Die Seele ist wund

Die Trauerfeier für Robert Gernhardt in Frankfurt
Es war einer dieser strahlenden Sommertage, hell und leuchtend, wie Robert Gernhardt sie geliebt hat. Hunderte von Trauergästen versammelten sich auf dem Frankfurter Hauptfriedhof, um sich von ihm, der das Licht zeitlebens so blendend besungen und gemalt hat, endgültig zu trennen. Trost gab es da kaum. Allenfalls in den Zeilen seines Dichterkollegen Gottfried Benn: „Am schlimmsten: / nicht im Sommer zu sterben, / wenn es hell ist / und die Erde für Spaten leicht.“ Dieses Schlimmste blieb Gernhardt erspart. Aber ist das ein Trost? Sie waren alle, alle da, um einen der Größten aus ihrem Kreis zu verabschieden. Frankfurt ist heute, hat Gernhardt einmal geschrieben, „der Ort mit der größten Satirikerdichte Deutschlands“. Angelockt nicht zuletzt durch die hier angesiedelten Satiremagazine „Pardon“ und „Titanic“ haben sich in dieser Stadt mehr Autoren und Zeichner mit Talent zur Komik niedergelassen als irgendwo sonst im Land. Der Ruhm der „Neuen Frankfurter Schule“, dieser lockeren Vereinigung unterschiedlichster Künstler-Temperamente im Zeichen von Witz und Spott und Ironie ist bundesweit längst legendär. Wenn Frankfurt heute so etwas wie eine literarische Seele hat, dann ist sie machtvoll geprägt durch diese Komik-Fachpersonal. Doch die Seele in wund. Und das nicht erst seit Gernhardts Tod vor gut einer Woche. Die komische Literatur und Kunst aus Frankfurt und Umgebung erlebt eine Schwarze Serie ohnegleichen. In den vergangenen vier Jahren starben der Kabarettist Matthias Beltz, der Jazzgitarrist und Cartoonist Volker Kriegel, die Gründungsmitglieder der Neuen Frankfurter Schule Chlodwig Poth und F.K.Waechter, der Cartoonist und Maler Bernd Pfarr und die Pianistin und Kabarettistin Anne Bärenz. Und sie starben ausnahmslos vor ihrer Zeit, allzu viele erlebten nicht einmal ihren sechzigsten Geburtstag. Der Tod hat schrecklich reiche Ernte gehalten unter Leuten, denen die Herzen zuflogen, weil sie Kritik und Komik, Geist und Gelächter, Poesie und Pointen zu verbinden verstanden zu einer lebenssteigernden, weil Gedanken, Gefühle und Gelüste ihres Publikums intensivierenden Mixtur. Nicht zuletzt das macht den Abschied von ihnen so schwer: Denn in ihrem Witz lag immer auch ein utopisches Moment, ihr Witz barg immer auch eine Erinnerung daran, welche Lust das Leben sein könnte. Und wer versteht sich schon darauf, von solcher Utopie Abschied zu nehmen? Natürlich wäre es zuviel gesagt, wollte man behaupten, daß eine ganze Stadt derzeit Trauer trägt um Robert Gernhardt. Frankfurt hat sich in den vergangenen Tagen der Euphorie der Fußball-WM hingegeben, so wie das ganze Land. Doch mischte sich bei einem großen Teil der Bürger dieser Stadt seit der Nachricht von Gernhardts Tod in die Festtagstimmung das Empfinden, einen ganz persönlichen Verlust erlitten zu haben. Man hat Gernhardt, der über vierzig Jahre in Frankfurt lebte, nicht nur auf Lesungen gehört, man ist ihm auch auf Straßen, in Kneipen oder Cafés begegnet. Es ist verblüffend, wie viele Menschen, die sich keineswegs zum Literaturbetrieb zählen, Gedichte von ihm liebend gern auswendig hersagen und einige seiner Zeilen regelrecht zu ihrer intimen Bewußtseins-Ausstattung zählen. Welcher Schriftsteller sonst könnten heute Ähnliches von sich und seinem Werk behaupten? An Gernhardts Sarg sprachen Bernd Eilert über ihn als Dichter, F.W. Bernstein über ihn als Zeichner, Peter Knorr über ihn als Satiriker und Petra Roth, die Frankfurter Oberbürgermeisterin, dankte dem Toten im Namen der Stadt. Niemand konnte Gram und Schmerz in den Reden seiner drei Weggefährten überhören, niemand aber auch diesen unvergleichlichen Ton aus Intelligenz, Eleganz und Witz, der selbst die Trauergemeinde einiges Lachen entlockte. Gernhardt und seine Freunde haben diesen Ton, der so herrlich leicht ist und so schwer zu treffen, in die Literatur und damit ins Leben ihrer Leser gebracht. Und er wird so schnell nicht wieder verschwinden, denn er ist nicht zuletzt aufgehoben in Gernhardts Gedichten und Erzählungen. Vielleicht ist das der beste, der einzige Trost an solchen ebenso strahlenden wie trostlosen Tag. Es ist mit Gernhardt etwas in die Welt gekommen, das ihr bleibt. Man kann, auch wenn er tot ist, dem Geist Gernhardts begegnen, sobald man eines seiner Bücher aufschlägt. „Sicher“, sagte Bernd Eilert, der zusammen mit Gernhardt und Peter Knorr unter anderem Texte und Drehbücher für Otto Waalkes schrieb, „sicher“, sagte Eilert, sie hätten gelegentlich im Schatten Gernhardts gestanden, „aber ich habe mich gesonnt in diesem Schatten“.

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Kein Halt, nur Haltung

„Josefine und ich“ – Hans Magnus Enzensberger bittet zum Fünfuhrtee
Josefine K., die Sängerin, hat ihren 75. Geburtstag hinter sich und nicht die geringste Lust, sich dem anzupassen, was hierzulande gerade Mode ist. Sie lebt und redet, wie sie es für richtig hält und wie es ihren Erfahrungen und Vorlieben entspricht. Kompromisse schätzt sie nicht, und sie hat sie in ihrem Alter auch nicht nötig. Das macht sie sowohl zu einem originellen Menschen als auch zu einem interessanten Studienobjekt: Wie wird man mit dem Leben fertig, wenn man sich vom sozialen Gewebe, diesem Mullverband des Daseins, nicht einwickeln läßt, sondern seinen Weg alleine geht? Auch Hans Magnus E., der Schriftsteller, hat den 75. Geburtstag hinter sich und offenkundig immer weniger Lust, bei seiner Arbeit irgendeine Rücksicht zu nehmen. Zu seinen literarischen Vorlieben zählen, so hat er oft bekannt, die Dialog-Erzählungen im Stile Diderots. Daß diese Form den Autor leicht zu einem belehrenden Ton verführt, daß sie ein wenig spannungsarm und unsinnlich ist, muß man ihm nicht sagen, das weiß er so gut wie jeder andere. Aber was kümmert’s ihn? Wenn er ein Stück Prosa zum Lob eines klugen Individualismus’ schreiben will, wählt er natürlich eine Form, die seinen individuellen Neigungen entspricht. Wer die nicht mag, soll halt was andres lesen. Durch einen Zufall, oder genauer: durch einen spontanen Akt des Beistands führt Enzensberger zwei Menschen zusammen, die beide in Lebenskrisen stecken. Joachim, ein dreißigjähriger Wissenschaftler, hat sich von seiner Frau getrennt, weiß wenig mit sich anzufangen und flüchtet in die Arbeit. Josephine, eine in Vergessenheit geratene Künstlerin, ist gesundheitlich und finanziell am Ende, ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, und es liegt ihr auch wenig daran, diese Frist zu verlängern. Aber es gelingt ihr, den jungen Mann für eine allwöchentliche Verabredung zu gewinnen, nur um nach alter bürgerlicher Sitte beim Tee mit ihm zu plaudern. Später notiert Joachim in einem Tagebuch den Inhalt dieser Gespräche. Sie führen, wie sich das für Plaudereien gehört, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Vor allem Josephine gibt dabei ungeniert ihre Gedanken zu Gott und der Welt kund, ohne sich je drum zu scheren, ob sie überzeugend sind oder nicht. Wichtiger ist, daß sie tatsächlich ihren Erfahrungen entspringen, nicht also aus zweiter Hand stammen, und daß sie auf eine Weise formuliert sind, die ihren Gast nicht langweilt. „Die Psychologen“, räsoniert sie etwa, „sind die einzigen, die etwas gegen die Verdrängung haben. Kein Wunder, daß sie unglücklich sind.“ Nicht durch das, was Josephine sagt, sondern dadurch, wie und in welch traditionsbewußten Fünfuhrtee-Rahmen sie es sagt, versucht sie dem vom Liebeskummer gezeichneten Joachim ein Beispiel vor Augen zu stellen. Ein Beispiel für die Einsicht, daß es im Leben keinen Halt gibt jenseits der Haltung, die man sich selbst gibt. Nachdem Joachim ihr auf der ersten Seite der Erzählung in akuter Not Beistand leistete, revanchiert sie sich auf diese unausgesprochne, sehr diskrete und also keine Dankbarkeit einfordernde Weise. Erstaunlich ist, wie wenig positive öffentliche Resonanz Enzensbergers Erzählung bislang beschieden war. In einer Zeit, in der allenthalben von den Traditionen des Bürgertums geschwärmt und eine Rückkehr seines Lebensstils beschworen wird, stößt eine Geschichte, die in Form und Inhalt bürgerliche Kultur auf hohem Niveau zelebriert, im ersten Anlauf auf Unverständnis. Seltsam. Aber vielleicht sind inzwischen nach einigen Jahrzehnten oft dröhnenddummdreister Ratgeberliteratur allzu viele schon zu sehr ertaubt, als daß sie halblaut und indirekt vorgetragenen Ratschläge zur Lebensweisheit noch wahrnehmen könnten – selbst wenn sie von einem erfahrenen Mann in vorgerückten Alter stammen, dem zuzuhören sich fast immer lohnt. Enzensberger hat seine Erzählung durch einige Anspielungen mit Kafkas letzter Prosaarbeit „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ verknüpft. Auch hier ist es nicht die Schönheit des Gesangs, durch die der Mäuse-Star Josephine allen ihren Mitmäusen zum Vorbild wird. Ihre musikalischen Leistungen sind eher mäßig bis miserabel. Aber die Unnachgiebigkeit, mit der sie ihre Haltung wahrt, mit der sie an sich festhält und an ihrer Vorstellung, eine Künstlerin zu sein, flößt ihren Zuhörern immer aufs neue Respekt ein und steigert deren Glauben an die eigenen Möglichkeiten. Und wie Enzensberger dann auf den letzten Seiten seines Buches Abschied nimmt von seiner toten Josefine, voller Gefühl, aber ohne Sentimentalität, das ist sehr anrührend und eines Meisters würdig.

Hans Magnus Enzensberger: „Josefine und ich“. Eine Erzählung Suhrkamp, Frankfurt am Main 148 S., 15,00 €

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Wolfgang Koeppen „war der Modernste“

Zum 100. Geburtstag: Ein Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki zählt Wolfgang Koeppen zu den wichtigsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur und hat Artikel, Kritiken oder Porträts über ihn geschrieben. Anläßlich des 100. Geburtstags von Koeppen am 23. Juni 2006 sprach Uwe Wittstock mit Reich-Ranicki über den Rang dieses Schriftstellers heute.

Uwe Wittstock: Für keinen anderen Schriftsteller haben Sie sich so hartnäckig eingesetzt wie für Wolfgang Koeppen. Heute gehört er unverändert zu den wenig gelesenen deutschen Nachkriegsautoren. Ist Koeppen für Sie als Literaturvermittler eine große Niederlage?
Marcel Reich-Ranicki: Nein. Aber ein Sieg oder ein Triumph war es nun auch nicht. Das erste Buch von Koeppen las ich Mitte der fünfziger Jahre noch in Polen, den Roman „Tod in Rom“. Nachdem ich die frühen Bücher von Böll, Walser oder Siegfried Lenz gelesen hatte, erschien mir Koeppen damals der modernste unter den neueren deutschen Schriftstellern zu sein. Damit begann meine Begeisterung für ihn, ich war entschlossen, seine öffentliche Wirkung nach Kräften zu fördern. Nicht primär, um Koeppen zu unterstützen, sondern weil ich glaubte, daß es für die deutsche Literatur wichtig sei, einem so modernen Erzähler zum Erfolg zu verhelfen. Wittstock: Was erschien Ihnen damals so originell an Koeppen? Reich-Ranicki: Die deutsche Literatur nach 1945 stand insofern unter dem Eindruck des Nationalsozialismus, als sie sich vor allem gegen Geist und Sprache des Dritten Reiches wendete. Die Autoren, die damals ihre Karriere begannen, Wolfgang Borchert, Böll, Schnurre, später Lenz schrieben im Grunde eher konventionelle Literatur, die an den Expressionismus anknüpfte oder unter dem Stichwort „Kahlschlag“ firmierte: Sie kämpften gegen jedes Pathos, jeden Schwulst, noch einfacher gesagt: gegen die großen Worte, die von den Nazis mißbraucht worden waren. Hinzu kam der lapidare, lakonische Stil Hemingways, der viele Autoren damals beeinflußte. Mit all dem hatte Koeppen nichts zu tun. Er knüpfte an andere Vorbilder an, an Joyce, Dos Passos, Faulkner, Proust und Döblin. Diese Tradition moderner Prosa in Deutschland wieder zu stärken, schien mir sehr wichtig.
Wittstock: Aus heutiger Sicht wirkt manches an Koeppens Romanen gar nicht modern, sondern recht kolportagehaft.
Reich-Ranicki: Gewisse kolportagehafte Elemente finden Sie in fast jedem Roman. Und Koeppens Romane sind von unterschiedlicher Qualität. Keine Frage, sein bedeutendstes Buch ist „Tauben im Gras“. An diesem Roman ist nichts kolportagehaft, das ist große Literatur. Etwas schwächer sind „Tod in Rom“ und „Das Treibhaus“.
Wittstock: War Koeppen für Sie nicht auch eine Gegenfigur zu Arno Schmidt? Wenn Sie Koeppen für die Modernität seiner Prosa loben, dafür, daß er sich an Dos Passos und Joyce geschult hat, trifft das doch in vielleicht noch höherem Maße auf Schmidt zu?
Reich-Ranicki: Ich habe mich viel mit Schmidt beschäftigt. Ich bewundere einige seiner Erzählungen, zumal „Seelandschaft mit Pocahontas“ und „Die Umsiedler“. Beide habe ich in meinen Kanon aufgenommen. Seine Romane haben mich allerdings nie ganz überzeugt, sie sind oft blutleer. Es ist aber richtig, daß Schmidt in mancherlei Hinsicht einen ähnlichen Weg wie Koeppen gegangen ist. Aber weder Schmidt noch Koeppen haben einen großen Einfluß auf die deutsche Literatur der fünfziger und sechziger Jahre gehabt.
Wittstock: Bleiben wir bei Koeppen: Warum hatte er trotz seiner Modernität und Ihres Engagements für ihn so wenig Erfolg? Reich-Ranicki: Sein entscheidendes Buch, „Tauben im Gras“, war im falschen Augenblick erschienen. Es kam 1951 viel zu früh. Das Publikum war weder bereit noch fähig, diese Literatur zu akzeptieren. Joyce war ja damals in der Bundesrepublik nahezu unbekannt, Dos Passos nie populär gewesen oder schon wieder vergessen, und Faulkner setzte sich gerade erst langsam durch. Die Deutschen waren durch die Nazis zwölf Jahre lang von der modernen Literatur abgeschnitten gewesen. Die Leser hatten kein Verständnis für Koeppen, er wirkte allzu avantgardistisch auf sie. Wittstock: Tatsächlich? Reich-Ranicki: Ja, das war so. Viele Leute, die ich persönlich kenne, haben auf meine Empfehlung hin „Tauben im Gras“ gelesen. Und nach fünf oder zehn Seiten klappten die das Buch zu und sagten: „Ich verstehe das nicht.“ Dabei sind die ersten Seiten des Buches besonders gut geschrieben – aber sie sind nicht leicht zugänglich.
Wittstock: Koeppens Roman „Tauben im Gras“ wurde vorgeworfen, lebende Zeitgenossen so genau zu porträtieren, daß diese sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlen könnten. Er hat darauf in seinem Aufsatz „Die elenden Skribenten“ geantwortet. Hat dieser Vorwurf Koeppens Roman damals geschadet?
Reich-Ranicki: Ich glaube nicht. Damals protestierten Leute gegen „Tauben im Gras“ und behaupteten, Koeppen habe ihr Leben in dem Buch dargestellt. Doch er kannte diese Leute überhaupt nicht. Er sagte einmal zu mir, er sei verblüfft gewesen, wie viele Menschen genau jene Gefühle zu teilen schienen, die er in seinem Roman beschrieben hatte: diese Angst, dieses Leiden an der Nachkriegszeit. Er hatte sie offensichtlich genau getroffen. Ein großer Triumph für einen Schriftsteller.
Wittstock: Gibt es nicht noch einfache Gründe dafür, daß Koeppen wenig Erfolg hatte? Im „Treibhaus“ macht er einen Bundestagsabgeordneten zur Hauptfigur, der sich als pädophiler sozialistischer Selbstmörder entpuppt. Ist es wirklich eine Überraschung, daß dieses Buch kein Massenerfolg war?
Reich-Ranicki: Nein, das ist keine Überraschung. Der Held verführt gleich nach dem Krieg ein sechzehnjähriges Mädchen – das ist, wie so vieles in den Romanen Koeppens, natürlich autobiographisch. Literatur ist doch meist Selbstdarstellung. Wittstock: Die Hauptfigur ist sehr eindrucksvoll, aber nicht eben eine, mit der sich viele Leser gern identifizieren würden.
Reich-Ranicki: Ich habe den Eindruck, daß Koeppen „Treibhaus“ viel zu schnell geschrieben hat. Das Buch ist streckenweise flüchtig. Dann kommt hinzu: Das Milieu war zuvor noch nie dargestellt worden. Noch kein anderer hatte die politische Welt in Bonn, das Parlament, die Parteien, die Fraktionen, die Bundestagsabgeordneten zum Thema der Literatur gemacht. Es gab also keine Vorbilder. Trotzdem hätte Koeppen das noch besser schaffen können, wenn er der Sache mehr Zeit gewidmet hätte.
Wittstock: Ist „Tauben im Gras“ wirklich einer der wichtigsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur? Reich-Ranicki: Es ist künstlerisch der beste deutsche Roman dieser Zeit und dieser Generation. Von Arno Schmidt war schon die Rede. Seine Romane scheinen mir doch alle etwas blutleer zu sein. Uwe Johnsohn ist im Kanon selbstverständlich enthalten (eine Erzählung, ein Essay), aber ein Roman wie „Mußmaßungen über Jakob“ scheint mir für die Leser doch zu schwer. Die beiden Romane von Jurek Becker und Patrick Süskind waren für den Kanon vorgesehen, mußten aber der grausamen Umfanggrenze zum Opfer fallen.
Wittstock: In einem der Briefe an Siegfried Unseld beschwert sich Wolfgang Koeppen massiv über Sie: „Reich-Ranicki, gefährlich gekränkt, begreift überhaupt nichts, hat kein Empfinden für Sätze, die nicht in seine Erwartungen passen, er mißversteht erfreut und rührt im Literaturklatsch, er liest nicht, sucht eine Wunde, steckt die Hand hinein und reißt auf zum Schlachtfest.“ Haben Sie mit solchen Äußerungen Koeppens gegen Sie gerechnet, obwohl sie sich so für ihn einsetzten?
Reich-Ranicki: Nein. Ich habe damals, als das geschrieben wurde, noch nicht gewußt, was ich später gelernt habe: Die Autoren wollen meist doch nur gelobt werden. Und werden sie nicht gelobt, behaupten sie immer, der Kritiker sei gefährlich gekränkt, begreife überhaupt nichts und habe kein Empfinden für Sätze. Wittstock: Aber Sie haben Koeppen gelobt.
Reich-Ranicki: Nein. Diesen Brief schickte er an Unseld, nachdem ich über sein Buch „Romanisches Café“ geschrieben hatte, es sei ein Sammelband mit alten Arbeiten, der auch einige „ziemlich schwache Stücke, flüchtige oder nebensächliche Gelegenheitsarbeiten“ enthalte. Das hat mir Koeppen verübelt. Wittstock: Sie sind ein sehr temperamentvoller, aktiver Mensch. Koeppen dagegen war ein großer Meister des Verträumens und Versäumens. Wie sind Sie mit seiner Neigung zur Trägheit, zur Passivität zurechtgekommen? Reich-Ranicki: Schlecht. Ich hatte gehofft, ihn zum Schreiben zu bringen. Und es ist mir auch gelungen, in sehr bescheidenen Grenzen. Also habe ich ihm immer wieder Aufträge gegeben, Bücher des 19. Jahrhunderts für die FAZ zu rezensieren. Manche dieser Bücher habe ich überhaupt nur besprechen lassen, damit er Aufträge erhielt. Aus diesen Artikeln ist dann Koeppens Buch „Die elenden Skribenten“ entstanden. Ich glaube, es ist ein wichtiges Buch, aber natürlich kein Ersatz für den Roman, den ich von ihm zu bekommen hoffte.
Wittstock: In Ihrer Autobiographie „Mein Leben“ nennen Sie Ihren Vater einen „willensschwachen Menschen“ von „erschreckender Untüchtigkeit“ und kritisieren seine „Passivität“. Die Beschreibung könnte ebensogut auf Koeppen passen. War der eine halbe Generation ältere Koeppen für Sie auch so etwas wie eine Erinnerung an Ihren Vater? Und haben Sie sich deshalb so hartnäckig für diese Vaterfigur eingesetzt?
Reich-Ranicki: Nicht im geringsten. Die Ähnlichkeiten, von denen Sie sprechen, waren mir nicht bewußt – weder als ich Koeppen zu fördern versuchte, noch als ich das Buch „Mein Leben“ schrieb. Aber ich verstehe, daß sie heute darauf hinweisen. Wittstock: Könnte es sein, daß Wolfgang Koeppen Sie unbewußt an Ihren Vater erinnert hat?
Reich-Ranicki: Ja.

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Sätze jenseits der Zurechnungsfähigkeit

 Der Streit um Peter Handke und seine Stellungnahmen zum Balkankrieg eskaliert durch die Zuerkennung des Heine-Preises
Wenn Peter Handkes Theaterstück „Spiel vom Fragen“ von der Comédie Française wegen Handkes Engagement für Serbien vom Spielplan gestrichen wird, ist das ein Skandal. Wenn Handke nun aber mit ausdrücklichem Hinweis auf dieses politische Engagement der Heine-Preis zugesprochen wird, ist das ebenfalls ein Skandal – und zugleich ein Symptom. Um mit Frankreich zu beginnen: Daß sich Handke seit Beginn der Jugoslawienkriege zu einem unbelehrbaren Verteidiger des nationalistischen Regimes Slobodan Milosevics entwickelt hat, sorgt seit über einem Jahrzehnt für Aufregung im Kulturbetrieb. Marcel Bozonnet, der Chef der Comédie Française konnte, nein: mußte davon wissen, bevor er das schon 1989 geschriebene und also vom Krieg in Jugoslawien unberührte „Spiel vom Fragen“ auf den Spielplan seines Hauses nahm. Wenn Bozonnet das Stück absetzt, nachdem er verspätet von der Teilnahme Handkes an der Beerdigung Milosevics erfuhr, spricht das nicht nur dafür, daß er auffällig schlecht informiert ist, sondern vor allem dafür, daß er politische und literarische Argumente durcheinander bringt. Dürften nur jene Autoren auf die Bühne gebracht werden, die sich zeitlebens politisch unbedenklich geäußert haben, könnten die Theater mangels aufführbarer Werke gleich schließen. Der Heine-Preis wurde Handke nun aber nicht trotz, sondern wegen seiner politischen Positionen zuerkannt. Die Begründung der Jury lobt ihn nicht mit Blick auf seine Literatur, sondern weil er „seinen Weg zu einer offenen Wahrheit“ eigensinnig verfolge und er seinen poetischen Blick auf die Welt „rücksichtslos gegen die veröffentlichte Meinung und deren Rituale“ setze. Damit feiert die Jury Handke ausdrücklich für seine politischen Auftritte und Thesen, die man – milde formuliert – als verquast und bizarr bezeichnen muß. Um an ein Beispiel von vielen zu erinnern: Als die Nato 1999 Bombenangriffe auf Serbien flog, da sie einen Völkermord im Kosovo befürchtete, kommentierte Handke das in einem Interview: „Gut, jetzt hat die Nato ein neues Auschwitz erreicht.“ Auf die Gegenfrage, er könne doch Luftangriffe auf militärische Ziele nicht mit einem Vernichtungslager der Nazis gleichsetzen, beharrte er: „Damals waren es Gashähne und Genickschußanlagen; heute sind es Computer-Killer aus 5000 Meter Höhe“. Das sind Sätze ohne jedes Maß und jenseits jeder politischen Zurechnungsfähigkeit. Wenn eine Jury solche Verirrungen jetzt nachträglich mit dem Heine-Preis prämiert, ist das unverantwortlich. Es ist unverantwortlich – und zugleich ein Symptom. Denn Handke gehört, wie er einst programmatisch betonte, zu den „Bewohnern des Elfenbeinturms“ und versteht sich letztlich gar nicht als politischer Schriftsteller. Selbst große Verehrer seiner Kunst rätseln, wie er sich in seine blinde Milosevic-Verehrung hineinsteigern konnte. Im Grunde ist Handke ein später Nachfahre der Romantik, dem jedes Nützlichkeitsdenken, jeder Materialismus, ja jede rationale Aufklärung zutiefst suspekt ist. Er betrachtet sich als Poet, der in seiner Dichtung ein vormodernes, in mythischen, quasi-religiösen Gewißheiten geborgenes Lebensgefühl zu rekonstruieren versucht. Versunken in dieses Projekt einer literarischen Remythisierung der Welt, verwechselt Handke Serbien offenbar mit dem Land seiner romantischen Träume. Das „Volk der Serben“ lebt für ihn in einer heilen, von der Zerrissenheit der Moderne unberührten Zeit. Der aggressive Nationalismus Milosevics nahm sich in seinen Augen aus wie der Kampf einer archaischen, friedfertigen Bauernschaft um die Selbstbehauptung ihrer Kultur gegen den Terror eines dekadenten, technizistischen Westens. Um die demokratische Opposition Serbiens scherte Handke sich bei all dem einen Dreck und identifizierte Milosevic schließlich so sehr mit dem Land, daß er auf dessen Beerdigung behauptete, er stehe „an der Seite Jugoslawiens, an der Seite Serbiens, an der Seite Slobodan Milosevics“. Zu Beginn des Krieges war er noch klüger, da sagte er: „Ich bin mit dem serbischen Volk, nicht mit Milosevic.“ Nun ist es keine Überraschung, daß Romantiker, sobald sie ihre hochfliegende Ideen umstandslos mit politischen Zielen kurzschließen, zu hanebüchenen, ja lebensgefährlichen Handlungen neigen. In der deutschen Geschichte gibt es mehr als ein Beispiel dafür, wie falsch verstandener, realitätsblinder Romantizismus einer brutalen Machtpolitik in die Hände spielt. Gerade das aber macht die Entscheidung, Handke den Heine-Preis für seine politische Wirrköpfigkeit zuzusprechen, zu einem so deprimierenden Symptom: Offenbar ist auch im Literaturbetrieb manch einer noch immer nicht geheilt von der Neigung, in notorischen Elfenbeinturm-Bewohnern die besseren Weltenlenker zu sehen, denen sie selbst dann noch begeistert auf ihrem „Weg zu einer offenen Wahrheit“ folgen möchten, wenn diese sich im eklatanten Widerspruch zu den politischen Tatsachen befinden. Inzwischen melden sich immer mehr Kritiker der Jury zu Wort, die dem Düsseldorfer Stadtrat empfehlen die Preisverleihung zu verhindern. Der Rat muß nämlich die Jury-Entscheidung noch bestätigen und SPD, Grünen und FDP, die zusammen die Mehrheit stellen, wenden sich heftig gegen die Wahl Handkes. Allerdings würde ein solcher Beschluß der Stadtpolitiker – wie bereits die Entscheidung der Comédie Française das „Spiel vom Fragen“ abzusetzen – Handke wieder in die Rolle des Verfolgten und Märtyrers bringen. Die Situation ist gründlich verfahren. Vielleicht wäre es ein Ausweg, die Jury – der unter anderem Gabriele von Arnim, Sigrid Löffler, Julius H. Schoeps und Christoph Stölzl angehören – dazu zu bewegen, in einer überarbeiteten Begründung nachdrücklich klarzustellen, daß der Heine-Preis dem Schriftsteller Handke und eben nicht seinen abwegigen politischen Positionen gilt.

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Der Lyriker Ludwig Greve

1924 in Berlin in eine assimilierte deutsch-jüdische Familie hineingeboren, sah sich Ludwig Greve, wie er schrieb, 1933 durch die Nazis zum „Juden ernannt“. Auf der Flucht wurden der Vater und die Schwester 1944 in Italien verhaftet und schließlich in Auschwitz ermordet. Nur Mutter und Sohn konnten sich retten. Nach einer Zwischenstation in Palästina fand er im Marbacher Literaturarchiv Arbeit und Freunde. Er veröffentlichte einige wenige Lyrikbände, die unter Kennern hoch geschätzt werden, und starb 1991. Greve war, darin gleicht er Gernhardt, ein Meister der traditionellen lyrischen Formen und hat sich, durch strenge Formen gleichermaßen gestärkt wie geschützt, an die finsteren Erfahrungen seines Lebens gewagt. Vater und Schwester widmete er ergreifend schöne Gedichte. Greve gelang es, obwohl er, wie er schrieb, sie „schweren Mutes anfing“, den Gedichten einen im doppelten Sinne schwer faßbaren Unterton von Glück zu verleihen. „Genügt die Trauer?“ heißt es in der letzten Strophe der Ode auf den Vater, „Atem, Begeisterung, / die Liebesnächte danke ich deinem Grab / und auch die Kinder: unerschöpflich / höre sie lachen … Ich komme, Vater“.

Ludwig Greve: „Die Gedichte“ Wallstein Verlag, Göttingen 2006 268 S., 24,- €

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Autor, Arzt, Abenteurer

Der Erzähler Ernst Augustin ist nicht zum fassen. Ein Porträt
Die Pariser Oper gefällt ihm. Also hat er sie sich ins Haus geholt. Genauer: maßstabsgerecht verkleinerte Teile davon. Zwei gut ein Meter hohe, grauweiße Modelle der Fassade stehen in Ernst Augustins Arbeitszimmer und laden ein zu Spaziergängen unter prachtvollen Arkaden, zu Streifzügen über marmorne Aufgänge und Treppen, zum Flanieren durch festliche Entrees, Foyers, Hallen und Spiegelsäle. Oder auch zur Suche nach verborgenen Winkeln, versteckten Türen, labyrinthischen Fluchtgängen, wie sie Phantome in der Oper bekanntlich brauchen. Und fassadenkletternde Trickdiebe auch. Weiterlesen

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„Horns Ende“ und „In seiner frühen Kindheit ein Garten“

Zwei Romane von Christoph Hein als „Deutschlandprojekt“ im Frankfurter Schauspielhaus

Der Erzähler und Dramatiker Christoph Hein hat gut ein Dutzend Theaterstücke geschrieben. Was also liegt näher für die Schauspielhäuser in Leipzig und Frankfurt am Main, als mit vereinten Kräften zwei seiner Romane auf die Bühne zu stellen – und das ein „Deutschlandprojekt“ zu nennen. Der Roman „Horns Ende“ wurde 1985 veröffentlicht und erzählt von dem Historiker Horn, der in den fünfziger Jahren aus der SED ausgeschlossen und in das Provinznest Bad Guldenberg strafversetzt wird. An dem fragwürdigen Urteil und der engherzigen Atmosphäre der Kleinstadt reibt er sich über Jahre hinweg wund. Als man ihm erneut ideologische Verfehlungen vorwirft, hängt sich auf. Sicher, das Buch beschränkt seine Kritik am SED-Regime auf die frühen Jahre der DDR. Doch als „Horns Ende“ fünf Jahre vor dem Mauerfall erschien, war selbst das für einen Autor, der in Ost-Berlin lebte, alles andere als bequem. Heins Neigung zu politisch unbequemen Themen zeigt sich auch in seinem Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“, der vor zwei Jahren erschien. Hier orientierte er sich an der Affäre um die mißglückte Verhaftung der Terroristen Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld 1993 in Bad Kleinen. Eine Zeugin sagte damals aus, der verletzte Grams sei von einem Polizisten regelrecht hingerichtet worden. Innenminister und Generalbundesanwalt traten zurück. Obwohl Beweismittel verschwunden waren, gab die Bundesregierung eine Ehrenerklärung für die beteiligten Beamten ab. Bis heute weiß die Öffentlichkeit nicht genau, was sich in Bad Kleinen abspielte. Bei Christoph Hein heißt der Getötete Zurek und der Roman entfaltet dessen Geschichte aus der Perspektive seines Vaters, eines pensionierten Schulleiters. Der will die Behörden mit allen rechtlichen Mitteln dazu zwingen, die zahllosen Ungereimtheiten der Affäre aufzuklären. Wie Horn wurde auch Zureks Sohn früh durch ein fragwürdiges Verfahren in die Konfrontation mit dem Staat getrieben: Er saß wegen nie bewiesener Vorwürfe ein halbes Jahr in Untersuchungshaft, danach erst tauchte er in die Illegalität ab. Doch Verbrechen konnten Zurek jr. nie nachgewiesen werden. Ist er letztlich als Unschuldiger erschossen worden? Armin Petras, der in beiden Fällen Regie führt, rückt nicht die politischen Aspekte der zwei Geschichte in den Mittelpunkt. Das sächsische Provinz-Trauerspiel „Horns Ende“, das er zunächst im sächsischen Leipzig uraufführte, löst er auf in einen Reigen nur flüchtig verbundener, schlichter Kurzszenen. Das Bühnenbild (Kathrin Frosch) zeigt durch ein großes Fenster ein Landschaftsidyll, das, wie die sozialistische Utopie, in weiter Ferne liegt. Im ärmlich möblierten Vordergrund aber vergiften sich die Menschen ihre Leben mit Mutlosigkeit, Brutalität und Intrigen. Zu Anfang gibt Petras den Schauspielern noch Gelegenheit, die Figuren, die sie verkörpern, auch zu spielen. Ronald Kukulies als illusionsloser sozialistischer Polit-Manager und Bettina Riebesel als ums Leben betrogene alleinerziehende Mutter sind zunächst eindrucksvoll. Dann aber müssen sich alle wieder in den bei Petras üblichen Hampeleien ergehen, müssen gegen Möbel treten, Blutsturz markieren, die Hosen runterlassen, den nackten Hintern zeigen. Ganz anders die zweite Romanbearbeitung (von Jens Groß). Die in Hessen angesiedelte Geschichte hatte jetzt im hessischen Frankfurt Premiere. Petras, der sich in Frankfurt bislang darauf beschränkte, klassische Dramen bis zur Unkenntlichkeit zu zerstören, verwandelt den Stoff in ein konzentriertes, psychologisch ausgefeiltes Kammerspiel. Der Vater (Andreas Leupold) ist vom Tod des Sohns wie gebannt und verläßt seinen Platz am Tisch nicht mehr. Die Mutter (Friederike Kammer), eine gnadenlos fürsorgliche Glucke mit Gesundheitsschuhen und Twin-Set, hat in der Seele ihres Sohnes vielleicht tiefere Verheerungen angerichtet als jede Terror-Ideologie. Auch hier zeigt das Bühnenbild, wie das zu „Horns Ende“, ein großes Fenster. Doch gibt es den Blick nicht frei auf eine hoffnungsspendende Landschaft, sondern ist mit Rolladen bleiern verschlossen: Keine Utopie, nirgends. In der Nachkriegswelt von „Horns Ende“ sind die Räume zwar schäbig, aber noch mit schäbigem Leben erfüllt. Dagegen ist in der Wohnung der Zureks das Leben längst vorüber. Die bloßen Drähte starren aus den Steckdosen, an den Wänden zeigen nur noch Flecken und Schatten, wo einst Möbel standen und Bilder hingen. Hier ist jeder Daseinsmut erloschen. Auch wenn Vater Zurek gegen Ende die Kraft finden, den Tod des Sohnes zu akzeptieren und sich von seinem Stuhl erhebt, bleibt er doch ein lebender Leichnam. Auch wenn man diese Diagnose, mit der Armin Petras wohl nicht nur Zurek, sondern das ganze Land meint, nicht teilt, bleibt dies doch die dichteste, überzeugendste Inszenierung, die er in Frankfurt je gezeigt hat.

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Neuer Deutscher Skandalismus

Volker Weidermanns „Lichtjahre“ und die jüngste Literaturdebatte 

Weshalb passiert mir das nicht? Warum haben immer nur die anderen Glück? Es ist zum Auswachsen. Nie sagt jemand vor aller Ohren „Arschloch“ zu mir. Ich bin enttäuscht. Dabei kann einem als Kritiker in jüngster Zeit kaum besseres passieren. Man ahnte ja früher gar nicht, was sich aus so einem öffentlichen Schimpfwort für publizistischer Nektar saugen läßt. Es fing an bei dem Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier. Als ihm im Februar ein von sich selbst berauschter Schauspieler „Arschloch“ nachrief, fühlte sich Stadelmaier in der FAZ gleich zwei Spalten lang gedemütigt und sah allen Ernstes die Pressefreiheit in Gefahr. Was folgte, war ein Inferno aus Interviews, Podiumsdiskussionen und Protestschreiben, weil nun andere allen Ernstes die Kunstfreiheit in Gefahr sahen. Jeder redete über Stadelmaier, jeder wollte die Inszenierung sehen. Kurz: bestes Marketing. Das hat natürlich allen Beteiligten viel Spaß gemacht. Deshalb geht das gleiche Stück nun in die zweite Runde. Diesmal wurde der Literaturkritiker Hubert Winkels „Arschloch“ genannt von dem Schriftsteller Maxim Biller, der in der Buchbranche einen exzellenten Ruf genießt als Nervensäge. Prompt sieht Winkels gleich auf vier Spalten in der „Zeit“ die anspruchsvolle Literaturkritik in Gefahr und deshalb auch die „Standards einer diskursiv flankierten, über Kritik, formale Skrupel und sprachliche Experimente funktionierende Literatur“ unter die Räder kommen. Sofort große Aufregung, Debatten überall, kurz: ein prächtiger Erfolg. Auslöser dieser zweiten Runde im Neuen Deutschen Skandalismus war das Buch „Lichtjahre“ von Volker Weidermann, eine, wie es im Untertitel heißt, „Kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“. Weidermann ist ein exzellenter Stilist und einer der Feuilletonchefs der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, in der, nebenbei bemerkt, sein so wortmächtiger Verteidiger Biller mit einer Kolumne vertreten ist. Von einigen Kritikern, darunter auch von Winkels, mußte sich Weidermann vorhalten lassen, er schreibe in seiner Literaturgeschichte zwar überaus anregend über das Leben einiger Schriftsteller, schweige sich aber zu oft über deren Bücher aus. Vielleicht hätte er seine „Lichtjahre“ also im Untertitel besser eine Galerie von Autorenporträts und nicht eine Literaturgeschichte genannt. Gut. Kaum von Biller beleidigt, stemmte Winkels die Frage nach dem adäquaten Untertitel allerdings in bester Stadelmaierscher Tradition hoch zu einer Frage von Sein oder Nicht-Sein der Literaturkritik. Die habe sich nämlich, behauptet Winkels, heute gespalten in „Emphatiker“, die – wie Weidermann – in ihren Artikeln zwar von Büchern schwärmen, aber wenig über ihre ästhetische Machart verraten, und in „Gnostiker“, die – wie Winkels – in ihren Rezensionen eher den historischen Vorbildern eines Buches nachspüren und dessen formale Stärken oder Schwächen beschreiben möchten. Fast könnte man angesichts dieser feinsinnigen Unterscheidungen den Eindruck haben, Winkels versuche dem Publikum eifrig zu erklären, daß seine Kritiken klüger seien als die von Weidermann. Ach ja. Seltsamerweise erwähnt Winkels in seinem Aufsatz mit keinem Wort das Publikum, an das sich die verschiedenen Literaturkritiker in den verschiedenen Medien wenden. Dabei liegt auf der Hand, daß sich eine Rezension in einer Tages- oder Wochenzeitung anderer Ausdrucksformen bedienen muß als eine Abhandlung in einer Vierteljahreszeitschrift, die sich nur an Kenner richtet. Schon deshalb ist es unsinnig, wenn Winkels etwa Elke Heidenreich, die schon herausragende Literaturanalysen in Zeitungen oder Zeitschriften publiziert hat, nun vorwirft, im Fernsehen als „Emphatikerin“ den Zuschauern Romane zu empfehlen, ohne ihnen zur Begründung längere theoretische Erörterungen mitzuliefern. Winkels dagegen liebt, auch wenn er sich in der „Zeit“ mit seinen Rezensionen an eine große Leserschaft wendet, lange Inhaltsangaben, lange Sätze, viele Fremdworte (ein „Gnostiker“ ist laut Duden jemand, der „Erlösung durch Erkenntnis Gottes und der Welt“ sucht) und dazu Sätze wie: „Kaum nötig zu sagen, daß die gesamte islamische Kultur die dort exponierte, aufs Alte Testament zurückgehende theologische Problematik teilt und mit ihrer Ablehnung der Figuration jene ornamentalen Dickichte und Labyrinthe erzeugt, die der Roman von Christoph Peters so ausgiebig vorstellt und auskostet. Man könnte den Finessen, mit denen diese Labyrinthe der Undarstellbarkeit im Roman ausgefächert sind, noch lange weiter nachforschen.“ Letztlich geht es in dieser Debatte also darum, ob ein Kritiker die theoretischen Begründungen für sein Urteil auch in Massenmedien dem Publikum minutiös auseinandersetzen soll, oder ob er sie für sich behalten und statt dessen die Leser seiner Kritik für die guten Bücher begeistern darf. Der deutsche Literaturbetrieb lebt seit Jahrzehnten von derartigen Debatten. Das begann schon mit den Konflikten um die Gruppe 47 und ihre Gegner. Debatten wie die um Fassbinders „Müll, Stadt, Tod“, Botho Strauß‘ „Bocksgesang“ oder Walsers Friedenspreisrede sind unvergessen und haben einiges zur Bewusstseinsbildung der Republik beigetragen. Nun scheint eine nachfolgende Kritiker- und Autoren-Generation in die Fußstapfen der grau gewordenen Debattenmeister von einst treten zu wollen. Doch so lange es bei ihnen nur um Verbalinjurien oder den Wunsch geht, wieder mehr Fremdworte in Zeitungs-Rezensionen zu lesen, bleibt der Beitrag zur Bewusstseinsbildung einigermaßen überschaubar. Volker Weidermann: „Lichtjahre“. Kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006 330 Seiten, 18,90 Euro

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„Arno Schmidt? – Allerdings!“

Eine mustergültige Ausstellung in Marbach präsentiert Leben und Werk eines schwierigen Autors
Viel besser kann man es nicht machen. Die Ausstellung „Arno Schmidt? – Allerdings!“, die zur Zeit im Schiller-Nationalmuseum gezeigt wird, ist klug konzipiert, hoch informativ, nie unkritisch und dazu noch amüsant. Man darf sie geradezu als ein Muster für die öffentliche Präsentation eines Schriftstellerlebens betrachten. Denn Literatur-Ausstellungen geraten nur zu leicht in die Gefahr, sich entweder auf eine weitgehend unsinnliche Abfolge von Vitrinen mit Manuskriptblättern und aufgeschlagenen Büchern zu beschränken, oder aber ins andere Extrem zu verfallen und ihren zwangsläufig textorientierten Gegenstand durch spektakuläre optische Illustrationen zuzukleistern und also zu verraten. Die Ausstellung der Arno Schmidt Stiftung findet hier mit viel Fingerspitzengefühl einen vorbildlichen Mittelweg. Allerdings verfügt sie auch über einem geradezu unerschöpflichen Schatz an Archivmaterialien. Denn Arno Schmidt (1914 – 1979) sammelte von früh an die Zeugnisse der eigenen Biographie und Arbeit mit einer halb buchhalterischen, halb selbstironischen Akribie. Die Stiftung hat dann, nicht zuletzt durch das mäzenatische Engagement von Jan Philipp Reemtsma, dafür sorgen können, daß diese Materialien nach Schmidts Tod nicht in alle Winde verstreut wurden. So muß es für die Kuratoren Susanne Fischer, Jörg W. Gronius, Petra Lutz, Bernd Rauschenbach und Reemtsma selbst ein wahres Fest gewesen sein, diese Ausstellung zu Ehren ihres literarischen Hausgottes zusammenzustellen. Die Freude an der Arbeit merkt man der Präsentation an. Sie konzentriert sich auf zehn Themen: Breit veranschaulicht sie die Biographie des Meisters mit vielen bislang weitgehend unbekannten Fotos und Dokumenten. Einzelne Säle sind jeweils dem Wortschöpfer, dem Landschaftsschwärmer und -fotograf, den Bücherfresser, dem Erotiker und dem politischen Autor Schmidt gewidmet. Da nur wenige andere Autoren mit solchem Nachdruck „Ich“ in ihrem Werk sagten wie Schmidt („Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!“) und er ein besonderer Liebhaber von Mondmetaphern war, werden diese Aspekte des Werks gesondert hervorgehoben. Dazu sind seine legendären Zettelkästen, viele seiner Schreibmaschinen, Lupen, Lesezeichen und schriftstellerischen Handwerkszeuge zu sehen bis hin zu Bücherstützen, Bildvorlagen oder alltäglichen Kleinigkeiten auf die er in seinen Büchern Bezug nahm. Gar nicht genug loben kann man die Sorgfalt, mit der die Ausstellungsmacher nahezu alle Objekte durch knappe Textausschnitte aus den Büchern oder Briefen Schmidts gleichsam vom Autor selbst kommentieren lassen. Kenntnisreich und anregend ist auch die Auswahl der Zitate aus dem Werk, die als Schriftanimationen oder durch Toninstallationen den Besuchern angeboten werden. Der Vorwurf, daß manche eingeschworene Leser Arno Schmidts einen distanzlosen Kult um ihren Autor treiben, ist inzwischen altbekannt. Die Marbacher Präsentation jedoch zeugt nicht von verbohrter Schmidt-Besessenheit, sondern von unverkrampfter Schmidt-Begeisterung, die auch kritische oder ironische Töne nicht ausschließt und gerade deshalb überzeugend und mitreißend wirkt. Wer will, kann es als einen kleinen Nachteil der Ausstellung betrachten, daß sie keine zugespitzte These vertritt. Sie möchte eine knappe Einführung in Leben und Werk Schmidts sein, mehr nicht. So rückt sie diesen Nachkriegsschriftsteller beispielsweise nicht in ein Gesamtbild der deutschen Nachkriegsliteratur. Sie spürt auch nicht den Gründen nach, weshalb der geistreiche, witzige Autodidakt Schmidt sowohl durch andere wie durch sich selbst im Literaturbetrieb in eine Außenseiterrolle gedrängt wurde – und welche Folgen das für sein Werk und dessen Wirkung hatte. Aber, was soll’s. In ihren monographischen Qualitäten ist diese Ausstellung kaum zu überbieten. Und alles andere kann ja noch kommen

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„Arno Schmidt? – Allerdings!“

Eine mustergültige Ausstellung in Marbach präsentiert Leben und Werk eines schwierigen Autors
Viel besser kann man es nicht machen. Die Ausstellung „Arno Schmidt? – Allerdings!“, die zur Zeit im Schiller-Nationalmuseum gezeigt wird, ist klug konzipiert, hoch informativ, nie unkritisch und dazu noch amüsant. Man darf sie geradezu als ein Muster für die öffentliche Präsentation eines Schriftstellerlebens betrachten. Denn Literatur-Ausstellungen geraten nur zu leicht in die Gefahr, sich entweder auf eine weitgehend unsinnliche Abfolge von Vitrinen mit Manuskriptblättern und aufgeschlagenen Büchern zu beschränken, oder aber ins andere Extrem zu verfallen und ihren zwangsläufig textorientierten Gegenstand durch spektakuläre optische Illustrationen zuzukleistern und also zu verraten. Die Ausstellung der Arno Schmidt Stiftung findet hier mit viel Fingerspitzengefühl einen vorbildlichen Mittelweg. Allerdings verfügt sie auch über einem geradezu unerschöpflichen Schatz an Archivmaterialien. Denn Arno Schmidt (1914 – 1979) sammelte von früh an die Zeugnisse der eigenen Biographie und Arbeit mit einer halb buchhalterischen, halb selbstironischen Akribie. Die Stiftung hat dann, nicht zuletzt durch das mäzenatische Engagement von Jan Philipp Reemtsma, dafür sorgen können, daß diese Materialien nach Schmidts Tod nicht in alle Winde verstreut wurden. So muß es für die Kuratoren Susanne Fischer, Jörg W. Gronius, Petra Lutz, Bernd Rauschenbach und Reemtsma selbst ein wahres Fest gewesen sein, diese Ausstellung zu Ehren ihres literarischen Hausgottes zusammenzustellen. Die Freude an der Arbeit merkt man der Präsentation an. Sie konzentriert sich auf zehn Themen: Breit veranschaulicht sie die Biographie des Meisters mit vielen bislang weitgehend unbekannten Fotos und Dokumenten. Einzelne Säle sind jeweils dem Wortschöpfer, dem Landschaftsschwärmer und -fotograf, den Bücherfresser, dem Erotiker und dem politischen Autor Schmidt gewidmet. Da nur wenige andere Autoren mit solchem Nachdruck „Ich“ in ihrem Werk sagten wie Schmidt („Ich finde Niemanden, der so häufig recht hätte, wie ich!“) und er ein besonderer Liebhaber von Mondmetaphern war, werden diese Aspekte des Werks gesondert hervorgehoben. Dazu sind seine legendären Zettelkästen, viele seiner Schreibmaschinen, Lupen, Lesezeichen und schriftstellerischen Handwerkszeuge zu sehen bis hin zu Bücherstützen, Bildvorlagen oder alltäglichen Kleinigkeiten auf die er in seinen Büchern Bezug nahm. Gar nicht genug loben kann man die Sorgfalt, mit der die Ausstellungsmacher nahezu alle Objekte durch knappe Textausschnitte aus den Büchern oder Briefen Schmidts gleichsam vom Autor selbst kommentieren lassen. Kenntnisreich und anregend ist auch die Auswahl der Zitate aus dem Werk, die als Schriftanimationen oder durch Toninstallationen den Besuchern angeboten werden. Der Vorwurf, daß manche eingeschworene Leser Arno Schmidts einen distanzlosen Kult um ihren Autor treiben, ist inzwischen altbekannt. Die Marbacher Präsentation jedoch zeugt nicht von verbohrter Schmidt-Besessenheit, sondern von unverkrampfter Schmidt-Begeisterung, die auch kritische oder ironische Töne nicht ausschließt und gerade deshalb überzeugend und mitreißend wirkt. Wer will, kann es als einen kleinen Nachteil der Ausstellung betrachten, daß sie keine zugespitzte These vertritt. Sie möchte eine knappe Einführung in Leben und Werk Schmidts sein, mehr nicht. So rückt sie diesen Nachkriegsschriftsteller beispielsweise nicht in ein Gesamtbild der deutschen Nachkriegsliteratur. Sie spürt auch nicht den Gründen nach, weshalb der geistreiche, witzige Autodidakt Schmidt sowohl durch andere wie durch sich selbst im Literaturbetrieb in eine Außenseiterrolle gedrängt wurde – und welche Folgen das für sein Werk und dessen Wirkung hatte. Aber, was soll’s. In ihren monographischen Qualitäten ist diese Ausstellung kaum zu überbieten. Und alles andere kann ja noch kommen.

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