist wohl die Beichte. Auch Elizabeth kann auf sie in ihrer Seelennot nicht verzichten. Allerdings legt sie – und mit ihr Charlotte Roche – ihre Beichte nicht vor einem Geistlichen ab, sondern vor der höchsten Instanz die unsere Mediengesellschaft kennt: vor der Öffentlichkeit, vor den Lesern. Zugegeben, der Roman „Schoßgebete“ ist kein literarisches Meisterwerk und Roche keine Sprachartistin. Sie lässt ihre Heldin daherschwallen wie ein Mensch, der offenkundig zu viele Musiksendungen gesehen hat und das Geplapper der Moderatorinnen dort für gutes Deutsch hält. Aber das Buch führt jene unerlösten Schuld- und Angstgefühle vor, die gerade in wohlhabenden und wenig gottesfürchtigen Gesellschaften wie Epidemien um sich greifen – die Angst, den erreichten Wohlstand wieder zu verlieren, und die feine, oft unbewusste Ahnung von Schuld angesichts der vielen anderen, denen es schlechter geht als einem selbst. Natürlich, Charlotte Roche übertreibt die Panik ihrer Hauptfigur Elizabeth ins Maßlose. Aber radikale Übertreibung der realen Verhältnisse war schon immer eine wichtige und Erfolg versprechende Strategie der Literatur, denn Übertreibung macht das Verborgene sichtbar. Das Geschick, mit dem Charlotte Roche ihre Geschichte zudem mit Sexszenen garniert, tut das ihre, die Leser bei der Stange zu halten. Obwohl all das, was sie dort beschreibt, so gut wie nichts ist gegen das, was im Internet nur wenige Mausklicks entfernt jedermann jederzeit zur Verfügung steht. Wenn Christo ein genialer Verhüllungskünstler war, darf man Charlotte Roche vielleicht eine gewiefte Enthüllungskünstlerin nennen. Sie breitet ihr persönliches Lebensdrama vor aller Öffentlichkeit aus, indem sie es von der Kunstfigur Elizabeth so erzählen lässt, dass sich die verblüffte Öffentlichkeit ein wenig darin wiedererkennen kann. Sie liefert sich der Zudringlichkeit der Medien aus und schützt sich zugleich vor ihnen, indem sie Elizabeth wie einen Schild vor sich hält. Das Resultat ist kein Kunstwerk, aber dafür ein beachtliches Kunststück.
Der Artikel erschien im „Focus“ vom 29. August 2011
Charlotte Roche: „Schoßgebete“. Roman Piper Verlag, München 2011 283 Seiten, 16,99 Euro ISBN 978-3-492-05420-1