Am 27. Januar 2012 sprach Marcel Reich-Ranicki im Bundestag über den Holocaust. Eine Zugfahrt mit dem literarischen Beichtvater der Deutschen. Reportage von Uwe Wittstock
Er ist die Ruhe selbst. Marcel Reich-Ranicki zeigt keine Spur von Nervosität auf dem Weg zu Frankfurter Bahnhof, obwohl er sich aufmacht zu der bedeutendsten Rede seines Lebens. Der bedeutendsten Rede zumindest nach gewöhnlichen Maßstäben. Der Deutsche Bundestag hat Marcel Reich-Ranicki gebeten, am Holocaust-Gedenktag über die Verbrechen der Deutschen zu sprechen. Als einer der letzten lebenden Zeitzeugen des millionenfachen Massenmords soll nicht nur die Abgeordneten, sondern letztlich das ganze Land an die deutschen Verbrechen erinnern. Vielleicht wird es bedeutendste Rede seines Lebens werden, aber sicher nicht die wichtigste. Die hat er längst gehalten, vor fast genau siebzig Jahren in Warschau. Auch damals im Herbst 1942 war er auf dem Weg zu einem Bahnhof – zu dem „Umschlagplatz“ genannten Höllenort im Warschauer Ghetto. Von dort gingen die Züge ab, die direkt in die Gaskammern von Treblinka führten. Über 300.000 Menschen wurden so in nur sieben Wochen viehisch ermordet. Damals war Reich-Ranicki nicht die Ruhe selbst, er rannte. Soldaten hatten seine Frau Tosia, gerade 22 Jahre alt, auf den „Umschlagplatz“ verschleppt. Jederzeit konnte der nächste Zug in die Vernichtung abfahren. Reich-Ranicki fand den Kommandanten der jüdischen Miliz, der Aufsicht führte über den Wartesaal des Todes. Nur für ihn als einzigem Zuhörer hielt Reich-Ranicki die tatsächlich wichtigste Rede seines Lebens, aus dem Stegreif, ohne Vorbereitung – und fand Worte, die den Mann überzeugten. SS-Leute waren nicht in der Nähe, so konnte der Kommandant es wagen, Tosia freizulassen, zurück ins Ghetto, zurück ins Leben. Wer einmal eine solche Rede halten musste, der hat vielleicht die Fähigkeit verloren, vor Ansprachen nervös zu sein. Auf dem Frankfurter Bahnhof, sieben Jahrzehnte und eine beispiellose Karriere als Kritiker später, sind sein Sohn Andrew und seine Schwiegertochter Ida bei ihm. Sie helfen dem 91jährigen in den ICE, die Stufen sind für ihn beschwerlich hoch. Die Familie hat ein Abteil reserviert, ein befreundeter Arzt, der Reich-Ranicki schon seit Jahren behandelt, begleitet sie. Er ist spürbar froh, den erfahrenen Mediziner bei sich zu haben. Aber Tosia fehlt, fehlt für immer, sie starb im vergangenen Mai nach nicht weniger als 69 Jahren Ehe. Es ist eine bemerkenswerte Erfahrung, mit Marcel Reich-Ranicki in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein. Er wird erkannt, gegrüßt oder angesprochen wie andere Prominente auch. Doch bei ihm kommt noch etwas hinzu: Fremde fühlen sich durch die Begegnung mit ihm auf offener Straße zu einer Art kultureller Selbstprüfung angeregt. Sie gehen auf ihn zu, schütteln seine Hand und legen Rechenschaft ab, was und wie viel sie gelesen haben. Reich-Ranicki ist zum literarischen Beicht- und Übervater der Nation herangewachsen. „Ihre Artikel, Ihre Rezensionen haben mir immer viel bedeutet“, sagt ein Herr mit Koffer auf dem Bahnsteig. Welche Rolle Reich-Ranicki im Bewusstsein vieler Leser einnimmt, war an seinem 85. Geburtstag zu erleben. Frankfurt feierte ihn in der Paulskirche, ihrem geschichtsträchtigsten Ort. Als Reich-Ranicki vorfuhr und aus dem Wagen stieg, zog gerade das endlose Band einer Studentendemonstration vorüber. Die jungen Leute protestierten gegen die Gebühren an den Universitäten. Die Studenten erkannten Reich-Ranicki sofort. Sie wussten, dass er Geburtstag hatte. Sie hörten für den Moment auf, ihre Protestparolen zu skandieren, und stimmten ein fröhliches „Happy birthday to you“ für ihn an. Kaum hat der ICE den Bahnhof verlassen, meldet sich Reich-Ranickis legendäre Ungeduld: „Mein Gott, der Zug fährt erbärmlich langsam.“ Dann, 50 Kilometer weiter, mit einem verzweifelten Blick aus dem Fenster: „Es passiert ja nichts!“ Hinter Fulda: „Es ist so langweilig.“ Hinter Wolfsburg: „Nichts los. Wie in Sibirien.“ Sohn Andrew versucht, beruhigend zu widersprechen: „Nein, Sibirien ist schlimmer.“ Worauf sich Reich-Ranicki bei seinem Arzt über den Sohn beklagt: „Er weiß alles besser.“ Gesprächsthemen werden gesucht, um den anspruchsvollen Reisenden zu unterhalten. Mit seinem Sohn, Mathematikprofessor in Edinburgh, spricht er gelegentlich polnisch, seine Schwiegertochter, die in Amerika geboren wurde, antwortet auf Englisch. Ob Bundespräsident Christian Wulff wegen seiner Affäre zurücktreten solle? „Natürlich“, sagt Reich-Ranicki sofort, „er muss unbedingt zurücktreten.“ Was in seinen Augen der entscheidende Fehler Wulffs sei? Reich-Ranicki zögert kurz, bevor er gewohnt entschieden antwortet: „Wulff hat offenbar zu hohe finanzielle Ansprüche, um als Politiker unabhängig zu sein.“ Am nächsten Tag im Parlament wird Christian Wulff neben ihm sitzen und ihn zum Rednerpult begleiten. Irgendwann bei Göttingen holt der Sohn eine leere Ringbuchmappe aus dem Koffer, die seine Frau noch kurz vor der Abreise gekauft hat. Gemeinsam mit seinem Vater heftet er das Redemanuskript ein. „Damit die Seiten nicht durcheinandergeraten können“, erklärt Andrew Ranicki. Die Vorbereitungen für diese besondere Rede bekommen nun doch eine feierlichere Form als die für all jene Reden über Schriftsteller und Literatur, die Reich-Ranicki nicht selten frei, ohne Manuskript oder Stichpunkte hält. Falls im Bundestag seine Kraft oder Stimme versagen sollte, haben die beiden abgesprochen, muss der Sohn die Rede des Vaters zu Ende bringen. Als spüre der Patriarch, dass jetzt doch, kurz vor Berlin, im Abteil eine Anspannung entsteht, die er nicht wünscht, fragt er: „Was haltet ihr von Thomas Gottschalks neuer Show?“ Die Mitreisenden wiegen eher skeptisch die Häupter. „Ja“, sagt Reich-Ranicki, „er muss besser werden.“ Sohn Andrew lacht und erzählt: Als sein Vater zum ersten Mal zu „Wetten, dass . .?“ eingeladen werden sollte, rief Gottschalk persönlich an und merkte bald, dass der Literaturkritiker Reich-Ranicki noch nie im Leben von der Existenz dieser Sendung oder eines Moderators namens Gottschalk gehört hatte. Woraufhin Gottschalk bat: „Herr Reich-Ranicki, geben Sie den Hörer doch mal Ihrer Frau, die wird Ihnen dann erklären, wer ich bin.“ Tosia bekam den Hörer, erklärte ihrem Mann, wer Gottschalk ist. Seit dem ersten Auftritt bei „Wetten, dass . .?“ verbindet die beiden Männer eine achtungsvolle Fernfreundschaft. Am Berliner Hauptbahnhof wartet bereits ein Beauftragter des Bundestags. Zwei Wagen fahren Reich-Ranicki und seine Begleiter zügig ins Hotel, denn schon am Tag vor dem Auftritt im Parlament ist der Zeitplan eng: Ein Abendessen ist angesetzt im Journalistenclub des Verlags Axel Springer, danach die „B.Z.-Kulturpreis-Gala“, bei der Reich-Ranicki eine Ehrenauszeichnung für sein Lebenswerk erhält – ein strammes Programm für einen 91-Jährigen. Als er am Abend den Preis schließlich in Händen hält und mit leicht brüchiger Stimme gedankt hat, erheben sich die Zuhörer und applaudieren lange. Am nächsten Morgen zollen die Abgeordneten im Bundestag Marcel Reich-Ranicki unverkennbar Respekt und Hochachtung, vielleicht sogar etwas wie Zuneigung. Als Marcel Reich-Ranicki Platz nimmt hinter dem Schild „Deutscher Bundestag“, wirkt er noch ein wenig kleiner. Leise spricht er, vernuschelt einzelne Wörter. Und doch wird die Geschichte verstanden: seine Geschichte aus der Geschichte, die von Tosia, seiner Frau, und dem „Umschlagplatz“, damals im Warschauer Ghetto, und den 300.000 Menschen, die allein von hier in die Gaskammern fuhren. Bundespräsident Christian Wulff applaudiert. Und Bundestagspräsident Norbert Lammert sagt, er sei „zutiefst dankbar, dass Sie mit Deutschland nicht nur die eine, die menschenverachtende Seite verbinden“.
Die Reportage erschien im Magazin „Focus“ vom 30. Januar 2012