Der Anwalt des Lesers

Mit Erzählungen wurde er zu einem der erfolgreichsten Autoren Deutschlands. Jetzt hat Ferdinand von Schirach seinen ersten Roman „Der Fall Collini“ geschrieben. Ein ebenso kluges wie spannendes Buch   Der Roman ist noch keine zwei Seiten alt, da liegt dem Leser bereits eine Leiche vor Augen. In Berlins bestem Hotel hat ein alter Mann einen noch älteren erschossen. „Vier Projektile waren in seinen Hinterkopf eingedrungen, eines hatte sich im Gehirn gedreht, war wieder ausgetreten und hatte das halbe Gesicht weggerissen.“ Aber damit ist der Täter noch immer nicht zufrieden. Er tritt den Kopf des Toten so lange, bis schließlich der Absatz seines Schuhs abreißt. Dann erst fährt er mit dem Lift nach unten, setzt sich in die Hotelhalle und wartet auf die Polizei, die ihn verhaftet. Ferdinand von Schirachs erster Roman „Der Fall Collini“ ist definitiv kein sanftmütiges Buch. Es erzählt eine grimmige, eine unversöhnliche, eine heillose Geschichte. Sie führt, was beim Lebensalter der Beteiligten niemanden überraschen sollte, weit zurück in die Vergangenheit. Collini, der Täter, ist ein riesiger, wortkarger Mann, der wie aus einem anderen Erdzeitalter in unsere Gegenwart hineinstapft, aus einer Epoche, in der Begriffe wie Schuld, Gerechtigkeit oder Buße noch unbezweifelbare Größen waren. Sein Opfer aber ist ein Großindustrieller, ein moderner, hochkultivierter und vielfach leidgeprüfter Mann mit untadeligem Ruf. Von Schirach konstruiert in seinen Büchern gern solche schroffen Gegensätze. Mit den beiden Erzählungsbänden „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) ist er zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren der letzten Jahre geworden. Als er 2010 außerdem noch den renommierten Kleistpreis erhielt, stieg er im Literaturbetrieb schnell auf in den exklusiven Kreis der am missgünstigsten beäugten Schriftsteller. Denn er, der seit Langem ein erfolgreicher Berliner Strafverteidiger ist, machte den deutschen Vollzeitautoren wie im Vorübergehen vor, dass man schon mit einer Handvoll wirklich kluger und präzise gebauter Erzählungen das Herz des Publikums erobern kann. Natürlich hat „Der Fall Collini“ schon wegen seines dramatischen Auftakts etwas von einem Kriminalroman. Doch wie in vielen anderen Geschichten von Schirachs steht auch hier nicht das Verbrechen oder dessen Aufklärung im Vordergrund, sondern die Arbeit der Justiz. Das besondere Talent dieses Schriftstellers ist es, fundamentale Fragen unseres Rechtssystems in überraschende, emotional erschütternde Geschichten zu verwandeln. Kann man Schuld verlässlich messen? Ist sie zu jeder Zeit gleich groß? Oder kann sie zum einen Zeitpunkt fast nicht vorhanden sein, Jahrzehnte später aber erdrückende Dimensionen annehmen? Diese scheinbar spröden rechtsphilosophischen Fragen machen den Kern des neuen Buches aus. Aber von Schirach hat sie mit so viel dramaturgischem Geschick inszeniert, dass sein Roman einen enormen erzählerischen Sog entfaltet. Zudem bringt er eine rechtspolitische Affäre in Erinnerung, durch die ausgerechnet im studentenbewegten Jahr 1968 Schuld von gigantischem Ausmaß mit juristischen Taschenspielertricks zum Verschwinden gebracht wurde. Themen wie diese haben ihn, sagt von Schirach, von Jugend an beschäftigt. Sein Großvater Baldur von Schirach zählte zu den frühesten Anhängern Hitlers, wurde zum Reichsjugendführer ernannt und schließlich im Nürnberger Prozess zu 20 Jahren Haft wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit verurteilt. „Wenn Sie mit einem Namen wie meinem aufwachsen, müssen Sie sich spätestens mit 15 oder 16 Jahren sehr grundsätzliche Fragen stellen und zu grundsätzlichen Antworten kommen, mit denen Sie leben können. Das ist Ihre Verantwortung. Und die Antworten, die man findet, dürfen nicht hasserfüllt, sondern müssen vernünftig sein, sonst sind sie auf Dauer nicht tragfähig.“ Beim Schreiben am „Fall Collini“ sind offenkundig Erinnerungen Ferdinand von Schirachs an seinen Großvater in die Figur des ermordeten Großindustriellen eingeflossen: „Man kann als Schriftsteller ja nur auf die eigenen Erfahrungen zurückgreifen“, sagt von Schirach, „Ferien vom Ich gibt es nicht, auch dann nicht, wenn man am Schreibtisch sitzt.“ Doch sobald man Genaueres von ihm wissen will, wechselt er das Thema. Die Fragen, die seine spezifische Familiengeschichte aufwerfen, sind ihm zu persönlich, als dass er sie in Interviews abhandeln möchte. Zudem weiß er wohl, wie leicht Auskünfte über das Verhältnis zu seinem Großvater als Versuch ausgelegt werden könnten, die Vergangenheit dieses Mannes öffentlich auszuschlachten, um sich selbst ins Gespräch zu bringen. Bis heute ist von Schirach, trotz seines Erfolgs, nicht wirklich im Milieu der Schriftsteller angekommen, nicht zu einem Teil des Literaturbetriebs geworden. „An meinem Freundeskreis hat sich nichts geändert. An meiner Arbeit auch nicht“, sagt er und klingt zufrieden: „Ich übernehme weiterhin nur wenige Mandate, damit ich mich auf die Fälle konzentrieren kann. Das alles ist so geblieben, wie es seit Jahren ist. Ich habe mich vor langer Zeit entschieden, Menschen vor Gericht zu verteidigen, und ich kann mir nicht vorstellen, das zu ändern.“ Im neuen Roman setzte von Schirach speziell der Berliner Justiz ein kleines literarisches Denkmal. Er beschreibt das Gebäude des Kriminalgerichts in Moabit, beschreibt dessen 30 Meter hohe, spektakuläre Halle, dazu die endlosen Flure und Treppenhäuser. Die Architektur zielt darauf, den Angeklagten und Zeugen die Macht der Gerichte geradezu körperlich vor Augen zustellen. Sicher, der Roman hat auch ein paar Schwächen. Manches wirkt ein wenig zu glatt, zu gradlinig konstruiert. Auch die Liebesgeschichte, die von Schirach in die Handlung eingeflochten hat, ist nicht immer überzeugend: Seine Fähigkeit, literarische Bilder der Einsamkeit zu beschwören, ist deutlich größer als die, glaubwürdige Bilder der Zweisamkeit zu finden. Doch das sind Beckmessereien. Dieser Schriftsteller ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur heute: Ein Mann, dessen Kenntnisse und Lebenserfahrung weit über den Literaturbetrieb hinausgehen, der glänzend zu erzählen versteht und frei ist von jener maßlosen Selbstbesessenheit vieler deutscher Autoren, die deren Bücher oft so unendlich fade macht.

Der Artikel erschien im „Focus“ vom 5. September 2011

Ferdinand von Schirach: „Der Fall Collini“. Roman Piper Verlag, München 2011 208 Seiten, 16,99 Euro ISBN 978-3-4920-54751

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