Der Mönch, der Dichter und der Tod

 Was darf die Literatur?

Albert Ostermaier erzählt in seinem neuen Roman von einem selbst erlebten Medizinkrimi. Beteiligt ist ein Geistlicher. Als Vorbild lässt sich unschwer Notker Wolf identifizieren, das Oberhaupt des Benediktinerordens   Wo verläuft die Grenze zwischen Literatur und Leben? Leicht war diese Frage nie zu beantworten, und manchmal führt sie bis vor höchste Gerichte. 2007 billigte das Bundesverfassungsgericht das Verbot des Romans „Esra“. Der Autor Maxim Biller, 50, hatte die Titelheldin seines Buches nach Ansicht der Juristen allzu genau einer Ex-Freundin nachgestaltet und sie durch die Beschreibung zahlreicher Sexszenen in ihrer Intimsphäre verletzt. In diesen Tagen erscheint nun der Roman „Schwarze Sonne scheine“ des Münchner Schriftstellers Albert Ostermaier. Er könnte den Stoff liefern für die nächste Runde im Streit um die Frage, was die Literatur darf und was ihr verboten ist, sobald sie reale Personen erkennbar schildert. Zusätzliche Brisanz erhält der Fall, weil ein prominenter Gottesmann beteiligt scheint: Abtprimas Notker Wolf, 70, der höchste Repräsentant des Benediktinerordens weltweit. Ostermaier, 43, ist kein Unbekannter: Mit dem Kleist- und dem Brecht-Preis erhielt er bedeutende literarische Auszeichnungen, seine Stücke werden an einigen der wichtigsten deutschsprachigen Bühnen gespielt. In seinem neuen Roman erzählt er von einem angehenden Schriftsteller, der ihm selbst in vielen Punkten zum Verwechseln ähnlich ist. Anfang der 90er-Jahre hat der junge Mann erste Gedichte geschrieben und träumt von literarischem Ruhm. Doch nach einer überstandenen Krankheit drängt ihn ein väterlicher Freund, der zugleich Abt des nahe gelegenen Benediktinerklosters ist, zu einer gründlichen Nachuntersuchung. Der Geistliche verfügt über beste medizinische Kontakte und empfiehlt eine „geniale Ärztin“, eine „Virologin am Max-Planck-Institut“. Ihr vertraut sich der Nachwuchsdichter tatsächlich an, und das Ergebnis der Untersuchung ist niederschmetternd: Ein heimtückisches Virus hat ihn befallen, er wird in spätestens sechs Monaten tot sein, wenn er nicht sofort mit der Virologin zu einer Spezialtherapie nach Atlanta/USA aufbricht. Möglicherweise ist eine Lebertransplantation nötig. Die Hiobsbotschaft versetzt den jungen Autor in Panik, dennoch besteht er auf einer Kontrolluntersuchung durch einen weiteren Mediziner. Doch die braucht Zeit, wochenlang schwebt die bedrohliche Diagnose wie ein Todesurteil über dem Dichter. Schließlich stellt sich zweierlei heraus: Der junge Mann ist kerngesund und die angebliche Virologin gar keine Ärztin, sondern eine Möchtegern-Medizinerin, die ihr Studium nach dem sechsten Semester abgebrochen hat. In ein ungünstiges Licht gerät damit allerdings auch jener väterliche Freund, der die vermeintliche Ärztin und Virologin empfahl – zumal er ihr bereits etliche Klosterbrüder als Patienten zuführte und nach ihrer Entlarvung nicht juristisch gegen sie vorgeht. So weit der Roman. In ihm hat Ostermaier diesem Geistlichen den Namen Silvester gegeben. Doch in einem Kapitel beschreibt er ihn näher, vor allem seine Neigung zu öffentlichkeitswirksamen Auftritten: Er werde, heißt es, „der rockende Abt“ genannt, da er gelegentlich in Mönchskutte mit einer Hard-Rock-Gruppe auftritt und auf der Querflöte Songs wie „Locomotive Breath“ von Jethro Tull spielt. Der Hinweis ist deutlich: Notker Wolfs Auftritte als „rockender Abt“ mit der Gruppe Feedback sind von Kirchentagen und aus Talkshows bekannt. Sein Querflöten-Solo zu „Locomotive Breath“ ist auf YouTube abrufbar. Zudem gibt es Verbindungen zwischen Ostermaier und Wolf. Wer ihre Namen gemeinsam googelt, stellt fest, dass beide Absolventen derselben Schule sind: des Rhabanus-Maurus-Gymnasiums im oberbayerischen St. Ottilien, das lange vom dortigen Benediktinerkloster getragen wurde. Im Fall des verbotenen Romans „Esra“ war es ähnlich: Autor Maxim Biller hatte über seine Heldin im Buch geschrieben, sie habe als junge Türkin einen deutschen Filmpreis erhalten. Mit diesen Angaben war über das Internet ihre Identität problemlos zu ermitteln. Dass Leser kaum je auf die Idee kommen, denkbaren Vorbildern für Romanfiguren per Suchmaschine auf die Spur zu kommen, konnte die Verfassungsrichter bei ihrer Entscheidung nicht beirren. Ihrer Ansicht nach reicht es bereits aus, wenn nur der engste Bekanntenkreis der Betroffenen sie im Roman wiederzuerkennen vermag. In diesem Sinne kann an der Identifizierbarkeit Notker Wolfs in Ostermaiers Roman wenig Zweifel bestehen. Dennoch hat das Buch vermutlich gute Chancen, juristisch unbehelligt zu bleiben. Denn für ein Verbot müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Eine reale Figur wird erkennbar geschildert, und sie wird durch die Darstellung im Buch in ihren Persönlichkeitsrechten schwerwiegend verletzt. Doch der Autor Ostermaier hält sich im Roman bei allen Spekulationen darüber, welche Art von Verbindungen zwischen der Scheinmedizinerin und dem musizierenden Gottesmann bestehen könnte, auffällig zurück. Sein jugendlicher Held setzt hinter jede Vermutung über die Rolle des Geistlichen bei dem obskuren Zwischenfall immer wieder Fragezeichen. Die Motive des Klostervorstands bleiben damit in der Schwebe. Mehr noch, Ostermaier schreibt über den Abt sogar ausdrücklich: „Hundertprozentig hatte er keine Pläne entworfen und dann den Gewinn geteilt oder abgerechnet, so war er nicht.“ Und die Überlegung, die Hochstaplerin und der Klosterchef hätten sich vielleicht als Herren über Leben und Tod der angeblich sterbenskranken Patienten gefühlt, gibt Ostermaier als Entwurf zu einem Thriller-Drehbuch aus, der seinem jungen Romanhelden durch den Kopf schießt. Also als eine Fiktion innerhalb der Fiktion des Romans. Dagegen juristisch vorzugehen dürfte schwer sein. Offenbar hat sich Ostermaier bei der Arbeit an seinem Roman rechtlich eingehend beraten lassen. Nach dem „Esra“-Urteil wurde gelegentlich die Befürchtung geäußert, künftig würden in den Verlagen nicht mehr nur die Lektoren, sondern auch die Anwälte über die Form entscheiden, in der Romane erscheinen. Ostermaiers „Schwarze Sonne scheine“ könnte dafür ein guter Beleg werden. Der Artikel erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ vom 16. Mai 2011 Albert Ostermaier: „Schwarze Sonne scheine“. Roman Suhrkamp Verlag, Berlin 2011 288 Seiten, 22,90 Euro ISBN 978-3-516-42220-5

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