Engel des Vergessens

Laudatio zur Verleihung des Buchpreises der Stiftung Ravensburger an Maja Haderlap am 21. November 2011 in Berlin

Mein Damen und Herren, der erste Roman Maja Haderlaps hat eine Neigung zum Paradox. Er trägt den Titel „Engel des Vergessens“, handelt aber vom Erinnern. Er berichtet von den Kärntner Slowenen, die gegen Hitler kämpften und siegten, sich aber wie Verlierer fühlen mussten. Er erzählt von dem Glück, nach dem Ende des Krieges geboren zu sein, und zugleich von dem Unglück, unentrinnbar im Schatten dieses Krieges leben zu müssen. Es ist der Roman einer Frau, die zur späten Gefangenen einer Vergangenheit wird, die nicht vergehen will, und doch auch der Roman einer Befreiung dieser Frau aus dem Gefängnis der Vergangenheit, eben weil sie die Kraft gefunden hat, diesen Roman zu schreiben. Vielleicht darf man Maja Haderlaps Buch im Sinne dieser Paradoxien auch einen paradoxen Familienroman nennen. Denn Maja Haderlap färbt nichts schön in diesem Buch, sie täuscht ihre Leser nicht hinweg über die Spuren der Zerstörung, die durch die mörderischen Übergriffe der Nazis in ihre Familie hineingetragen wurden. Sie verschweigt nicht die tiefe Verstörung ihres Vaters, nicht die Rivalität zwischen Großmutter und Mutter, nicht die Fremdheit, mit der sich Vater und Mutter begegnen. Und doch lässt der Roman keinen Zweifel daran, dass die Familie das Zentrum ist, aus dem heraus die Menschen leben, die hier beschrieben werden, dass die Familie für sie die alles überwölbende Ordnung ist, in der sie sich aufgehoben fühlen. Zu Beginn des Romans lernen wir die Erzählerin als kleines Mädchen kennen, das fast buchstäblich am Rockzipfel der Großmutter hängt. Die Welt um sie herum scheint in geradezu archaischer Ländlichkeit zu ruhen, das Leben folgt dem Rhythmus der Jahreszeiten. Die Großmutter redet dem Holunderbusch gut zu, damit er früher blüht, sie vermag mit ihren Speisen Wunden zu heilen oder Krankheiten auszulösen, und sie backt Brot nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten. Fast glaubt man, als Leser im Märchen gelandet zu sein. Doch sehr bald schon mischt sich ein feiner Unterton der Gefährdung in die sinnliche Beschwörung des Idylls. Maja Haderlap zeigt, wie die Realität mit ihren bitteren Wahrheiten einbricht in das Wunderland dieser Kärntner Kindheit: Ihre Großmutter, so begreift die Enkelin nach und nach, wurde von den Nazis ins KZ Ravensbrück verschleppt, ihr Großonkel kam in Dachau um, ihr Vater wurde als Kind gefoltert, damit er den Großvater verrate, der als Partisan einen schier hoffnungslosen Kampf gegen Hitlers Truppen kämpfte. An keinem Menschen, so muss das Mädchen mit den Jahren erkennen, gehen solche Erfahrungen spurlos vorüber. Großmutter und Vater sind schwer traumatisiert, die eine hält eisern fest an der Macht, die sie in ihrer Familie ausübt, der andere ist so tief in Angst erstarrt, dass er nur in cholerischen Ausfällen die Kraft findet, sich kurz von ihr zu befreien. Die besondere literarische Leistung Maja Haderlaps liegt nicht zuletzt darin, für das allmählich sich ausbildende historische Bewusstsein ihrer Heldin eine ebenfalls allmählich sich wandelnde, schrittweise reflektierter werdende und deshalb immer angemessene Sprache gefunden zu haben. In einer Familie, die über ihre Vergangenheit spricht, wird Geschichte als erlebte Erfahrung weitergegeben. Wenn diese Geschichte friedlos und grausam war, können auch die weitergegebenen Erfahrungen nicht heiter und unbeschwert sein. Maja Haderlap beschreibt in ihrem Roman die Familie als generationsübergreifende Erfahrungsgemeinschaft. Sie führt dem Leser vor, wie sehr die Einfühlung in Familienmitglieder und deren Vergangenheit das historische Bewusstsein eines heranwachsenden Menschen formt. Das Kind beginnt mit dem Wissen um das Leiden von Großmutter und Vater nicht nur die eigene Familie mit anderen Augen zu sehen, sondern auch seine Mitmenschen und sogar die Landschaft, vor allem den Wald, in dem seinerzeit die Partisanen kämpften. Mit anderen Worten: Maja Haderlaps „Engel des Vergessens“ ist vieles zugleich. Es ist der Roman einer Kindheit auf dem Kärnter Land. Es ist die Geschichte eines Mädchens und dann einer jungen Frau, die lernt, in der Gegenwart ihrer Heimat deren finstere Vergangenheit wiederzuentdecken. Es ist damit auch so etwas wie ein Entwicklungsroman. Vor allem aber ist es in meinen Augen der Roman einer Familie, die ankämpft gegen die Folgen des Unrechts, das ihr in den Nazi-Jahren angetan wurde, und die sich gerade in diesem gemeinsamen Kampf als Familie erweist. Ich gratuliere Maja Haderlap sehr herzlich zum Buchpreis der Stiftung Ravensburger.

Die Laudatio wurde bei der Preisverleihung am 21. November 2011 in Berlin gehalten.

Maja Haderlap: „Engel des Vergessens“. Roman Wallstein Verlag, Göttingen 2011 287 Seiten, 18,90 Euro

ISBN 978-3835309531

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