Wolfgang Herrndorf hat einen spannenden und fabelhaft komischen Thriller mit philosophischen Untertönen geschrieben: „Sand“
Zwei CIA-Agenten und ein Söldner rasen im Jeep durch eine arabische Hafenstadt. Bei einem Feuergefecht mitten im Frieden haben sie drei Männer getötet, um einen Verdächtigen in ihre Gewalt zu bringen. Vermutlich sind ihnen Verfolger auf den Fersen, doch sobald es zu dämmern beginnt, besinnt sich der Söldner auf seinen Glauben. Als frommer Muslim will er sein Abendgebet am Straßenrand verrichten, und zwar sofort. Die beiden Agenten erklären ihn für übergeschnappt, worauf lautstark ein theologischer Disput ausgetragen wird: Nichts, schreit der Muslim, sei den Amerikanern heilig, nichts. Ob er ernsthaft glaube, brüllen die Amerikaner, seinen Gott nach drei Morden mit einem Abendgebet milde stimmen zu können? Dann fuchteln alle drei eine Weile mit ihren Waffen und schlagen um sich, bevor sie sich darauf einigen, präzise in Richtung Osten zu fahren, damit der Söldner im weiterrasenden Wagen, sich gen Mekka verbeugend, seinen Glaubenspflichten nachkommen kann. Eine Szene, wie sie auch von Quentin Tarantino („Pulp Fiction“) stammen könnte – ein kunstvolles Gemisch aus entfesselter Brutalität, absurder Komik und religiösphilosophischen Fragen. Die Szene stammt aus dem Roman „Sand“ des Berliner Schriftstellers Wolfgang Herrndorf, 46. Und dieses Buch ist ein furioses Meisterstück, das sich vor Anleihen bei populären Medien wie Kino oder Comic nicht scheut und doch vor allem eines ist: großartige Literatur. Bereits im vergangenen Jahr machte Herrndorf Furore mit seinem gleich dreifach preisgekrönten Buch „Tschick“. Das wurde gern ein Jugendroman genannt, weil seine Hauptfiguren nur 14 Jahre alt sind. Tatsächlich aber ist es eine wunderbare moderne Abenteuergeschichte, eine Art deutscher Huckleberry Finn, der von der Schönheit und den Schrecken eines wahrhaft freien Lebens jenseits aller Zwänge erzählt. Das neue Buch Herrndorfs lässt sich, wie auch die Filme Tarantinos, nur schwer den üblichen Genres zuordnen. Ist es ein Agententhriller über die Umtriebe der CIA in Nordafrika? Ist es ein politischer Roman aus dem Jahr 1972, der die blutigen Folgen des Kalten Krieges in der Dritten Welt vor Auge führt? Ist es die Geschichte der verzweifelten Selbstsuche eines Mannes, der alle Bindungen an die Vergangenheit verloren hat? Der Roman beginnt, wie man es aus dem Kino kennt: An ganz verschiedenen, scheinbar zusammenhanglosen Schauplätzen werden die Hauptfiguren vorgestellt. Zwei korrupte Polizisten vergnügen sich mit gefälschten Ausweisen („Sonderermittler des Tugendkomitees“) in den Bordellen der Stadt. Eine etwas zu modisch gekleidete CIA-Agentin kommt im Hafen an und gibt sich als Vertreterin eines Kosmetikunternehmens aus. Ein junger Araber schießt scheinbar grundlos in einer Hippie-Kommune um sich: vier Tote. Ein Abenteurer mit dem Faible für finstere Geschäfte wartet in einem Kaffeehaus auf einen Kunden, der illegal Zentrifugen erwerben will. Aus diesen losen Handlungsfäden flicht Herrndorf dann allerdings nicht, wie sonst in Krimis üblich, einen übersichtlichen Handlungszopf. Vielmehr rückt er einen Mann in den Mittelpunkt des Geschehens, dem nach einem Schlag auf den Schädel das Gedächtnis abhandenkommt und der zwischen alle Fronten gerät. Der arme Kerl kennt weder Ursache noch Ziel des heimlichen Kleinkriegs zwischen den Spionen, er kennt noch nicht einmal den eigenen Namen. Und dennoch machen alle Seiten gnadenlos Jagd auf ihn – was nicht nur sehr beängstigend, sondern oft auch sehr komisch ist. Zugegeben, es gab schon originellere Romanideen als die, eine Hauptfigur das Gedächtnis verlieren zu lassen. Doch durch sie verleiht Herrndorf seinem Thriller einen doppelten Boden. Denn nun dreht sich die Geschichte nicht mehr allein um die Aktivitäten der Agenten, sondern gleichnishaft auch um die uralten Fragen der Philosophie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu diese seltsame Sache namens Leben? Der Sinn des Lebens reduziert sich für Herrndorfs Helden schnell auf den panischen Kampf ums Weiterleben. Ein ungleicher Kampf, der Spuren hinterlässt: Sein Körper ist geschunden, fast alle Gliedmaßen bandagiert, in der Wüste droht er zu verdursten, in einer Höhle zu ertrinken. Er irrt durch sein Leben wie durch ein gigantisches Labyrinth. Doch sein Wille, Antworten auf die Frage zu finden, wie er in seine rätselhafte Lage kommen konnte, ist schier unermüdlich – und immer wieder scheint eine Lösung ganz nah zu sein. Und ist dann doch schnell wieder verschwunden. Ein wenig erinnert das Schicksal dieser Haupftfigur an das Eichhörnchen aus den „Ice Age“-Filmen, das den Kampf um die einzige Eichel weit und breit selbst unter widrigsten Umständen niemals aufgibt – obwohl ihm seine unerschöpfliche Leidenschaft ebenso unerschöpfliche Leiden schafft. Bewundernswert ist die erzählerische Virtuosität dieses Schriftstellers. Herrndorf braucht nur wenige Sätze, um dem Leser selbst komplexe Charaktere plastisch vor Augen zu stellen. Wenn er ein arabisches Kaffeehaus beschreibt, das Basar-Viertel der Stadt oder das Gassengewirr einer abgelegene Oase, glaubt man, es nicht nur vor sich sehen, sondern förmlich riechen zu können. Nicht alle Rätsel dieses Romans werden schließlich aufgeklärt. Gewöhnlich beschreibt ein Agententhriller kühl kalkulierte, strategisch durchdachte Missionen, um rationale Ziele zu erreichen. Derart vernünftig glauben auch Herrndorfs Geheimdienstleute zu handeln. Doch der Leser begreift schnell, dass ihre Aktionen im Grunde von Zufällen, Illusionen oder Irrtümern vorangetrieben werden und am Ende alle Pläne, dem hochgemuten Selbstbild der Akteure zum Trotz, im Sand verlaufen – worauf der Roman bereits mit seinem Titel anspielt. Möglicherweise ist „Sand“ Wolfgang Herrndorfs letztes Buch. Er macht auch öffentlich kein Geheimnis daraus, dass er krank ist, todkrank. In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ berichtet er seit knapp zwei Jahren von seinem Kampf gegen den Krebs. Auch dies ein ungleicher Kampf, der Spuren und einen geschundenen Körper hinterlässt. Bewundernswert ist der Witz, mit dem Herrndorf all das erträgt. Wehleidigkeit scheint er nicht zu kennen. Er hat ein fabelhaftes komisches Talent, und vielleicht ist das Lachen die beste Reaktion auf die Erkenntnis, dass vielleicht alles, absolut alles, letztlich im Sand verläuft.
Die Rezension erschien im Nachrichtenmagazin „Focus“ am 21. November 2011
Wolfgang Herrndorf: „Sand“. Roman Rowohlt Verlag, Reinbek 2011 480 Seiten, 19,95 Euro ISBN 978-3871347344