„Die Sekunden vor Augenaufschlag“

Gedichte von Hellmuth Opitz  

Seine Gedichte leben von einer lockeren, lakonischen und sehr zeitgenössischen Sprache. Rastermikroskope haben in ihnen ebenso ihren Platz wie der Winterschlussverkauf, Coca-Cola, betrübliche Schreiben vom Anwalt oder der Kongress der Existenzgründerinnen. Immer wieder aber gelingt es Hellmuth Opitz aus diesem scheinbar nüchternen, betont illusionslosen Wortmaterial einen feinen, ebenso ironischen wie melancholischen Ton zu filtern. Natürlich geht es meist um die Liebe und die „sommersprossenübersäte Schulter / und ihre Unerreichbarkeit am / anderen Ufer des Bettes.“ Wie Opitz da mit tänzerischer Eleganz ohne großen Sprachaufwand poetische Stimmungen zu beschwören und eindrucksvolle Bilder zu malen versteht, ist aller literarischen Ehren wert. So zum Beispiel lässt er eine Email-Romanze enden: „Es ist nicht leicht: die Schwerelosigkeit / der Mails und deiner Sätze, / … / Und doch: die Liebe / hat jetzt andere Speicherplätze. / … / Kein großer Trennungsschmerz. Kein Leid / Keine Erregungskurven, die abflachen. / Stattdessen Schwebestoffe, flüchtig zwar, / wie alle Herz- und Nebensachen.“

Hellmuth Opitz: „Die Sekunden vor Augenaufschlag“. Gedichte Pendragon Verlag, Bielefeld 2006 121 Seiten, 12,80 €

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„Gotthelm oder Mythos Claus“

Der Lautpoet Michael Lentz hat sein ersten Stück geschrieben

Ist Gott ein Sprachspiel? Sind die kostbaren Tröstungen der Religion lediglich eine Frage des Wortschatzes? Und Religionskonflikte folglich nur das Resultat unterschiedlichen Vokabulars? Der Lautpoet und traditionsbewusste Sprachspieler Michael Lentz stürzt sich in seinem fürs Frankfurter Theater geschriebenen Bühnentext „Gotthelm oder Mythos Claus“ in lauter Letzte Fragen. Doch sind die in seinen Augen nicht nur finsterernst, sondern auch groteskkomisch, weshalb er seinem Stück den Untertitel „Eine Trophobie“ gibt – und sich damit den alten Liedertitelscherz „Klaus (Trophobie)“ der Gruppe Rosenstolz unter den Nagel reißt. Sechs Frauen, alle mit Namen Claus und von äußerst schlichtem Gemüt, sitzen beim Friseur und stolpern im Kreuzworträtsel über das ihnen unbekannte Lösungswort „Gott“. Parallel dazu streiten sie sich um eine Frisierhaube, die offenbar über die eigentümliche Gabe verfügt, nicht nur die Haare, sondern auch die Gedanken neu zu ordnen: Sie verschafft jeder der Kundinnen ihr spezifisches Erweckungserlebnis. Kaum unter der Haube hervorgekommen, hat die eine ihren Gott in buddhistischen Atemübungen gefunden, die andere in einem selbst gebastelten Roboter, die nächste in mystischer Askese, und so weiter. Zur Natur derartiger Erweckungserfahrungen gehört, dass sie kaum vorgeführt, wohl aber wortreich beschrieben werden können. Also lässt Lentz seine Figuren sturzbachartig reden und reden und reden – und, da sich die jeweiligen Gotteserlebnisse widersprechen, naturgemäß auch ein wenig streiten und zanken. Das gibt ihm Gelegenheit eine seiner literarischen Lieblingsübungen durchzuspielen, nämlich die notorisch sinnbefrachtete Sprache durch rasantes Reden in sinnfreie Lautfolgen zu verwandeln, um dann hinter dieser puren Wortmusik wieder eine ferne Ahnung von Sinn aufscheinen zu lassen. Die Regie von Christiane J. Schneider schmiegt sich dem Literaturprogramm von Lentz an. Sie lässt sein Worttheater von den Schauspielern als Sprachtrommelfeuer mit gnadenlosem Tempo ins Publikum ballern. Sie betont die verspielten, skurrilen, komischen Züge des Stückes – was ihm zweifellos gut tut. Denn auch wenn Lentz gelegentlich mit dem Schwarzbrot gewichtiger Sprachphilosophie zu liebäugeln scheint, hat er hier doch eher sprachverliebte Zuckerwatte abgeliefert. Folgerichtig hat Bühnenbildner Uli Winters aus dem Friseursalon eine Art Jahrmarktbude gemacht. Bewundernswert ist, was die Schauspielerinnen aus ihren Rollen, herausholen, die ihnen außer Worten, Worten, Worten wenig vorgeben. So verwandeln sie eine Podiumsdiskussion, in der Lentz den üblichen Phrasenleerlauf angeblich intellektueller Debatten demonstriert, in eine prächtige Parodie auf Achtundsechziger-Vollversammlungen mitsamt sämtlicher Macho-Gesten der selbsternannten Revolutionsführer. Vor allem Kartin Grumeth, die sonst nicht oft ihre komischen Talente vorführt, glänzt als Komödiantin und zeigt, wie hilfreich es ist, Charme zu haben, wenn man witzig sein will.

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Ein Schimmer von Glück

Silke Scheuermanns erster Roman „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“
Ein kleiner, aber ein sehr schöner, sinnlicher, kluger Roman. „Ich bin nichts“, lautet der erste Satz. Es ist die nüchterne Selbstdiagnose einer jungen Journalistin, die es von Rom nach Frankfurt verschlagen hat. Sie gleitet wie eine unbeteiligte Zuschauerin durchs Leben. Weil die Zeitungen Reportagen kaufen, hat sie in Rom Reportagen geschrieben. Weil schlank als schön gilt, hat sie ihren Körper vom Chirurg zurechtschneiden lassen wollen. Weil alle Freundinnen mit älteren Männern ins Bett gingen, war auch sie nur an älteren interessiert. Weil immer weniger Reportagen aus Rom gebraucht wurden und man ihr in Frankfurt ein Job bot, ist sie nach Frankfurt gegangen. Sicher, sie kommt bei all dem gut zurecht. Aber, so stellt sie fest, sie kommt bei all dem gar nicht vor im eigenen Leben: „Ich bin nichts“. Gegen Ende des Romans, wenn die namenlose Ich-Erzählerin mit ihrer Schwester im Wald spazieren geht, findet sich ein viel längerer, ein waghalsiger, utopischer, ein ungeheurer Satz: „Und in diesem Zauberwald, unter den strahlenden Bäumen, deren Blätter nicht Schatten, sondern Licht zu spenden schienen, kam es mir sogar so vor, als wäre es gestern gewesen, seit sich so viel verändert hatte, und es schien mir umgekehrt als gut möglich, es könne sich jetzt, hier, in dieser Minute, wieder alles ändern, und wir, Ines und ich, könnten unsere Leben in einer Weise in Ordnung bringen, hinter der wenigstens als Koordinatensystem so etwas wie Glück durchschimmerte“. Zwischen diesen beiden Sätzen erzählt Silke Scheuermann ein kleines Familiendrama. Die beiden Schwestern sind sich von Kindesbeinen an in aufrichtiger Abneigung zugetan. Doch Ines braucht, stellt sich heraus, dringend Hilfe, denn sie ist auf dem besten Weg, sich als Alkoholikerin zugrunde zu richten. Die aus Rom zurückgekehrte und mit Ironie gut gepanzerte Journalistin will zunächst auch dieses Trauerspiel als Zuschauerin an sich vorüberziehen zu lassen. Wenn da nicht der mittlerweile ziemlich entnervte Liebhaber von Ines wäre, auf den sie, angestachelt durch ihre sehr unschwesterlichen Konkurrenzgefühle, gleich ein Auge geworfen hat. Mit anderen Worten: Silke Scheuermann lässt nicht plötzlich die Flamme uneigennütziger mitmenschlicher Hingabe im Herzen ihrer Heldin auflodern. Der Schritt auf die Schwester zu und aus der lang geübten Passivität heraus ist beides zugleich: Hilfe und Verrat, ist Unterstützung im Kampf gegen die Sucht und der Versuch, ihr den Freund auszuspannen. Die Ich-Erzählerin wird keine Mutter Theresa, sondern sie macht die Erfahrung, dass jeder Schritt auf einen anderen zu, immer auch das Risiko birgt, den anderen oder sich selbst zu verletzten. Aber sie kann nun nicht mehr „Ich bin nichts“ sagen, denn sie ist, ob im Guten oder im Schlechten, anderen Menschen „jedenfalls nahegekommen“. Silke Scheuermann hat für ihren ersten Roman einen wunderbaren, kühl poetischen, von leiser Melancholie durchwehten Ton gefunden. Zugegeben, es gibt auch ein paar umständliche, schwerfällige Sätze und sie hat eine unglückliche Vorliebe für die Floskel „äußerte er“. Daneben aber ist ihre Sprache von einer erstaunlichen Kraft der Vergegenwärtigung. Sie kann dem Leser mit wenigen Worten sehr zeitgenössische Szenerien oder Verhaltensweisen vor Augen stellen. Nie wirkt das bei ihr wie eine modische Lifestyle-Reportage, sondern immer wie ein kunstvoll verdichtetes Abbild der Gegenwart. Wie Dichtung eben.

Silke Scheuermann: „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“. Roman Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2007 172 Seiten, 17,90 €

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Die besten Scheinschlachten dieser Jahre.

Der großartige amerikanische Romancier Don DeLillo wird 70
Dieser Mann ist nicht nur ein Schrift-, sondern auch ein Fallensteller. Seine Bücher sind wie Schlingen, in die der Leser tappt. Sie beginnen harmlos, aber Satz für Satz zieht der Strick sich zu. Am Ende sitzt der Leser da, gefesselt, gebannt und Don DeLillo hetzt ihm alle Schrecken der Zeit auf den Hals. Angenehm ist das nicht. Aber es ist brillant, wirkungsvoll und vor allem verunsichernd. Weiterlesen

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Großer Mann, große Schatten

Wird die Dauerkrise bei Suhrkamp lebensbedrohlich für den Verlag?

Soviel stand immer fest: Nach dem Tod Siegfried Unselds würde der Suhrkamp Verlag in stürmische Zeiten geraten. Unseld war eine viel zu beherrschende, raumgreifende Persönlichkeit, als dass der Verlag einen solchen Verlust ohne Krise hätte überstehen können. Die Frage war nur, welches Ausmaß die Krise annehmen und wie der Verlag sie überstehen würde. Nachdem jetzt der Schweizer Mitgesellschafter Andreas Reinhart seine Anteile am Verlag im Streit mit Unselds Witwe Ulla Berkéwicz an die Investoren Hans Barlach und Claus Grossner abgegeben hat, spitzt sich die Lage zu. In den letzten Jahren machte das Programm des Verlages nicht immer den besten Eindruck. Nun sieht es so aus, als würde auch die Frage nach seiner Führung neu gestellt. Ulla Berkéwicz will die neuen Anteilseigner nicht akzeptieren. Im Gegenzug bezeichnet Barlach sie öffentlich als „überfordert“ und rät ihr, die Geschäftsführung „in kompetentere Hände abzugeben“. An Verdächtigungen und Vorwürfen ist von beiden Seiten kein Mangel. Die Konflikte scheinen unversöhnlich – und nichts könne Suhrkamp zurzeit weniger gebrachen als das. Es gibt einen guten Grund, aus dem Öffentlichkeit sich für das Schicksal von Suhrkamp interessieren sollte. Und einen zweiten, nicht so guten, der die Gier auf Nachrichten über die jeweils jüngsten Frontverläufe in diesem Hause unermüdlich anheizt. Der erste Grund liegt auf der Hand. Siegfried Unseld war es in den sechziger Jahren gelungen, aus Suhrkamp einen Verlag zu machen, der die Geistesgeschichte der Bundesrepublik vorübergehend prägte. Mit einer Mischung aus kritischer Theorie und einer an der klassischen Moderne orientierten Literatur gab er nicht zuletzt der Studentenbewegung den wesentlichen intellektuellen Orientierungsrahmen vor. Einiges von dem, was seinerzeit bei Unseld erschien, nimmt sich heute allerdings fragwürdig aus. Manche seiner Autoren flirteten mit totalitären Ideen, schwärmten für die Revolution in Kuba oder schmiegten sich der DKP oder der DDR an. Zu den Ironien der Literaturgeschichte gehört, dass Günter Grass, der sich unbeirrbar für den schneckengleichen Fortschrittsgang parlamentarischer Demokratie einsetzte, inzwischen viel von seiner politischen Glaubwürdigkeit durch das späte Eingeständnis seiner SS-Vergangenheit verspielt hat. Den Altstars aus Unselds Verlag dagegen, die seit den sechziger Jahren auf offener Bühne die rasantesten politische Kehren und Wendungen hinlegten, werden die politischen Verirrungen früherer Jahre nur selten vorgerechnet. Unselds verlegerische Leistungen sind unbestreitbar. Als er sein Haus vom Gründer Peter Suhrkamp übernahm, erschienen dort Brecht, Hesse, Frisch und Benjamin. Dem fügte er die Werke von Proust, Joyce und Beckett, von Adorno, Habermas und Sloterdijk, von Johnson, Weiss, Koeppen, Thomas Bernhard, Enzensberger, Walser und Handke hinzu. Dieses riesige literarische Erbe macht jede Affäre bei Suhrkamp für die literarische Öffentlichkeit so wichtig. Laut Urheberrecht sind Bücher bis zu siebzig Jahre nach dem Tod ihres Verfassers an den Verlag gebunden. In den Händen der Suhrkamp-Leitung liegt folglich die Verfügungsgewalt über enorme Teile der Nachkriegsliteratur und damit eine erhebliche Verantwortung. Der zweite und nicht so noble Grund für das öffentliche Interesse an Suhrkamp hat seinen Ursprung in der Person Unselds. Er war ein großer Mann, hatte aber wie viele große Männer auch große Schattenseiten. Er war, milde formuliert, ein Patriarch, dem autoritäre Führungsmethoden nicht fremd waren – was dem Verlag, der den antiautoritären Achtundsechzigern ihre Stichworte lieferte, immer etwas Doppelbödiges gab. Obwohl Unseld seinen Mitarbeitern naturgemäß viel verdankte, neigte er dazu, Erfolge Suhrkamps für sich zu vereinnahmen. Er hatte wenig Talent, Ruhm oder Macht mit anderen zu teilen. Viele profilierte Köpfe verließen daraufhin das Haus – ein Kompetenz-Verlust, der nicht immer ausgeglichen werden konnte. Diese Entwicklung spitzte sich dramatisch zu als Unseld auf die 70 zusteuerte und sich immer dringender die Nachfolgefrage stellte. 1988 machte er seinen Sohn Joachim zum „gleichberechtigten Verleger“. Dann trennte er sich nach fast vierzigjähriger Ehe von seiner Frau Hilde. Die verzichtete, wie der Biograph Peter Michalzik („Unseld“, Verlag btb, 397 S. 12,00 €) berichtet, bei der Scheidung auf Teile des ihr zustehenden Zugewinns, da der Sohn Joachim den Verlag erben sollte. Im August 1990 heiratete Siegfried Unseld die rund 25 Jahre jüngere Ulla Berkéwicz, eine Autorin seines Hauses. Nur zwei Monate später überwarf er sich mit seinem Sohn und drängte ihn rigoros aus dem Verlag. Als seine frühere Frau ihn an die Scheidungsverabredungen erinnerte, soll er, wie Michalzik schreibt, geantwortet haben: „Hast Du das schriftlich?“ Der Kulturbetrieb stand bei diesem Familiendrama mit offenem Mund staunend an der Rampe. Das Stück schien geradezu aus einem bösen Märchen mit Vater, Stiefmutter und Kind zu stammen. Wie bei Familienstreitigkeiten üblich, verlieren sich auch in diesem Fall die Aussagen der Beteiligten rasch im Dunkel schwer nachprüfbarer Vorwürfe und Legenden. Fest steht, dass Joachim Unseld lediglich einen Anteil von zwanzig Prozent am Verlag erhielt – und dass im Laufe der neunziger Jahre von Siegfried Unseld mehrfach potentielle Nachfolgekandidaten bei Suhrkamp präsentiert wurden, die aber bald von sich aus oder mit Unselds tatkräftigen Unterstützung das Haus wieder verließen. Schließlich bestellte Unseld vor seinem Tod seinen Mitarbeiter Günter Berg zum Geschäftsführer und brachte eine verschachtelte Eigentumsregelung auf den Weg, die das Ziel hatte, Suhrkamp vor Begehrlichkeiten von außen zu schützen. Ulla Berkéwicz übernahm den Vorsitz einer Familienstiftung und wurde Geschäftsführerin einer „Verlagsleitung GmbH“, die fast wie ein Aufsichtsrat über die Geschicke des Verlages zu wachen hatte. Dabei sollte ihr ein Stiftungsrat zur Seite stehen, der mit Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Habermas, Alexander Kluge, Wolf Singer und Adolf Muschg glanzvoll besetzt war. Doch so prägend Unseld zu Lebzeiten war, so schnell zerfielen seine Pläne nach seinem Tod 2002. Gleich nach Ablauf des Trauerjahres feuerte Ulla Berkéwicz den von Unseld zum Verlagsleiter bestimmten Berg. Kurzerhand machte sich selbst zur Suhrkamp-Geschäftsführerin – was Unseld stets vermieden hatte. Das trug ihr massive öffentliche Kritik ein, denn sie war bislang als Schauspielerin und Schriftstellerin in Erscheinung getreten, nicht aber als Verlegerin. Der Eindruck, dass sie in einer für die Buchbranche schwierigen Zeit ohne nennenswerte Erfahrungen das tagtägliche Geschäft an sich zog, war schwer zu leugnen. Auch der noch von Unseld ausschließlich mit Suhrkamp-Autoren besetzte Stiftungsrat verweigerte der neuen Verlegerin die Gefolgschaft. Mit den brüsken Worten, Ulla Berkéwiczs Entscheidung sei „ohne unsere Mitwirkung und ohne unseren Rat gefallen“ trat er umgehend zurück. Die beiden neuen Geschäftsführer, die Ulla Berkéwicz nun bestellte, darunter ihr langjährige Lektor und Vertrauter Rainer Weiss, hat sie inzwischen längst wieder gegen andere ausgetauscht. Wie man die Sache auch dreht oder wendet: Seit ihrem Amtsantritt war dem Verlag wenig Erfolg und noch weniger Ruhe vergönnt. Doch bislang blieb ihre Position ungefährdet, zumal die Minderheitsgesellschafter Reinhart und Joachim Unseld sich offenbar nicht sehr ums Geschäft kümmerten. Seit 1999 soll der Gesellschafterbeirat, der die Bilanzen des Hauses nicht nur einsehen, sondern auch prüfen darf, nicht mehr getagt haben. Doch nun, nach dem Verkauf der Reinhart-Beteiligung ändert sich die Lage. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, weshalb sich Ulla Berkéwicz so heftig gegen die Übernahme der Anteile durch Barlach und Grossner wehrt. Wie weit ihre juristischen Möglichkeiten reichen, den Verkauf anzufechten, ist jedoch offen: In der jüngsten Verlagsmitteilung ist entgegen früherer Ankündigungen nicht mehr von einer Klage gegen die Transaktion die Rede, sondern nur von einem „Fragekatalog“, den Andreas Reinhart beantworten soll. Zusammen sind die Minderheitsgesellschafter zu 49 Prozent an Suhrkamp und zu 45 Prozent an der „Verlagsleitung GmbH“ beteiligt. Im Beirat der GmbH sollen die Interessen von Barlach und Grossner künftig durch den anerkannten Verlagsfachmann Arnulf Conradi vertreten werden. Auch wenn Ulla Berkéwicz ihren Suhrkamp-Verlag jetzt noch zur uneinnehmbaren „Festung“ erklärt, dürfte es ihr schwer fallen, solchen fast gleichstarken Partner auf Dauer jede Kooperation und vor allem die ihnen zustehende Bilanzprüfung zu verweigern. Allerdings hat sie sich in solchen Fragen oft als, sagen wir, eigensinnig und wenig diplomatisch erwiesen. Aber auch Barlach und Grossner scheinen nicht gerade um eine Deeskalation bemüht und setzen auf den groben Klotz ihrer Zurückweisung als Anteilseigner den groben Keil einer Rücktrittsforderung an die Adresse der amtierenden Geschäftsführerin. Kann es sein, dass sie öffentlich kräftig Geschirr zerschlagen, um Druck auf Suhrkamp aufzubauen und ihre Beteiligung bald mit Gewinn an Ulla Berkéwicz weiterverkaufen zu können? Ein Dauerkonflikt zwischen den Eigentümern dürfte allerdings für den Verlag die schlechteste aller Möglichkeiten sein. Der muss sich endlich wieder um Schriftsteller kümmern, statt um interne Streitigkeiten. Längst hat seine Ausstrahlungskraft stark abgenommen. Seit Ulla Berkéwiczs Machtübernahme haben der Nobelpreisträger Imre Kertész, der Erfolgsgarant Martin Walser und einer der großen Hoffnungsträger der deutschen Literatur, Daniel Kehlmann, Suhrkamp verlassen. Dazu ungezählte weniger bekannte Autoren. Falls es dem Verlag nicht gelingt, das Vertrauen in seine Stabilität und Leistungsfähigkeit wiederherzustellen, kann aus der nach Unselds Tod unvermeidlichen Krise eine lebensbedrohliche werden

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Namen im Schnee

Christoph Ransmayrs überwältigend schöner Roman „Der fliegende Berg“
Christoph Ransmayrs Romane sind Aufbrüche in den Mythos. Es sind Einladungen an den Leser, aus der Zeit zu fallen. Das hat nichts mit Flucht in esoterische Sphären zu tun, nichts mit der Entdeckung dunkel raunender, angeblich ewiger Wahrheiten. Ransmayr versteht sich vielmehr auf die rare, die erstaunliche Kunst, den Kopf literarisch bis über die Wolken zu strecken und doch mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Seine Bücher entfalten eigene Welten, die den Bezug zu den sogenannten Tatsachen nie verlieren, über die bloßen Tatsachen aber weit hinausreichen. Ransmayrs neuer Roman „Der fliegende Berg“ signalisiert seinen Eigensinn, seinen eigenen Sinn schon in seiner formalen Gestalt. Wie bei einem Epos hat Ransmayr, dessen Prosa immer schon enorme sprachmusikalische Qualitäten hatte, seinen Text in Verse und Strophen geordnet. Er selbst spricht nüchtern nur von „Flattersatz“; wer will, braucht auf Verse oder Strophen keine große Rücksicht zu nehmen und kann den Roman lesen, wie jeden anderen auch. Doch bei genauerem Hinhören ist schnell zu spüren, dass diese Prosa bis in die Feinheiten hinein rhythmisch durchformt und durchdacht ist, ohne deshalb in eine aufdringliche, starre Metrik zu verfallen. Der Stoff des Romans hat Ransmayr über ein Jahrzehnt lang beschäftigt. Erzählt wird von zwei Brüdern, die in den Osten Tibets aufbrechen, um dort den noch unbezwungenen, knapp siebentausend Meter hohen Phur-Ri, den „Fliegenden Berg“ zu besteigen. Wie während der inzwischen legendären Nanga Parbat-Expedition von Günther und Reinhold Messner 1970 kommt einer der beiden Brüder beim Abstieg vom Gipfel um. Doch viel weiter reichen die Parallelen nicht, Ransmayrs Figuren stammen aus Irland, nicht aus Südtirol. Ihr Vater ist ein schwärmerischer, nicht recht realitätstauglicher IRA-Fanatiker, dessen Frau mit einem Protestanten in den britischen Norden durchgebrannt ist. Liam, der ältere der beiden Brüder, hat seinen Beruf als Computer-Fachmann und Kartograph an den Nagel gehängt und ist nun Viehzüchter auf einer kleinen Insel im Südwesten Irlands. Pad, der jüngere Bruder und Ich-Erzähler des Romans, fuhr jahrelang zur See, bevor er bei seinem gleichermaßen bewunderten wie eifersüchtig bekämpften Bruder eine feste Bleibe findet. Die Bildphantasie Ransmayrs ist atemraubend. Wie Liam auf nächtlichen Internet-Irrfahrten ein erstes Foto der Phur-Ri entdeckt, wie die beiden Brüder an den Insel-Steilküsten über dem Meer ihr bergsteigerisches Können trainieren, wie sie in Tibet auf ganze Felder von farbigen Gebetsfahnen stoßen, auf Nomaden, die unter freiem Himmel im Schnee Billard spielen oder auf Schmetterlinge, die von heißen Luftströmungen über Tausende von Metern bis ins ewige Eis der Gletscher gerissen werden – all das wirkt wie Szenen aus einem Film von Stanley Kubrick, die Ransmayrs auf wenigen Zeilen ebenso poetisch wie präzise vor das innere Auge des Lesers zu rücken versteht. Naturgemäß wird das Leben, je weiter die beiden Brüder in die entlegenen Winkel Ost-Tibets vordringen, umso archaischer. Für Liam ist das lediglich ein unvermeidlicher, meist lästiger oder auch gefahrvoller Begleitumstand der Expedition. Für Pad jedoch wird ihr Weg zu einer Reise in eine andere, vom mythischen Denken geprägte Welt, deren Ausstrahlung er sich nicht entziehen kann und auch nicht will. Ransmayr gibt so dem berühmten Motiv von Joseph Conrads Reise ins „Herz der Finsternis“ eine Wendung ins Positive: Sein Held Pad verliert sich mit der zunehmenden Entfernung von der westlichen Zivilisation nicht in Wahn und Gewalt, er gelangt auch nicht zu spiritueller Erleuchtung, wie sie viele Asientouristen suchen, sondern schlicht zu einem größeren Gefasstheit und auch Gelassenheit angesichts der fundamentalen Vergeblichkeit des Lebens. Bei Jean-Paul Sartre heißt es, der Mensch sei eine nutzlose Leidenschaft. Für diese Einsicht findet Ransmayr in seinem Roman ein schmerzlich schönes Bild: Als die Brüder das Ziel ihrer Leidenschaft erreicht haben, den Gipfel des Phur-Ri, schreiben sie auf diesem Nebendach der Welt ihre Namen in den Schnee, obwohl schon ein Unwetter aufzieht, dass alle Spuren unfehlbar löschen wird. Doch Pad begreift inmitten der urtümlichen Landschaft, wie vorübergehend letztlich jedes Dasein ist, er begreift, dass selbst die Gebirgsgiganten des Himalaja irgendwann einmal verschwinden werden, und also, wie die tibetischen Mythen lehren, als fliegende Berge nur vorübergehend auf der Erde Platz genommen haben – was Pad mit Blick auf die eigene Vergänglichkeit zu größerer innerer Ruhe verhilft. Die Helden Ransmayrs drängt es in all seinen Romanen zu den Rändern ihrer Zivilisation. Denn Zivilisation ist für Ransmayr nicht denkbar ohne Machtkampf und Zerstörung. Mit wenigen Strichen skizziert er im „Fliegenden Berg“ wie in der Vergangenheit die englischen Kolonialherren in Irland hausten und heute die chinesischen Kolonialherren in Tibet. Der unbestreitbare Glanz der siegreichen Kultur wird bezahlt mit der Verwüstung der Natur – Irland und Tibet werden von ihren Besatzern gleichermaßen abgeholzt – und dem Untergang der unterlegenen Kulturen. Ein Ausweg aus diesem jahrhundertealten Reigen der Gewalt ist der Rückzug an die kaum besiedelten, nicht erforschten oder sogar noch nie betretenen Ränder der bekannten Welt, wie zu jenem Gipfel des Phur-Ri. Das ist eine Flucht, zugegeben, aber sie birgt einen Moment von Freiheit. Hier vielleicht Hinweis auf Verweigerung von Ransmayrs Vater, unter Nazis was zu werden. Ende von „Geständnisse eines Touristen“. Ransmayr riskiert bei all dem literarische eine Menge. Er scheut sich nicht, die Rivalität der beiden Brüder, ihr bedingungslos aufeinander Angewiesensein während der Auf- und Abstiegs und nicht zuletzt auch die Liebesgeschichte zwischen Pad und der Tibeterin Nyema, die er während des wochenlangen Trecks zum Phur-Ri kennenlernt, als einschneidende, lebensverändernde Erfahrungen zu schildern, die große Gefühle von archaischen Dimensionen wecken. Das ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack. Wer seine Ohren ganz auf die oft kühlen, lakonischen Töne unserer Gegenwartsliteratur eingestimmt hat, kann das gelegentlich als fremd und pathetisch empfinden. Doch gehört ebendies, gehört der Abschied vom Gewohnten und die Konfrontation mit einem wiederentdeckten existentiellen Ernst zum Programm dieses Romans. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, finden in diesem Buch eine Sprache von überwältigender, von erschütternder Schönheit.

Christoph Ransmayr: „Der fliegende Berg“. Roman S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006 359 S., 19,90 €

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„Mikado“

 41 Kurzprosastücke von Botho Strauß

Das beste Buch von Botho Strauß seit langem. 41 Stäbe gehören zu einem Mikadospiel, 41 Kurzprosastücke enthält dieser Band. Strauß jongliert mit den unterschiedlichsten Erzählformen, gibt seinen Geschichten mal satirische oder psychologisch realistische, mal allegorische oder märchenhafte, mal fantastische oder absurde Züge. Immer aber kreisen die Geschichten um die angeblich allzu prekäre Stabilität der Persönlichkeit in unserer angeblich allzu flüchtigen Epoche. So erzählt Strauß von einem Fabrikanten, dessen Ehefrau entführt wird, und dem man eine andere, ihm unbekannte Frau zurückbringt – der sich aber auch mit dieser zu arrangieren scheint. Oder von einem Model, dass einen neuen Stil für den Gang über den Catwalk entwickelt und damit andere Models in Identitätskrisen stürzt. Oder von einer Frau, die ihren Mann mit einem seiner Kollegen betrügt, nur damit der ihrem Mann nicht mehr in die Augen schauen kann. Kleine Geschichten, in denen Zeitkritik nicht zur sauren Predigt wird, sondern zum klugen, leichten Spiel.

Botho Strauß: „Mikado“
Carl Hanser Verlag, München 2006 173 S., 17,90 €

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Hanni und die Blechbüchsenburschen

Was lehrt Schillers „Jungfrau von Orleans“ heute? Zwei Versuche von Claus Peymann und Simone Blattner im Leistungsvergleich

Hat Angela Merkel Charisma? Bräuchte sie mehr davon? Oder ist Charisma in einer friedlichen Demokratie, der es vor allem um das Aushandeln haltbarer Kompromisse geht, bei Staatsgeschäften gar nicht wichtig? Als Schiller seine „Jungfrau von Orleans“ schrieb, hatte er in Napoleon das Beispiel eines charismatischen Herrschers vor Augen, der Europa zittern ließ. So gab es für Schiller durchaus Anlass, sich der Geschichte der siebzehnjährigen Jeanne d’Arc zu widmen, die im 15. Jahrhundert so fest daran glaubte, von Gott zu Frankreichs Retterin bestimmt zu sein, dass sie schließlich die französischen Truppen in die Schlacht mitriss und die englischen Feinde in die Flucht schlug. Das Stück ist von fabelhafter Sprachkraft und doch keins von Schillers Meisterwerken. Es leistet sich allzu viele billige Wunderdinge, an die Schiller selbst nicht glaubte, von himmlischen Donnerzeichen über teuflische schwarze Ritter, die auf offner Bühne zu Hölle fahren, bis hin zum Zerreißen zentnerschwerer Ketten durch die Kraft des Gebets. Zudem verlangt es der jungen Darstellerin der Johanna fast Übermenschliches ab: Sie muss gleichermaßen überzeugend sein als naive Hirtin, religiöse Exstatikerin, charismatische Feldherrin, blutsäuferische Kampfmaschine und an der Liebe Verzweifelnde. Glücklich das Theater, das eine solche Schauspielerin hat. Claus Peymanns Berliner Ensemble ist so glücklich nicht. Peymann hat die Rolle der Johanna der bislang noch wenig bekannten Charlotte Müller anvertraut. Sie ist zweifellos begabt, sie beherrscht die zarten und schwärmerischen Töne, die sie für ihre Rolle braucht. Doch dass sie je verzagte Soldaten mit fanatischem Siegeswillen erfüllen und hilflose Engländer eigenhändig abschlachten könnte, nimmt man ihr keine Sekunde ab. Das fällt umso mehr ins Gewicht, da Peymann für seine routinierte Inszenierung wenig einfällt. Thomas Wittmann darf seinen König Karl zu einem amüsant anzuschauenden sensiblen Jammerlappen stilisieren. Corinna Kirchhoff macht aus Königin Isabeau eine kreischende Diva, die sich um Macht und Glück betrogen fühlt. Ansonsten aber verlässt sich Peymann eher auf seine prächtige Theatermaschinerie als auf eine Idee zu Schillers Stück. Er lässt die Ritter tatsächlich in Rüstungen über die Bühne scheppern, lässt Johanna vor orangeroten Glorienschein auftreten, den schwarzen Ritter mit reichlich Blitz und Rauch in die Theaterhölle fahren und Gott mit Donnerschlägen aus heiterem Himmel seine Antwort auf die Fragen der Menschen geben. Vielleicht wollte Peymann seine Aufführung auf des Messers Schneide zwischen Tragödie und Komödie stellen, wollte das Stück selbst und zugleich durch überzogene Bühneneffekte so etwas wie einen ironischen Kommentar dazu inszenieren. Doch man lacht nicht weil Peymann zuverlässig die haarfeine Grenzlinie zwischen Tragödie und Komödie träfe, sondern weil das Rüstungsgerumpel gelegentlich zu allerlei unbeholfenen Vergnüglichkeiten führt. Fast wirkt es so, als werde nicht das hochidealistische Drama „Johanna von Orleans“ gezeigt, sondern die noch unbekannte Groteske „Hanni und die Blechbüchsenburschen“. Umso interessanter hätte die Inszenierung des gleichen Stückes durch die über dreißig Jahre, also eine volle Generation jüngere Simone Blattner werden können, mit der das Schauspielhaus in Frankfurt jetzt in die Saison startet. Sie hat den Text auf zwei Stunden gekürzt, lässt ihn in rasender Eile abschnurren und manche Passagen von einem vielköpfigen Chor sprechen. Hinter letzterem Kunstgriff könnte man eine Regiestrategie vermuten, schließlich heißt es bei Schiller: „Für seinen König muss das Volk sich opfern, / Das ist das Schicksal und Gesetz der Welt.“ Auf diese Behauptung hätte der Chor als Volkes Stimme antworten können. Doch Simone Blattner verfolgt diesen Chance nicht weiter und greift lieber auf ihre alten Regiemanierismen zurück, lässt unbeschäftigte Schauspieler auf der Bühne herumsitzen oder die spartanisch ausgestattete Bühne von den Darstellern selbst umbauen. Auch ihre Johanna wird den Anforderungen der Rolle nicht gerecht. Susanne Buchenberger spielt ein wurstiges Bauernmädchen mit religiös verklärten Lächeln. Die unwiderstehliche Ausstrahlungskraft, verängstigte Männer in mörderische Schlachten zu führen, kauft man auch ihr nicht ab. Cornelia Kempers ist als Königin Isabeau eine Zumutung, sie spielt keine Herrscherin sondern eine Hausmeisterin. Nur Oliver Kraushaar macht aus dem Herzog von Burgund eine eindrucksvollen Kerl, der in wechselvoller Epoche um verlässlichen Halt ringt. Zu fragen bleibt, wie, warum und mit welchem Ziel sich Regisseure heute im deutschen Stadttheaterbetrieb für ihre Projekte entscheiden. Man kann, wie Alfred Polgar, der Meinung sein, Schillers „Jungfrau“ rühre „an keine Frage, die unsere Zeit sonderlich beschäftigt“ und das Stück beiseite lassen. Man kann, wenn man es dennoch aufführt, zu zeigen versuchen, wie Johannas göttliche Vision an der kruden Realität oder an der Liebe scheitert. Oder man kann schlicht eine exorbitant talentierte Schauspielerin in der Titelrolle vorführen wollen. Doch davon, dass Peymann oder Simone Blattner irgend einen Grund haben, der ihnen dieses Stück zu diesem Zeitpunkt aufdrängt, ist nichts zu spüren. Dolf Sternberger, der konservative Politologe, entdeckte einmal in der „Jungfrau“ den englischen Ritter Talbot als den „einzig Nüchternen“, der zusehen muss, wie sein auf Vernunft bauendes Regime vom Charisma eines kleinen Mädchens zerstört wird. Talbots Tragödie beschrieb er 1936, als in Deutschland ein ganz anderer charismatischer Machthaber herrschte. Sternberger hatte in Schillers Stück hineingelauscht, und es hatte ihm ein paar riskante Auskünfte zur Gegenwart zugeflüstert. Offenbar ist es in unserm Theaterbetrieb inzwischen so lärmig, dass kaum einer noch hören kann, was die Stücke flüstern.

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Ich bin allhier

Botho Strauß, der Verächter unseres Medienbetriebs, beliefert ihn zuverlässig

Kein anderer unsrer Großschriftsteller füttert den Literaturbetrieb so zuverlässig wie der erklärte Literaturbetriebsverächter Botho Strauß. Vor 35 Jahren schrieb er sein erstes Theaterstück „Die Hypochonder“, vor 30 Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch „Marlenes Schwester“. Seither verging kaum ein Jahr, in dem nicht mindestens ein Stück von ihm uraufgeführt oder ein, mitunter auch zwei Bücher von ihm erschienen. In diesen Tagen wird nun sowohl sein neuestes erzählerisches Werk, die Prosasammlung „Mikado“ an die Buchhandlungen ausgeliefert als auch der vierte Band seiner gesammelten Theaterarbeiten mit immerhin sechs Stücken aus den jüngstvergangenen Jahren. Aber Strauß ist nicht nur ungewöhnlich produktiver Autor, sondern darüber hinaus äußerst geschickt im Umgang mit der literarischen Öffentlichkeit. Zwar gibt er sich schon seit Jahrzehnten betont zurückhalten, tritt fast nie vor Publikum auf, meidet Radio- oder Fernsehstudios und missachtet all die Interview-Mikrophone, die ihm nur zu bereitwillig hingehalten werden. Gern wird er deshalb als der Menschenscheue, der große Reservierte, der misanthropisch Zugeknöpfte unserer Gegenwartsliteratur betrachtet. Doch Strauß hat es parallel zu seiner klug dosierten Distanziertheit immer verstanden, die intellektuellen Debatten des Landes mit neuem Brennstoff zu versorgen und im Meinungsrummel der jeweils aktuellen Literaturaffären mitzumischen – also sowohl die Rolle dessen zu übernehmen, der sich den „Regime der telekratischen Öffentlichkeit“ und dem „Gespenst des Infotainmant“ verweigert, wie andererseits eben dieser Öffentlichkeit mit präzisem Timing die Stichworte zu liefern, mit denen die ihren Diskussionstrubel weiter in Schwung hält. Sein größter Mediencoup war bislang der Essay „Anschwellender Bocksgesang“, mit dem er 1993 den deutschen Kulturbetrieb aufs Höchste erregte, denn er trug darin eine radikale Kritik an der demokratisch-kapitalistischen Ordnung des Westens von der Warte eines prononciert konservativen Denkers vor. Viele der traditionell sich als links verstehenden Intellektuellen des Landes taten Strauß daraufhin den Gefallen, ihn zur bevorzugten Zielscheibe ihres Zorns über einen allmählich spürbar werdenden kulturellen Klimawandel im damals noch recht frisch wiedervereinigten Deutschland zu machen. Peter Glotz etwa erklärte Strauß gar für „gefährlich“. Strauß fürchtete daraufhin, es werde „als Steigerung nur noch die damnatio memoriae folgen: diesen Mann hat es als Schriftsteller nie gegeben.“ Seither hat Strauß wenig Anlässe ausgelassen sich publizistisch effektvoll zu Wort zu melden. Ob er gegen Windkrafträder polemisiert („Eine schonungslosere Ausbeute der Natur lässt sich kaum denken, sie vernichtet nicht nur Lebens-, sondern auch tief reichende Erinnerungsräume“) oder ob er die Twin Towers nach dem Anschlag vom 11. September als „Schwurfinger des Geldes“ bezeichnete, die nun „abgehackt“ worden seien. Als Anfang des Jahres in den Favelas von Paris muslimische Jugendliche wochenlang randalierten, teilte er im „Spiegel“ mit, auch sein Sohn sei von jungen deutschen Türken in Berlin schon als „Christenschwein“ beschimpft worden. Und als kürzlich der Milosevic-Verteidiger Peter Handke den unter anderem für Bemühungen um Völkerverständigung ausgeschriebenen Heine Preis nicht erhalten sollte, verteidigte er Handke gegen jede Forderung nach politischer Verantwortlichkeit, denn als ein „Episteme-Schaffender (nach dem Wortgebrauch Foucaults)“ habe Handke es nicht nötig, sich für politische Irrtümer zu rechtfertigen. Es ist nicht ganz leicht, sich gegen den Eindruck zu wehren, dass bei all dem eine routinierte Medienstrategie erkennbar wird. Drei der eifrigsten Zuwortmelder des Literaturbetriebs, Martin Walser, Peter Handke und Botho Strauß, stilisieren sich zugleich zu inbrünstigen Feinden unseres täglichen Meinungsmarktes. So spielen sie seit Jahrzehnten schon mit der Öffentlichkeit und ihren Kritikern das alte Spiel „Ich bin all hier“ aus dem Märchen von „Dem Hasen und dem Igel“: Bietet sich ein Thema von einiger Brisanz, holen sie gern zu dröhnenden politischen Polemiken aus. Werden ihre Provokationen dann aber mit politischen Argumenten ebenso polemisch beantwortet, ziehen sie sich auf ihren Status als empfindsame Poeten zurück, die für die Betriebsamkeit der Medien nur Abscheu übrig haben und beklagen „unsere konsensitiv geschlossene Öffentlichkeit“ (Strauß). Der Erfolg dieser Medienstrategie ist ein doppelter: Nicht nur sorgen die von den Autoren so ausgelösten Streitfälle, Affären, Debatten, Skandale dafür, dass ihr Name weiterhin zu den meistgenannten im Literaturgeschäft zählt, ihr Marktwert also in der von ihnen so lautstark verachteten, weil nur an Prominenz und nicht an literarischer Qualität interessierten Öffentlichkeit möglichst hoch bleibt. Zum anderen verschaffen sie selbst ihren eher unpolitischen, stilleren Werken – zu denen man den jetzt erschienenen Band „Mikado“ von Strauß getrost zählen darf – zusätzliche Aufmerksamkeit. Denn nach den Regeln unseres ebenso fiebrigen wie fahrigen Medienmarktes ist es natürlich eine Aufsehen erregende Nachricht, wenn einer der notorischen politischen Polterer wie Strauß nun ein unpolitisches, unpolemisches, ein poetisches Buch geschrieben hat

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Der amerikanische Absolvent

 John Updikes Roman: „Terrorist“
Geht das? Kann man nach traditionellem Muster einen psychologischen Roman über einen islamistischen Selbstmordattentäter schreiben? Also einen Roman, der in erster Linie von der Fähigkeit des Autors lebt, sich in die Seele der Hauptfigur einzufühlen? Geht das, auch wenn der Autor vom Liberalismus der westlichen Gesellschaft und von seiner christlich Herkunft so durch und durch geprägt ist wie der Amerikaner John Updike? Kann ein solches Buch den Lesern etwas über Menschen verraten, die sich von Bomben zerfetzen lassen, nur um – wie es inzwischen routinemäßig in den Nachrichten heißt – möglichst viele andere mit sich in den Tod zu reißen? Oder muss sich so ein Roman nicht unvermeidlich in kopfschüttelnder Ablehnung seines Helden erschöpfen, in polemischen Unverständnis für sein Handeln? Genauer gefragt: Worin sollte der Erkenntnisgewinn eines solchen Romans liegen? Kann ein zutiefst westlicher Erzähler glaubhaft die Motive eines antiwestlichen Fundamentalisten darstellen? Schildert er nicht vielmehr zwangsläufig seine Vorurteile über solche Motive? Oder schlimmer noch: Falls er in einer Aufwallung von kulturellem Selbsthass den Anschlag des Terroristen zu rechtfertigen versuchte – rechtfertigt er dann nicht genau betrachtet eher den eigenen Selbsthass als die tatsächlichen Antriebe gewalttätiger Islamisten? Wäre es für einen Schriftsteller nicht sinnvoller, sich diesem Thema in einem Essay zu nähern, wie es Hans Magnus Enzensberger jetzt mit „Schreckens Männer“ (Suhrkamp Verlag, 5,- €) getan hat? Kommt er den Realitäten nicht näher, wenn er die Beweggründe des Terrors mit forscherischem Interesse von außen analysiert, anstatt sie in einem psychologischen Roman aus den Erfahrungen des Täters heraus veranschaulichen und erlebbar machen zu wollen? Doch John Updike ist kein Dummkopf. Im Gegenteil, er zählt zu den größten Romanciers der Gegenwart und selbst die schwächeren Bücher, die ihm gelegentlich unterlaufen, sind immer genau durchdacht und mit so meisterhaften Passagen durchsetzt, dass es lohnt, sie zu lesen. In seinem neuen Roman „Terrorist“ nimmt er vielen der genannten Einwände von Anfang an den Wind aus den Segeln, denn sein Held Ahmed ist zwar ein Islamist, der bereit ist, im Kampf gegen den american way of life zum Selbst- und Massenmörder zu werden. Aber er kommt nicht aus einem anderen Kulturkreis, sondern ist als Sohn eines ägyptischen Vaters und einer irischstämmigen Mutter in Amerika geboren, dort aufgewachsen und darf sich also mit gleichem Recht Amerikaner nennen wie jeder andere Bürger dieses Landes auch. Damit entschärft oder – je nach Perspektive – verschärft Updike das Thema seines Romans. Der Antrieb zum Terror entsteht bei seinem Helden nicht aus einem elementaren Kulturgegensatz, nicht aus dem clash of civilizations. Der ägyptische Vater hat das Land bald wieder verlassen und Ahmed wuchs bei seiner Mutter auf, die als Krankenpflegerin und Hobbymalerin ein nicht eben bürgerliches, aber doch recht gewöhnliches amerikanisches Leben führt. Ahmed wird also nicht als Außenstehender zum Feind des westlichen Lebensstils, sondern er wendet sich als Kind Amerikas erst dem Islam und schließlich dem Islamismus zu. Von einem solchen Jungen aber trennen Updike keine himmelweiten kulturellen Differenzen. In dessen Seelenleben kann er sich als weißer Ostküsten-Amerikaner mit dem gleichen erzählerischen Recht hineinimaginieren, wie etwa in das des polnischstämmigen Una-Bombers oder eines italienischstämmigen Mafiabosses. Tatsächlich ist sein Ahmed eine überzeugende, glaubwürdige Figur geworden. Er lebt in New Jersey, in einem kleinen, abgewirtschaftet Industriestädtchen unweit von Manhattan, ist knapp 18 Jahre alt und beendet gerade die High School. Nun steht ihm die Welt offen, und da er begabter und disziplinierter ist als die meisten seiner Altersgenossen, wäre er wie prädestiniert dazu, Karriere zu machen und den amerikanischen Traum für sich wahr werden zu lassen. Doch materieller Wohlstand interessiert Ahmed nicht. Vielmehr hat er sich, seit er dreizehn ist, immer entschiedener dem Islam zugewandt. Die Motive für diese Bekehrung, die Updike unaufdringlich in die Geschichte einwebt, sind vielfältig: Da ist die Sehnsucht des vaterlos aufwachsenden Jungen nach Autorität, dazu sein pubertäres Abgrenzungsbedürfnis der eher atheistischen als christlichen Mutter gegenüber, zudem seine Neidung, soziale Minderwertigkeitsgefühle durch die Vorstellung religiöser Auserwähltheit zu kompensieren und schließlich der Wunsch, den in Straßenbanden organisierten Schwarzen und Latinos seines Alters mit einem ausgeprägt arabischen Selbstbewusstsein entgegenzutreten zu können. Zu einer Gefahr wird diese jugendliche Identitätssuche allerdings erst durch einen fanatischen Imam, der Ahmed in antiwestlichem Sinne manipuliert. Der Koran liefert dazu, so zeigt Updike, wie mache andere Heilige Schriften auch eine Menge Parolen, mit denen unerfahrenen Gläubigen eingeredet werden kann, alle Ungläubigen seien des Teufels und gehörten geradewegs in die Hölle. Dieser Imam stellt dann auch den Kontakt zu der Terror-Gruppe her, für die Ahmed einen mit Sprengstoff beladenen Lastwagen in einem der Autotunnel von New Jersey nach Manhattan in die Luft jagen soll. Dieser Teil der Geschichte könnte auch aus einem intelligenten geschriebenen, aber spannungsarmen Polit-Thriller stammen. Doch zur literarischen Gegenfigur des Imam macht Updike keinen Agenten des neuen Heimatschutzministeriums, das in diesem Roman alles in allem mehr Unheil stiften als verhindern, sondern einen alten, resignierten, jüdischen High-School-Lehrer Ahmeds. Und den Blick, den Updike seine Leser durch die Augen dieses Lehrers auf den gegenwärtigen Zustand der USA werfen lässt, ist zutiefst ernüchternd. Noch nie hat Updike, dieser große Chronist der amerikanischen Gesellschaft der letzten fünfzig Jahre, ein so kritisches Bild vom eigenen Land gemalt, noch nie hat er die hässlichen, kaltherzigen, erbärmlichen Aspekte der amerikanischen Alltagskultur so sehr in den Vordergrund gerückt wie in diesem Buch. Kurz: Updike macht es sich erzählerisch so schwer wie möglich. Er konfrontiert die engstirnige Welt der religiös vernagelten Terroristen nicht mit der glänzenden Schauseite eines mächtigen, modernen Amerikas, sondern betont bewusst die unerfreulichen Konsequenzen der westlichen Lebensweise. Und vor allem für den schmerzlichen Mangel des Westens an metaphysischer Gewissheit hat Updike, der bei all seiner Urbanität immer auch ein mit und um Gott ringender Autor war, stets eine besondere Sensibilität gehabt. Ja, er geht sogar so weit, den müden, ja lebensmüden Lehrer Ahmeds zwar nicht in die Pläne der Terroristen einwilligen, aber schließlich vor ihnen kapitulieren zu lassen – was dann doch noch für ein unerwartet spannende Finale des Buches sorgt. Sicher, manche der Dialoge zwischen Ahmed und seinem Imam, seiner Mutter, seinen Kollegen oder Schulfreunden sind zu trocken, zu programmatisch geraten. Man merkt ihnen als Leser etwas zu deutlich an, in welcher politisch-argumentativer Absicht der Autor sie geschrieben hat und ist verstimmt. Auch manche Wendung der Handlung wirkt konstruiert und wenig überzeugend. Schon deshalb wird man „Terrorist“ nicht zu den großen Updike-Roman zählen können. Aber das wie nebenbei entworfene Porträt des Milieus hoffnungsloser, seelisch wie materiell verwahrloster amerikanischer Underdogs, in dem Ahmed aufwächst, ist brillant. Und wenn er zwischendurch Ahmeds altem Lehrer eine kurze Liebesaffäre mit Ahmeds Mutter gönnt und das Bettgeflüster der beiden belauscht, dann läuft er wie immer bei solchen Themen zu großer Form auf und man spürt, was für ein grandioser Erzähler dieser John Updike ist.

John Updike: „Terrorist“. Roman Aus dem Englischen von Angela Praesent Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 397 Seiten, 19,90 €

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