„QQ“

Max Goldt, der Meister der Kolumne, und das Glück des freien Geistes
Ein perfekter, ein exemplarischer Max-Goldt-Kolumnen-Absatz: „Die Trunksucht ist grob und brutal; dadurch unterscheidet sie sich, wie es mir vorkommt, von den anderen Lastern. Die anderen sind sozusagen geistiger; manche haben eine Art großen Schwung, wenn man es so nennen darf; es gibt Laster, die etwas vom Erkenntnisdrang in sich schließen, die eine gewisse Sorgfalt, Tapferkeit, Vorsicht, Geschicklichkeit und Feinheit verlangen; die Trunkenheit aber ist ganz körperlich und irdisch.“ Typisch Goldt: Wie da etwas rundum Gewöhnliches („Trunkenheit“), das sonst selten mehr als ein Augenbrauenheben hervorruft, vor den Augen der Leser mit spitzen Fingern auseinandergefaltet wird. Wie da mit einer präzisen Aufgliederung des sonst plump und pauschal verachteten („Laster“) begonnen und Überraschendes zu Tage gefördert wird („großer Schwung“, „Erkenntnisdrang“). Wie die so gewonnenen Einsichten aber gleich relativiert werden („wie es mir vorkommt“). Und wie sich der Autor, was an einem einzelnen Absatz naturgemäß nicht abzulesen ist, sehr bald und völlig ungeniert zu völlig anderen Themen weiterhangelt, etwa zu den Sportübungen seines Vaters, zur weiblicher Keuschheit und dem Mut mancher Märtyrer. Mustergültig. Die Sache hat allerdings einen Haken. Dieser so bilderbuchmäßige Max-Goldt-Kolumnen-Ausschnitt ist nicht von Max Goldt. Vielmehr hat er gut vierhundert Jahre auf dem Buckel und stammt von Michel de Montaigne (1533-1592). Und wer eine unverschmockte Montaigne-Übersetzung wie die von Arthur Franz zur Hand nimmt, wird schnell feststellen, dass die zitierten Passage längst nicht die einzige in den „Essais“ des französischen Landedelmannes der Spätrenaissance ist, die an die ebenso scharfsinnigen wie -züngigen Aufsätze des hochkomischen Berliner Zeitgeistbeobachters unserer Tage erinnert. Was, nebenbei bemerkt, selbstverständlich weder gegen Goldt noch gegen Montaigne spricht, sondern vielmehr für eine bemerkenswerte Geistesverwandtschaft über ein paar Epochen hinweg. Beide haben keine Hemmung, noch die nebensächlichsten Nebensachen der Welt im gleichen Kolumnen-Atemzug zu behandeln wie Fragen auf Leben und Tod. Beide gehen ihre Themen mit bewundernswerter Unvoreingenommenheit an, irgendwelche intellektuelle Verbindlichkeiten, Rücksichten oder Systemzwänge gleich welcher Art sind ihnen komplett fremd. Beide kennen keinen missionarischen Eifer, wollen niemanden überzeugen oder belehren, sondern möchten ihre Überlegungen lediglich so aufrichtig und ungeschminkt wie möglich formulieren: „Gewöhnlich nehme ich mir nichts vor, als alles aufzuschreiben, was mir gerade einfällt, ganz gleich, was es ist, dabei aber nur die Gedanken zu benutzen, die wirklich auf meinem Acker wachsen“ – schreibt Montaigne, doch der Satz könnte eben so gut einem der Äcker Goldts entsprossen sein. In seinem neuen Band „QQ“ zeigt Goldt wieder mal, was er alles kann, und er kann eine Menge. Es gibt nur wenige Schriftsteller, die einen so wachen Blick auf die deutsche Gegenwart werfen wie er. Die amorphe Musiksoße, mit der unsere Sendeanstalten ihre Fernsehspiele beträufeln; die wunderliche Gewohnheit vieler Frauen, Mini-Teddybären an ihre Rucksäcke zu heften; die verblüffende Selbstverständlichkeit, mit der allerorten der „gehobene Vermutungsunsinn“ angeblicher Trend- oder Zukunftsforscher lautstark in die Welt geblasen wird – all das und noch viel mehr macht er zur Zielscheibe eines derart einsichtsvollen wie bitterbösen Spottes, dass man sich fragt, weshalb derlei Unsitten danach noch fortexistieren können. Zudem darf man Goldt einen fabelhaften Sprachartisten nennen, einen Worterotiker und barocken Satzbaumeister, von dessen Meisterschaft sich so mancher vom Literaturbetrieb als Stilist gepriesener Dichterfürst eine Scheibe abschneiden könnte. Er hat dabei nichts von der Blockwartmentalität jener Dudenschwenker, die sich bei der uferlosen Debatte um die Rechtschreibreform wichtig taten. Er ist vielmehr ein Feinschmecker der Sprache, ein Karl Kraus von heute, der dem Bewusstsein seiner Zeitgenossen nachspürt anhand der Phrasen, die sie dreschen. Prachtvoll, wie er in „QQ“ beispielsweise die schwer überbietbare Schleimigkeit der Talkshow-Floskel: „Ich finde es ein unheimliches Geschenk, dass ich hier sitzen darf“ enthüllt. Oder wie er anhand eines einzelnen Satzes aus einer Theaterrezension eine Musterkollektion kritiklos repetierter Schreib- und Denkklischees von beträchtlicher Hohlheit vorführt. Hier enden, nebenbei gesagt, die Parallelen zu Montaigne. Der betrachtete sich, wohl auch angesichts der Verehrung seiner Zeit für die klassische Rhetorik und den notorischen Sprachfetischismus seiner Heimat, eher als einen Freund des schlichten Wortes: „Die Kunst des Ausdrucks schadet der Sache, wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wie bei einem Anzug einen kleinen Geist verrät, wenn sich jemand durch etwas Besonderes und Ungewöhnliches hervortun will, so ist es auch beim sprachlichen Ausdruck. Da entspricht das Suchen nach ungewöhnlichen Satzbildungen und nach ungebräuchlichen Worten einem kindlichen, schülerhaften Ehrgeiz.“ Aber das ist natürlich längst nicht das einzige, was die beiden trennt. Im Gegensatz zu seinem literarischen Urahnen liebt Goldt es, nahezu alles, was ihm begegnet, zum Gegenstand ästhetischer Erwägungen zu machen. Geschmack ist, wie er einmal geschrieben hat, keine „gottgegebene Eigenschaft“, sondern „eine Größe, an der beständig gearbeitet werden muss“. Wer aber so konsequent wie er ästhetische Überlegungen in den Mittelpunkt seines Lebens rückt, will sagen: wer der Welt mit geschärften Sinnen, beträchtlicher Intelligenz und entschlossen Urteilsbereitschaft gegenübertritt, für den verwandelt sie sich in ein Universum wundersamer Überraschungen. Glücklicherweise aber zählt Goldt nicht zu jenen Fanatikern des Stilgefühls, die bereit sind, jedem, der anderen ästhetischen Vorlieben frönt als sie, umgehend das Existenzrecht abzusprechen. Vielmehr bleibt er selbst den eigenen Ansichten nicht sonderlich lange treu, sondern schwingt sich wie ein Freibeuter in der Takelage seiner durch das Meer der Geschmacksurteile kreuzenden Kolumnen-Fregatte munter von Standpunkt zu Standpunkt. Wichtig scheint ihm lediglich eine geradezu buddhistische heitere Achtsamkeit für jedes noch so geringe Detail des Daseins zu sein. Denn jedwede Kleinigkeit kann, wendet man sich ihr nur konzentriert genug zu, zur Steigerung der Lebensintensität beitragen. So findet sich in Goldts Kolumnen die ganze krude Konfusion der Realität wieder, es geht in ihnen so chaotisch zu wie im Leben selbst. Doch wird das Durcheinander hier eben geformt und zusammengehalten durch einen Kunstverstand, der dem ungemilderten Zusammenprall der Kontraste vor allem eins abzugewinnen versteht: Witz, Lebenslust, groteske Komik, Nonsens. Goldt hat, wie schon Robert Gernhardt, einem seiner literarischen Entdecker gleich zu Anfang auffiel, die „Freude am Disparaten“, am „Verwirrspiel“, am „Hakenschlagen“ zur Triebfeder seiner Arbeit gemacht. Mit dieser fröhlichen Verachtung aller üblichen Hierarchien und intellektuellen Ordnungen werden seine Aufsätze zum literarischen Echo eines postmodernen Denkens, das notgedrungen von der Vorstellung zentraler Gewissheiten und strenger Rangfolgen Abschied nahm. Auch wenn Montaigne der Komik lange nicht so viel Wert beimaß wie Goldt, liegt ihm dessen Ziel, lieber aus der Vielfalt ein Fest zu machen als mit Blick aufs kunterbunte Leben intellektuelle Geschlossenheit und Einheitlichkeit herbei zu zwingen, ebenso am Herzen. „Die ganze weite Welt ist der Spiegel, in dem wir uns betrachten müssen“, mahnte dieser vormoderne Meister als sei ihm das heute immer engere Nebeneinander der Kulturen bereits vertraut gewesen: „Es gibt so viele Arten, Neigungen, Sekten, Meinungen, Gesetze und Sitten; ihre Verschiedenheit lehrt uns, den Wert dessen, was bei uns gilt, richtig einzuschätzen; sie lehrt uns, uns bewusst zu werden, wie beschränkt und schwach unser Urteilsvermögen seiner Natur nach ist.“ Vielleicht verbirgt sich hier, in der Selbstbetrachtung bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Selbstrelativierung der Kern jener verblüffenden Verwandtschaft dieser beider Autoren aus so unterschiedlichen Zeitaltern. Wer Goldt liest, fühlt bald eine eigentümliche Beschwingtheit. Woher die kommt? Nietzsche nannte Montaigne einmal einen wahrhaft freien Geist. Dem muss man mit Blick auf Max Goldt beipflichten. Es wäre grundfalsch, sich als Leser Goldts wechselnden Ansichten, Meinungen, Überzeugungen anzuschließen. Doch die Unbefangenheit seiner Urteile und die Freiheit, mit der er sie fällt, färben ab. Man ahnt mit einem Mal, wie unsinnig all die Befangenheiten oder Rücksichten sind, in die wir uns viel zu oft verheddern. Und sofort fühlt man sich leichter, gelöster, freier – und möchte weiter lesen, weiter, immer weiter.

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Rigoletto in Hollywood

Doris Dörrie erzählt von katastrophalen Gefühlen zwischen Vätern und Töchtern
Kein Zweifel, Doris Dörrie betrachtet sich als Entertainerin. Ob sie ihre Geschichten in Büchern oder in Filmen erzählt, immer legt sie großen Wert darauf, ihr Publikum gut unterhalten. Das ist nicht nur sympathisch, sondern hierzulande unter Schriftstellern nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Außerdem hat sie den Mut, ihre Geschichten oft in sehr mondänen und deshalb ziemlich klischeegefährdeten Milieus anzusiedeln. Sie macht Fotomodelle oder Redakteurinnen, Millionäre oder Modeschöpfer zu den Figuren ihrer Bücher und lässt sie von den Schlachten der Liebe, den Schrecken des Alters und des Todes oder dem allmählichen Erstarren in der Ehe berichten. Sie hat dabei manches sichtbar gemacht von der Angst und der Not, die inmitten eines materiell wohlausgestatteten Lebens lauern können und ist dafür viel gelobt, ja von der „Zeit“ sogar zu einer „der besten Erzählerinnen der deutschen Gegenwartsliteratur“ erklärt worden. Ihrer Neigung zu exklusiven Milieus bleibt Doris Dörrie auch in ihrem neuen Roman „Und was wird aus mir?“ treu. Er spielt in Hollywood, in der german community des Filmgeschäfts. Johanna, die in Deutschland sowohl als Schauspielerin wie als Requisiteurin gescheitert ist, flieht nach Kalifornien zu ihrem Ex-Freund, dem Regisseur Rainer. Doch der ist, auch wenn er mit allen Mitteln den Anschein des Erfolgs zu wahren versucht, ebenfalls längst auf dem absteigenden Ast und bekommt aus unklaren Gründen schon seit Jahren keine Aufträge mehr. Marko dagegen, ein gerade mal dreißigjähriger Schnösel, hat sich mit Hilfe von Euro-Millionen, die er in Deutschland naiven Investoren abschwatzt, in Amerika zu einem erfolgsverwöhnten Produzenten von Fernsehserien-Schund aufgeschwungen. Doch genau betrachtet steht nicht das berufliche Auf und Ab im Filmgeschäft im Zentrum des Romans, sondern die mitunter katastrophal enge emotionale Beziehung zwischen Vätern und Töchtern. 2005 versetzte Doris Dörrie ihre Inszenierung von Verdis „Rigoletto“ an der Münchner Staatsoper in eine an den Film „Planet der Affen“ erinnernde Szenerie. Die Musikkritiker erklärten das mehrheitlich zum „Ärgernis des Jahres“. Dennoch hat es der „Rigoletto“-Stoff Doris Dörrie noch immer so sehr angetan, dass sie ihn nun auch ihrem Roman zugrunde legt: So wie der Narr Rigoletto seine vergötterte Tochter Gilda an den gewissenlosen Verführer Mantua verliert, verliert der glücklose Regisseur Rainer seine pubertierende, kapriziöse Tochter Allegra an seinen Erzfeind, den skrupellosen Produzenten Marko. Aber nicht nur Allegra, sondern fast alle Frauen in diesem Buch haben schwer an dem Verhältnis zu ihrem Vater zu tragen – und die Väter an dem zu ihren Töchtern. Johanna kommt, obwohl inzwischen bald fünfzig Jahre alt, nicht darüber hinweg, dass ihr Vater seine Familie abrupt verließ, als sie noch ein Kind war. Einer ihrer amerikanischen Freunde gesteht ihr ein, dass seine Tochter aus Protest gegen seine liberale Erziehungsmethoden zur Armee ging und im Irak-Krieg umkam. Ein totes japanisches Mädchen, deren Geist durch den Roman spukt, brachte sich um, als ihr verständnisloser Vater im Internet Pornofotos von ihr entdeckte. Doris Dörrie verknüpft all das zu einer eher hektischen als spannenden Handlung. Ihr Bedürfnis, den Lesern in jedem der recht kurzen Romankapitel irgendeine Sensation oder einen erregenden emotionalen Höhepunkt zu bieten, ist überdeutlich spürbar. Oft genug nimmt sie dabei allzu wenig Rücksicht auf die psychologische Glaubwürdigkeit ihrer Charaktere. Eben noch hat ein älterer Mann seinen Wagen um ein Haar in einen Abgrund gesteuert, nun aber steht er auf einem einsamen Parkplatz, zückt zur Beruhigung einen Joint und bittet seine Beifahrerin um ein wenig Sex. Die ist eigentlich in einen viel jüngeren Mann verliebt, hat den Fahrer auch erst Tags zuvor kennengelernt, sagt aber aus Mitleid nicht nein und erlebt prompt einen grandiosen Orgasmus. Besonders bedauerlich ist, dass Doris Dörrie zu Hollywood kaum etwas Originelles einfällt. Die Angehörigen des Filmgeschäfts stellt sie wahlweise als oberflächliche Speichellecker, eiskalte Zyniker oder märchenhaft reiche, gewissenlose Neurotiker dar, die allesamt nichts Besseres im Sinn haben, als ihrem Gewerbe noch den letzten Rest künstlerischer Substanz auszutreiben. Vielleicht entspricht das ja den traurigen Tatsachen, Doris Dörrie kennt sich da vermutlich aus. Dennoch passt all das so genau zu den schon tausendfach reproduzierten Klischees von den finsteren Schattenseiten der glamourösen Kinowelt, dass man es sich nur mit wenig Freude noch ein weiteres Mal servieren lässt. Wenn sich Figuren so leicht und überraschungslos auf einige platte Begriffe bringen lassen wie hier, nimmt man als Leser kaum Anteil an ihrem Schicksal und weiß schon bald nicht mehr, weshalb man mit ihnen seine Zeit verschwenden soll. Unterm Strich belegt der Roman einmal wieder, wie schmal der Grat ist zwischen gelungener literarischer Unterhaltung und kolportagehafter Unterhaltungsliteratur. Natürlich enthält auch „Und was wird aus mir?“ einige stärkere Passagen, in denen Doris Dörries Können aus ihren beeindruckenden alten Erzählungen wieder aufblitzt. Doch während sie sich dort ihren Figuren vorurteilslos und voller Neugier zu nähern schien, sind die Helden dieses Buches kaum mehr als der Vorwand für ein Trommelfeuer melodramatischer Effekte. Sie tut des Guten zuviel: Sie sorgt für jede Menge Entertainment, aber sie richtet ihre Geschichte dabei zugrunde.

Doris Dörrie: „Und was wird aus mir?“ Roman Diogenes Verlag, Zürich 2007, 421 Seiten, 22,90 €

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Diese sehr ernsten Scherze Poetikvorlesungen von Daniel Kehlmann

Man könnte meinen, einen gerade mal gut dreißigjährigen Schriftsteller bereits zu Poetikvorlesungen einzuladen, sei ein wenig voreilig. Doch Daniel Kehlmann entledigt sich auch dieser Aufgabe mit viel Scharfsinn, Witz und stets wacher Selbstkritik. Da Schriftsteller, deren Talent üblicherweise im Beschreiben liegt, in Deutschland gern in die Rolle von Befragten gedrängt werden, hat er seinen Vorträgen lieber gleich die Form eines Interviews gegeben, das er mit sich selbst führt. Er fragt dabei allerlei Bemerkenswertes über die eher handwerkliche Seite seiner Arbeit aus sich heraus: Zum Beispiel, dass die Fähigkeit, Szenen überzeugend schildern zu können, viel mit der Kraft des Autors zu tun hat, sich die Szene bildlich bis hin zu Details vorzustellen, die er nicht schildert. Oder dass ein Schriftsteller, wie Norman Mailer es empfahl, einen Pakt mit seinem Unterbewussten schließen müsse: Es solle die Einfälle liefern und im Gegenzug werde der Autor täglich am Schreibtisch sitzen und auf die Einfälle warten. Ein kluges kleines Buch, aus dem man dazu viel erfährt über die literarische Vorbilder und Bezugsgrößen dieses so erstaunlich begabten Erzählers.

Daniel Kehlmann: „Diese sehr ernsten Scherze“. Poetikvorlesungen Wallstein Verlag, Göttingen 2007 43 Seiten, 9,80 €

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Liebe im Haifischbecken

Was heißt hier Wahrheit? Es geht doch um Literatur! Betrachtungen zu Maxim Billers Roman „Esra“.

Maxim Billers Roman „Esra“ ist verboten, aber keine Geheimsache. Wer will, kann das Buch ohne allzu großen Aufwand bekommen. Tippt man zum Beispiel Titel und Autorennamen in eine der Internet-Suchmaschine ein, hat man schnell ein paar Angebote auf dem Schirm. Allerdings hängen die Verkäufer meist ziemlich extravaganten Preisvorstellungen nach. Welche Vorschriften auch immer für den Umgang mit verbotenen Büchern in öffentlichen Büchereien gelten mögen – mir hat man noch jedes Mal, wenn ich mir die kleine Mühe machte, einen Ausleihzettel auszufüllen, ein Exemplar von „Esra“ überreicht. Schwierig wird es erst, sobald das Buch vor einem liegt. Nur wer nie von dem Fall „Esra“ gehört hätte, könnte „Esra“ auch heute noch unbefangen lesen. Bei jedem anderen schiebt sich die Behauptung, der Roman sei gar kein Roman, sondern ein autobiografischer Bericht, wie ein merkwürdiger Filter vor die Augen. Man sieht, sobald man das Buch aufschlägt, nicht mehr literarische Figuren vor sich, nicht mehr den Schriftsteller Adam, seine Freundin Esra und deren Mutter Lale, sondern einen nur notdürftig maskierten Maxim Biller eingerahmt von jenen beiden Klägerinnen, die Roman und Autor inzwischen mit allen juristischen Mitteln bekämpfen. Man macht sich kaum noch Gedanken darüber, ob die hier erzählte Geschichte unseren Blick auf die Welt schärft und bereichert, wie das Literatur im Idealfall tun kann, sondern zu aller erst darüber, wie sehr deren Helden realen Personen ähneln und wie sehr sie ihnen ähneln dürfen. Wenn man das Buch jedoch trotz allem als Roman statt als corpus delicti betrachten, fällt einem schnell auf, dass Biller nicht nur Esra und ihre Mutter Lale als recht anstrengende Persönlichkeiten, sondern auch seinen Ich-Erzähler Adam als einen narzisstisch gestörten Widerling mit unverkennbar hysterischen und paranoiden Zügen beschreibt. Seit das Gerichtsverfahren die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet hat, ob Biller den Klägerinnen durch eine unvorteilhafte Charakterzeichnung von Esra und Lale einen Tort antat oder nicht, werden die ebenso unangenehmen Züge Adams leicht übersehen. Doch wie immer man den Roman beurteilt, man wird ihm – auch juristisch – nicht gerecht, solange man diesen Punkt ausblendet. In der Romanwelt, die „Esra“ vor dem Leser entfaltet, herrscht in emotionalen Fragen das Überlebensgesetz des Dschungels. Hier gibt es keine Guten oder Bösen, sondern nur Starke und Schwache. Wer sich seiner Haut nicht wehrt, wird von den anderen mit imponierender Rücksichtslosigkeit ausgebeutet. Zumeist ist Esra das Opfer, Adam nennt sie deshalb gern Lales oder seine eigene „Sklavin“. Und in stillen Momenten der Selbstprüfung gesteht er sich ein, dass er im Zusammenleben mit ihr oft genug „genauso ein unerträgliches Arschloch wie ihre Mutter“ ist. Aber niemand sollte Esra deshalb für ein Unschuldslamm halten. Immer wenn sie sich Adams Zuneigung sicher sein kann, nimmt sie besonders wenig Rücksicht auf ihn und wird oft kapriziös bis zur Unerträglichkeit. Und als ihre Mutter einmal mit einem Nervenzusammenbruch wehrlos im Krankenhaus liegt, sieht sie ihre Chance gekommen und rechnet derart gründlich mit ihr ab, dass die jahrelang nicht mehr mit ihr spricht. Aber das ist längst nicht alles. Es wäre nicht ganz leicht, eine komplette Liste sämtlicher seelischer Grausamkeiten oder sonstiger innerfamiliärer Brutalitäten zusammenzustellen, die in diesem Buch geschildert werden. Kurz: Biller breitet in „Esra“ ein umfassendes Panorama menschlicher Schwäche und Niedertracht aus. Der literarische Zweck dieser Übung scheint mir offensichtlich. Je düsterer Biller seine Romanwelt malt, desto lichter und anrührender wirken vor diesem Hintergrund die Liebesversuche der beiden Hauptfiguren. Neu ist dieser dramaturgische Kniff nicht, er erinnert eher an altmeisterliche Erzählrezepte. Schon Tausende von Schriftstellern haben Geschichten nach diesem Muster gestrickt, bei manchen wurde tatsächlich Kunst daraus, bei anderen Kitsch. Doch solche Bewertungsfragen, die ohnehin oft genug strittig bleiben, stehen jetzt hier nicht zu Debatte. Entscheidend ist vielmehr, dass der Roman deutlich erkennbar einem ästhetischen Konzept folgt, das nicht auf einen denunziatorischen Racheakt an realen Personen zielt. Biller schildert die Welt als Haifischbecken, in der selbst unter Liebenden oder im trauten Familienkreis jeder nur auf den eigenen Vorteil aus ist. Wenn er seine Helden zudem noch Adam und Esra tauft, und damit gut hörbar die Namen des aus dem Paradies ins böse Diesseits vertriebenen Paares Adam und Eva anklingen lässt, scheint er seiner pessimistischen Diagnose des mitmenschlichen Zusammenlebens einen überzeitlichen, paradigmatischen Anspruch geben zu wollen. Dazu passt, dass er seinem Buch auf dem Schutzumschlag die einigermaßen pathetische Frage „Ist Liebe die letzte Utopie?“ mitgab. Allerdings entwirft Biller in „Esra“ nicht nur ein reichlich finsteres Weltbild, sondern er demontiert dieses Weltbild zugleich wieder mit formalen Mitteln – und diese literarische Selbstrelativierung mildert das Pathos des Buches und macht aus ihm in meinen Augen überhaupt erst einen bemerkenswerten Roman. Biller nutzt dazu drei erzähltechnische Kunstgriffe. Zunächst einmal präsentiert er die Geschichte nicht aus der Perspektive eines unbeteiligten oder eines scheinbar über den Dingen schwebenden, objektiven Erzählers, sondern aus der des Ich-Erzählers Adam, der noch dazu gelegentlich so tut, als würde er den Leser wie in einem persönlichen Gespräch mit einem höflichen „Sie“ direkt ansprechen. Für den Leser ist dabei aber evident, dass diese Gesprächssituation nur vorgetäuscht wird, schließlich spricht der Ich-Erzähler ja nicht tatsächlich bei der Lektüre mit ihm – was den fiktiven, den künstlichen Charakter der Geschichte betont. Zweitens hat Biller aus seinem Ich-Erzähler eine ausgesprochen unangenehme Figur gemacht. Ein derart unsympathischer Erzähler wie Adam, der noch dazu leicht paranoide Züge zeigt, kann jedoch nicht das schrankenlose Vertrauen der Leser gewinnen. Vielmehr werden die Leser vom Autor so regelrecht dazu gedrängt, sich über den Ich-Erzähler ihr eigenes Bild und von seinen Behauptungen mächtige Abstriche zugunsten der anderen Figuren zu machen. Und schließlich, drittens, säen Adam selbst und einige andere Figuren noch ganz ausdrücklich Zweifel an der Version der Geschichte, die er den Lesern serviert: Adam betont mehrfach, dass er in seinen Berichten „übertreibt“, dass er „zu viel Fantasie“ hat und den Lügen anderer aufsitzt. Dazu erinnert Lale in einem der Momente, in denen sie als liebenswert und großherzig geschildert wird, an die notorische Unzuverlässigkeit, ja Unzurechnungsfähigkeit von Autoren: „Diese Schriftsteller haben“, sagt sie, „gar keine Kontrolle über sich. Meistens wissen sie überhaupt nicht, warum sie das schreiben, was sie schreiben.“ Und Esra stellt außerdem noch Adam und damit auch dem Leser gegenüber klar, dass man auf keinen Fall für bare Münze nehmen darf, was der erzählt: „Du weißt überhaupt nicht, wie es wirklich ist“, sagt sie ziemlich zu Anfang des Romans, „du denkst immer nur, du wüsstest es.“ Wer also Billers Roman jenseits des Gerangels vor den Gerichten ohne Eifer und Zorn liest, erkennt schnell, dass er kein wüstes, ehrabschneiderisches Pamphlet ist. Das Buch erzählt eine zeitgenössische Romeo-und-Julia-Geschichte, unterminiert aber zugleich deren Glaubwürdigkeit. Es gibt vor, eine große Liebe exemplarisch an der Schlechtigkeit der Welt und der Unlösbarkeit alter Familienkonflikte scheitern zu lassen, hält aber zu dem enormen Pathos dieses Stoffes mit formalen Mitteln ironische Distanz. Aus literarischer Sicht gibt es also deutliche Indizien dafür, dass Billers Buch nicht auf die Bloßstellung realer Personen zielt. Zumindest wäre es für jeden Autor, der diese Absicht verfolgte, ein Leichtes, sehr viel wirkungsvollere Mittel dafür zu finden, Mittel vor allem, mit denen er seinen Ich-Erzähler in ein vorteilhafteres Licht rücken und ihm so eine weitaus höhere Glaubwürdigkeit verschaffen könnte. Noch wichtiger aber als diese Indizien ist die Tatsache, dass Biller seinem Buch den Untertitel Roman mitgegeben hat, und den Lesern so unmissverständlich signalisiert, dass es sich bei der Geschichte von Adam und Esra um eine Fiktion handelt. Damit sorgt er für eine simple, aber entscheidende Differenz. Ein Roman ist kein Tatsachenbericht. Während Zeitungsartikel, Autobiografien oder Sachbücher für sich in Anspruch nehmen, ihre Leser über Tatsachen zu informieren, weist ein Buch mit dem Untertitel Roman den Leser bereits auf der Titelseite darauf hin, das es keine realen Geschehnisse schildert, sondern eine Fiktionen entfaltet. Mit anderen Worten: Ein Roman beruft sich ausdrücklich nicht auf Fakten, sondern auf die Fantasie seines Autors. Sachbücher, Autobiografien oder Zeitungsartikel lassen sich selbstverständlich an der Frage messen, ob sie Wahrheiten oder Unwahrheiten über reale Personen verbreiten. Mit der gleichen Frage an einen Roman heranzugehen, ist dagegen unsinnig, denn seine Handlung ist nicht wahr oder unwahr, sondern erfunden. Natürlich finden sich immer unbedarfte Leser, die in jeder Geschichte nur einen zum Text geronnenen Abklatsch dessen sehen können, was der Autor erlebt hat – und die damit die eigentlich literarische, das Erlebnismaterial künstlerisch formende Leistung des Autors übersehen. Dieses Missverständnis ist so alt wie die Literatur selbst. Doch es ist nicht einzusehen, weshalb dieses Missverständnis der Literatur zur Last gelegt werden sollte. Bei Vladimir Nabokov heißt es sehr schön pointiert: : „Wer eine Geschichte ‚wahr‘ nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.“ Der gleiche Gedanke lässt sich natürlich auch philosophisch gründlicher und mit deutscher Schwerfälligkeit formulieren. Hans-Georg Gadamer hat sich diese Mühe gemacht. Er beschreibt das Verhältnis zwischen Realität und Kunstwerk als eine „Verwandlung ins Gebilde“. Mit Verwandlung meint Gadamer hier, „das etwas auf einmal und als Ganzes ein anderes ist“, dass es also nicht nur eine äußere, akzidentielle Veränderung durchmacht, sondern einen substanziellen Wandel, bei dem es all das, was es früher einmal war, hinter sich lässt. „Verwandlung ins Gebilde ist nicht einfach Versetzung in eine andere Welt.“ Vielmehr hat das Kunstwerk „sein Maß in sich selbst gefunden und bemisst sich an nichts, was außerhalb seiner ist.“ Mit schlichteren Worten: Die Kunst entfaltet eine eigene Ordnung, die keine Gleichsetzung mit einer vermeintlich abgebildeten Realität mehr zulässt, da sie aus dieser Realität herausgelöst, herausgehoben ist und aus ihr eine andere, wie Gadamer sagt, „höhere“ Wahrheit spricht. Ich fürchte allerdings, dass solche ontologischen Überlegungen vor Gericht keine allzu hohe Durchschlagskraft entwickeln. Was, nebenbei gesagt, ein bemerkenswertes Licht auf das Verhältnis von Philosophie und Jurisprudenz wirft. Bezeichnend ist auch, wie viele Literaturkritiker in den Debatten um Esra die juristischen Argumentationsmuster bereitwillig übernahmen und sich in keiner Weise darum bemühten, stattdessen philosophische oder literaturtheoretische Überlegungen ins Zentrum zu rücken. Aber, geschenkt. Festzuhalten bleibt, dass Biller sein Buch durch den Untertitel Roman ausdrücklich als frei erfunden gekennzeichnet hat, oder drastischer formuliert, dass er seinen Lesern vorab signalisiert, sie mögen seine Geschichte gefälligst als erstunken und erlogen betrachten – und dass er diese vorausgeschickte Etikettierung mit allerlei erzähltechnischen Mitteln noch unterstreicht. Es ist, milde formuliert, nicht sehr logisch, in einer vom Autor ausdrücklich als Lüge und Legende ausgewiesenen Geschichte einen Versuch sehen zu wollen, die Rechte realer Personen zu verletzen.

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In der Opferrolle

 Auf der Leipziger Buchmesse präsentieren sich Günter Grass und Martin Walser effektvoll als die Verfolgten. Selbst teilen sie kräftig aus – vor allem gegen die Presse

Das soll ihnen erst mal einer nachmachen: Zwar haben weder Günter Grass noch Martin Walser in diesem Frühjahr bedeutende Bücher vorgelegt, sondern jeweils nur ein kleines Nebenwerk, und dennoch sind sie zu den dominierenden Figuren der Leipziger Buchmesse geworden. Zugegeben, bei Walser half der 80. Geburtstag kräftig mit, doch er hat schon oft genug unter Beweis gestellt, dass er auf Jubiläen zur Selbstvermarktung nicht angewiesen ist. Die beiden Altstars der deutschen Ü70-Literaturnationalmannschaft, das Angriffsduo Grass-Walser, haben wieder einmal ihr Genie bewiesen, sich präzise im Zentrum des öffentlichen Interesses zu platzieren. Beide sind inzwischen allerdings auch seit über 50 Jahren im Geschäft: Walser debütierte 1955 mit Erzählungen, Grass 1956 mit einem Gedichtband. Wenn sich aber in diesem Frühjahr wieder die meisten Scheinwerfer auf sie richteten, hat das weniger mit ihren aktuellen literarischen Leistungen zu tun als vielmehr mit ihren zugespitzten publizistischen Äußerungen: Grass nannte die deutsche Presse pauschal „entartet“ und warf ihr vor, die Kritik an seinem langen Schweigen über die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS grenze an einen „Vernichtungsversuch“. Als man ihn daran erinnerte, welchen Platz der Begriff „entartet“ im Wörterbuch des nationalsozialistischen Unmenschen einnimmt, gestand er zu: „Ich korrigiere das Wort“, hielt aber in der Sache an seinem Vorwurf fest. Auch Walser ließ, nicht zum ersten Mal, wenig Gutes an der gesamten Medienlandschaft. Es gibt, behauptete er, „nicht einen Hauch von Meinungsfreiheit“. Sobald man von ungeschriebenen, aber deshalb umso eifriger bewachten Sprachregelungen abweiche, so wie er das gelegentlich tue, „bist du ein Nationalist, ein Kommunist oder was weiß ich. Das führt unweigerlich zur Exkommunikation.“ Darüber, mit wie viel Eifer, Gründlichkeit und zumeist auch Sympathie sein 80. Geburtstag von der Presse an die Leser kommuniziert wurde, verlor der angeblich Exkommunizierte kein Wort. Aber niemand sollte es sich deshalb so leicht machen, die Neigung dieser beiden Schriftsteller zur Polemik ebenso pauschal zu verurteilen, wie sie es umgekehrt mit der Presse tun. Die deutsche Literatur, ja der ganze Medienbetrieb, verdankt ihnen einiges. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren, als die Zeitungen noch weitaus staatsfrömmer auftraten, als man das heute glauben mag, war es nicht zuletzt die damals junge Schriftstellergeneration mit Grass und Walser, die durch politische Interventionen am Aufbau einer kritischen Öffentlichkeit mitwirkte und dafür von manchen Politikern als „Pinscher“ oder „Ratten und Schmeißfliegen“ attackiert wurde. Rückblickend kann man die von Autoren entzündeten publizistischen Schlachten als öffentliche Trainingskurse in Sachen Demokratie für ein damals noch demokratieungewohntes Publikum betrachten. Allerdings scheinen die alten Meinungskämpfe bei den Veteranen einen unseligen Hang zum Lagerdenken hinterlassen zu haben – und dazu eine gute Portion Selbstgerechtigkeit. Eine andere Rolle als die der verfolgten Unschuld kommt für sie in den eigenen Augen offenbar nicht infrage. Da sich aber Politiker heute in Debatten mit Schriftstellern gewöhnlich bedeckt halten, bietet sich als Widerpart für die Angriffslust der Autoren vor allem die Presse an, die mit manchen ihrer Äußerungen streng ins Gericht geht. Resultat ist ein grobschlächtiges Schwarz-Weiß-Denken – hier der gute Dichter, da die bösen Medien -, in das auch Peter Handke gern verfällt, wenn man ihm seine Unbelehrbarkeit in Sachen Milosevic vorhält. Nüchtern betrachtet, ist nicht recht begreiflich, worüber Grass sich beklagt. Natürlich muss man ihm dankbar sein, dass er jahrzehntelang einen selbstkritischen Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit forderte und förderte. In was für politische Zwangslagen sich ein Land manövriert, das seine historischen Verbrechen nicht wahrhaben will, lässt sich zum Beispiel an den Problemen der Türkei ablesen, sobald die Rede auf den Massenmord an den Armeniern kommt. Wenn Grass, Walser und andere Autoren die Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus mit literarischen Mitteln ins öffentliche Bewusstsein rückten, haben sie sich damit um ihr Land verdient gemacht. Wenn Grass dann aber eingesteht, selbst ein wesentliches Detail seiner Nazi-Vergangenheit über Jahrzehnte verborgen zu haben, führt kein Weg daran vorbei, ihm einen erheblichen Verlust seiner politischen Glaubwürdigkeit zu attestieren. Vielleicht ist es nicht falsch, in diesem Zusammenhang an den 1984 gestorbenen, im Westen leider weitgehend unbekannten DDR-Schriftsteller Franz Fühmann zu erinnern. Auch er ließ, wie Grass, keinen Zweifel daran, dass er als ein von den Nazis verführter Jugendlicher freudig für Hitler in den Krieg gezogen war. Doch anders als Grass spürte er in seinen Büchern trotz aller Scham den Gründen für seine Verführbarkeit leidenschaftlich nach, legte jedes Detail offen, so schmerzlich das für ihn auch wurde, und bezog daraus dann die Rechtfertigung, eine ähnlich gründliche Selbstprüfung von anderen Deutschen zu fordern. Es war mitunter gespenstisch, in Leipzig dabei zuzuhören, mit welcher Virtuosität Grass es verstand, vom langjährigen Schweigen über den eigenen Fehler abzulenken und stattdessen das „Ausmaß an Niedertracht“ seiner Kritiker zu geißeln. Nicht selten verführt er mit diesem schlichten Trick, sich als den Verfolgten, als das Opfer einer rücksichtslosen Presse hinzustellen, seine Zuhörer zu Beifallsstürmen. Doch fällt er damit den eigenen früheren Bemühungen um eine kritische Öffentlichkeit in Deutschland naturgemäß in den Rücken. Denn zum einen bleibt er seinem Publikum so eine sorgfältige Selbstprüfung schuldig. Zum anderen fertigt er sein Publikum ab mit stammtischhaften, leicht paranoiden Klischees von einer verschworenen Presse, die Vernichtungskampagnen gegen ihn führe. Wie Walser in seiner Polemik, so verschweigt auch Grass, dass die Rezensionen über seine Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ samt SS-Geständnis keineswegs einheitlich ausfielen, dass viele literarische Argumente zugunsten des Buches vorgebracht wurden und dass ihm als Schriftsteller in den Medien nach wie vor großer Respekt entgegengebracht wird. Das öffentliche Engagement, das beide früher einmal aus aufklärerischen Impulsen begannen, gerät so in die Nähe der Demagogie in eigener Sache.

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„Denken wir uns“

Robert Gernhardts letzte Erzählungen
Denken wir uns einen Mann, einen vielbegabten Mann, einen Schriftsteller und Künstler, der gerne denkt und gerne spielt. Was liegt näher, als dass er Denkspiele ersinnt und uns, das Publikum, dazu einlädt, sie spielend mit- und nachzudenken, um uns an ihnen zu erfreuen. Als eine derartige literarische Spielesammlung darf man Robert Gernhardts Buch „Denken wir uns“ betrachten, einen Band mit Erzählungen, den er – neben seinem ebenso schönen wie erschütternden letzten Lyrikband „Später Spagat“ – noch kurz vor seinem frühen Tod im Juni 2006 fertig stellte. Jede der Geschichten beginnt mit den Worten „Denken wir uns…“ Sie stehen da wie drei Wachposten, die jedem, der sie lesend passiert, noch einmal energisch ins Bewusstsein rücken, dass alles Nachfolgende als reine Konstruktion, als literarische Versuchsanordnung, eben als Gedankenspiel zu betrachten ist. Es geht Gernhardt nicht um die in der neueren deutschen Literatur mitunter so hochgeschätzte Authentizität, nicht um Erzählungen, die angeblich wahr sein sollen, sondern vielmehr um künstlerische Wahrhaftigkeit. Gleich mit der ersten Erzählung signalisiert Gernhardt zudem noch an welchen Traditionen er sich hier orientiert, welche Themen ihn vor allem interessieren und – welche Ambitionen er ganz und gar nicht teilt. In dieser Geschichte nämlich greift er zurück auf das „Deutsches Requiem“ aus der Erzählungssammlung „Das Aleph“ (1949) von Jorge Luis Borges, die man zusammen mit Borges’ Sammlung „Fiktionen“ (1944) als die Urzelle der modernen lateinamerikanischen Prosa und des Magischen Realismus’ betrachten kann. Auch die Geschichten in jenen beiden Bänden, sind eher literarische Gedankenspiele als Erzählungen im üblichen Sinne. Im „Deutschen Requiem“ zum Beispiel lässt Borges einen gebildeten deutschen KZ-Kommandanten zu Wort kommen, der in der Nacht vor seiner Hinrichtung die eigenen Verbrechen und die des Nationalsozialismus mit der Geschichtsphilosophie Schopenhauers, Nietzsches und Spenglers zu erklären versucht. Zudem erfindet Borges einen jüdischen Dichter, der sein Werk dem Lobgesang auf die Freude an den kleinen Dingen des Lebens gewidmet hatte und der in jenem KZ stirbt – was von dem Kommandanten als das Sinnbild für das Ende einer humanen und den Anbruch einer „unbarmherzigen Epoche“ betrachtet wird. Mit einem höheren – von Borges allerdings ironisch unterlaufenen – welt- und ideengeschichtlichen Anspruch als diese knapp zehnseitige Geschichte kann eine Erzählung wohl kaum auftreten. Gernhardt hat in seinen Erzählungen für Ansprüche von solch epochalem Ausmaß nur ein Schulterzucken übrig. Er knüpft in seiner Eröffnungsgeschichte nicht an den überspannten nihilistischen Geschichtsanschauungen des KZ-Kommandanten man, sondern demonstrativ an dem einzigen Gedicht jenes fiktiven jüdischen Dichters, das Borges in seiner Erzählung näher beschreibt. Dieses Gedicht nämlich hat mit den großräumigen politischen oder philosophischen Überlegungen der Erzählung nichts zutun, sondern ist selbst wieder eine Art Gedankenspiel über das Verhältnis von Kunst und Leben. Es beschreibt einen Londoner Pfandleiher des 16. Jahrhunderts, der „in seiner Sterbestunde umsonst seine Verfehlungen zu rechtfertigen sucht, ohne zu ahnen, dass die geheime Rechtfertigung seines Lebens darin besteht, dass er einem seiner Kunden (den er nur ein einziges Mal sah und an den er sich nicht mehr erinnert) den Charakter des Shylock eingegeben hat.“ Mit einer solchen spielerischen Reflektion über Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen von Kunstwerken aber sind wir bei einem typischen Thema Robert Gernhardts – und zugleich weit weg vom Schlachtenlärm der so weltgeschichtsentscheidenden Theorien und Ideologien. Wer will, könnte anhand der Art und Weise wie Gernhardt hier Bezug nimmt auf die Erzählung von Borges eine kleine Skizze der Differenzen zwischen einer unter dem Eindruck hochgespannter ideologischer Konflikte entstandenen Literatur der Moderne und einer betont ideologieskeptischen Postmoderne entwerfen. Gernhardts Geschichte läuft auf die prächtige ironische Volte hinaus, nach der sich jeder, der als Künstler nicht berühmt wird, über die Maßen glücklich schätzen muss. Denn da er der Nachwelt kein gefeiertes Oeuvre liefert, liefert er eben auch keine Lebensrechtfertigung für all die miesen Pfandleiher, KZ-Kommandanten und übrigen widerlichen Zeitgenossen, denen er sonst als Vorbilder der Gestalten in seinen Werken zu literarischer Unsterblichkeit verholfen hätte. Nicht alle Geschichten dieses Bandes entwickeln eine solche Komplexität. Manche sind nicht mehr als die Umsetzung eines kleinen erzählerischen Einfalls und wollen auch nicht mehr sein. Es sind Gelegenheitsarbeiten, mit denen Gernhardt noch einmal sein Talent unter Beweis stellt, selbst aus dem nebensächlichsten oder schrägsten Material mit leichter Hand sehr lesbare und vergnügliche Texte machen zu können. Wie schon bei seinem letzten Lyrikband „Später Spagat“ wollte er angesichts seines sehr bewusst vollzogenen Abschieds vom Leben, seinen Lesern offenbar nicht nur als einer der wichtigen Schriftsteller seiner Generation Lebwohl sagen, sondern auch als der Unterhaltungskünstler, der Entertainer und Spaßmacher, der er ebenso war. Der Schriften Lichtenbergs, hat Goethe einmal geschrieben, „können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.“ Auch für Gernhardt war der Witz unter anderem ein Problem-Detektor und Erkenntnismittel. Denn durch das, was uns zum Lachen reizt, machen sich nicht selten die Bruchlinien in jenen Gesetzes- und Regelwerken bemerkbar, mit denen wir dem Leben eine möglichst bruchlose Ordnung zu geben suchen. Wenn Gernhardt zum Beispiel Walther von der Vogelweides herrliche lyrische Altersklage „Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!“ (Oweh wohin sind entschwunden alle meine Jahre!) mit den Ratschlägen eines Seniorenberaters unserer Tage konfrontiert, ist das nicht nur sehr lustig, sondern auch ein Mittel, sowohl die modernen wie die mittelalterlichen Selbsttäuschungen im Umgang mit dem Elend des Alters sichtbar zu machen. Zu großer Form läuft Gernhardt nicht zuletzt dann auf, wenn es um die unerschöpflichen Rätsel der Kunst und der Kreativität geht. Da wird auf satirische Weise angedeutet, welche ungeheure Stilisierung und Sublimationsleistung hinter den so makellosen Bildern eines Jan Vermeer steckt. Da rechtfertigt sich ein Künstler vor dem Jüngsten Gericht für einen Abend, den er nicht enthaltsam mit Arbeit verbracht, sondern an ein schlechtes Abendessen bei unkultivierten Millionären verschwendet hat. Da verfällt ein Maler, der sich um seinen Pinsel, will sagen: um seine Potenz beraubt sieht und um seine Produktionskraft fürchtet, nicht in lebensfeindliche Bitterkeit und findet gerade deshalb einen unverhofften Helfer, der ihm die Weiterarbeit möglich macht. Zu den schönsten Geschichten gehört ein kaum getarntes Selbstporträt als leicht verzweifelter Toskana-Bewohner. Der Held, ein Schriftsteller, erklärt einem Besucher wortreich, dass er inzwischen schlichtweg alles rings um seinen italienischen Landsitz, die Landschaften, Pflanzen, Tiere, als Anregung und poetisches Material für seine Arbeit verbraucht habe, und also inspirationstechnisch inmitten verbrannter Erde lebe. Daraufhin beginnt der Besucher nach irgendeinem Detail Ausschau zu halten, das der Dichter noch nicht bedichtet hat, sucht und sucht – und fängt auf diese Weise an, etwas zu ahnen von den Mühen des Dichtens. „Denken wir uns“ ist ein beschwingter Prosazyklus, in dem Robert Gernhardt noch einmal die Bandbreite seines Könnens zeigt. Von der parodistischen Stimmimitation, bis zur liebevoll ausgemalten, atmosphärisch dichten Erzählung, von der dezidiert komischen Anekdote bis zum kunsttheoretischen Erzählessay, vom satirischen Zeitgeistporträt bis zum vieldeutigen Lehrstück. Mit wie viel Freude liest man dieses Buch, und dann, mit wie viel Melancholie schlägt man es, sein letztes, zu.
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Reise an den Rand der Welt. Landschaftsbild mit Heinrich Böll.

Vor 50 Jahren erschien sein „Irisches Tagebuch“.
Wen es hierher lockt, den lockt der Rand der Welt. Weiter geht es nicht. Der nächste Schritt auf den Cliffs of Croaghaun führt ins Nichts. Tief unten rollen die Wellen gegen den Fels, brechen, schlagen hoch, greifen mit ihren Gischtfingern ins Leere. Land’s End. Das ist die äußerste Kante des Kontinents. Dahinter nur noch Wasser und Wolken 4000 Kilometer weit. Schafe stehen im Wind, kauen an dürren Halmen ungerührt. Neben ihnen bricht der Boden weg ins Bodenlose. Wer hier ankommt, muss anhalten, oder ihn hält nichts mehr. Wer hier stehen bleibt, steht mit dem Rücken zur Welt. Weiterlesen

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„Diese Frau muss muss aus Stahl sein!“

Vor 80 Jahren fuhr der erste Mensch mit dem Auto um die Welt: Clärenore Stinnes, eine Tochter und Rennfahrerin aus bestem Hause 

Nur vier Tagen zuvor war Charles Lindbergh nach seinem Atlantikflug in Paris gelandet. Die Welt feierte ihn, und ihren Glauben an eine Technik, die das Leben besser, schöner, glücklicher machen werde. 33 Stunden hatte er gebraucht, um ein Held zu werden. Niedriger hatte auch Clärenore Stinnes ihr Ziel nicht gesteckt. Sie war 26 Jahre alt, schmächtig, aber drahtig und entschlossen, als erster Mensch mit einem Auto um die Welt zu fahren. Vor 80 Jahren, am 27. Mai 1927, stand sie in Frankfurt am Main am Start, mindestens 40.000 Kilometer, die Länge des Erdumfangs, lagen vor ihr. Sie würde Richtung Osten aufbrechen und, das hatte sie sich geschworen, von Westen aus zurückkehren. Clärenore Stinnes war jung, aber sie war kein Backfisch. Ihr Vater, Hugo Stinnes, hatte einen der größten Industrie- und Handelskonzerne Europas geformt, und gehörte, als er 1924 starb, zu den einflussreichsten Männern des Landes. Sorgen ums Geld hatten im Leben seiner Tochter nie eine Rolle gespielt, auch nicht nachdem der Konzern 1925 unter der Führung ihrer Brüder während der Inflation zerfiel. Die Liste der Menschen, die sie im Haus ihrer Familie kennenlernte, liest sich heute wie ein Lexikon der gesellschaftlichen Elite ihrer Zeit. Da der Vater ihr mit Anfang zwanzig noch keine führende Position in einem seiner Unternehmen anvertrauen wollte, hatte sich ihr Ehrgeiz andere Ziele gesucht. Autos waren ihre Leidenschaft. Schon mit 24 fuhr sie ihr erstes Rennen. Bald darauf war sie mit 17 Siegen Europas erfolgreichste Rennfahrerin. 1925 wurde sie zu einer Rallye eingeladen, die von St. Petersburg über Moskau und Tiflis nach Moskau zurück führte. Das noch junge sowjetische Regime wollte durch extreme Prüfungsfahrten ermitteln, welche Autotypen sich in ihrem weitgehend straßenlosen Land am besten bewährten. Clärenore Stinnes gewann auch diesen Wettbewerb in ihrer Klasse – und kam auf die Idee einer Weltumrundung. Als moderne Abenteurerin schaute sie sich zu allererst nach Sponsoren um. Sie nahm die nötigen 100.000 Reichsmark nicht von der Familie, sondern beschaffte sie bei anderen Unternehmen wie Bosch und Aral. Außenminister Gustav Stresemann persönlich setzte sich bei etlichen Ländern für die nötigen Durchreisevisa ein und wies die deutschen Auslandsvertretungen an, sie zu unterstützen. Ihre Fahrt sollte nicht zuletzt für die Qualität deutscher Industrieprodukte werben, die seit dem Ersten Weltkrieg noch immer bei einstigen Gegnern mit Boykotten zu kämpfen hatten. Deshalb entschied sich Clärenore Stinnes auch, zu ihrem Vorhaben in einem normalen Serienfahrzeug anzutreten. Die Frankfurter Firma Adler stellte ihr einen „Standard 6“ mit 50 PS-Motor und Dreiganggetriebe zu Verfügung. Als einzige Veränderung vom Originalzustand ließ sie zwei Liegesitze einbauen. Was es bedeutet, längere Strecken mit einem gewöhnlichen Wagen der zwanziger Jahre zu fahren, ist heute nur schwer zu ermessen. Eine Ahnung davon weht einen an, wenn man in einem Automuseum vor den schwerfälligen, kutschenartigen Gefährten jener Zeit steht. Es war eine Expedition zu der Clärenore Stinnes aufbrach. Jenseits Westeuropas und Nordamerikas gab es keine Infrastruktur, keine Tankstellen, ja nicht einmal Straßen. Alles lebens- und reisenotwendige Material, Proviant, Ersatzteile, Benzin musste sie in einem Begleitfahrzeug, einem Kleinlaster über den größten Teil der Strecke mitnehmen. Der Lastwagen wurde von zwei Mechanikern gefahren. Und um noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit für ihr Unternehmen wecken zu können, engagierte sie zudem einen Kameramann, der ihre Weltumrundung als Dokumentarfilm festhalten sollte. Sie lernte ihn zwei Tage vor Abfahrt kennen, es war ein Schwede namens Carl-Axel Söderström. Bereits hinter Prag ist die Kupplung des „Standard 6“ kaputt, hinter Belgrad ein Kugellager des Lasters. Skeptisch notiert Söderström in sein Tagebuch, es sehe nicht so aus, „als wenn die Autos die ganze Reise halten würden.“ Doch er hat nicht mit der Entschlossenheit und Durchsetzungskraft seiner Chefin gerechnet. Clärenore Stinnes ist keine angenehme Expeditionsleiterin. Sie treibt ihre Crew morgens gegen 5 Uhr aus den Betten und nicht selten erreichen sie das nächste Etappenziel erst gegen Mitternacht. Sie gibt sich unzugänglich, ist hochfahrend und starrköpfig, ganz unbescheidene Tochter aus herrschaftlichem Haus. Söderström hadert zumal zu Anfang oft mit ihr, aber er kann ihr seine Anerkennung nicht verwehren: „Sie muss“, notiert er, „aus Stahl gemacht sein, so wie sie alles aushält, ohne zu klagen.“ Schon in Bulgarien und dann in der Türkei gibt es außerhalb der Städte nur noch Feldwege, auf denen sie sich vorankämpfen. Noch vor Ankara wird ein Gebirgspfad so schmal, dass sich die Männer auf der Bergseite an den Laster hängen müssen, um mit ihrem Körpergewicht zu verhindern, dass er talseits in die 80 Meter tiefe Schlucht stürzt. Bereits seit Serbien werden sie von Temperaturen über 40 Grad gequält. Bei der Fahrt durch die Wüste von Damaskus nach Bagdad zeigt das Thermometer 54 Grad im Schatten – allerdings findet sich Schatten nur unter den Autos. Die Wagen sind über und über mit Wassersäcken behängt, doch das meiste davon brauchen sie für die Kühler der Motoren, nicht für sich selbst. Beim Aufstieg zum Kaukasus vom Iran aus verirren sie sich in einer Nachtfahrt. In einem Hohlweg stürzt der Lastwagen um und kann erst mit Hilfe einiger Bauern und ihrer Ochsen wieder aufgerichtet werden. In Moskau dann scheidet der erste Mechaniker wegen eine Blinddarmentzündung aus. Sein Ersatzmann ist den Strapazen nicht gewachsen und wird bald darauf nach Hause geschickt. Inzwischen sind Stinnes und Söderström mit beiden Wagen so vertraut, dass sie auch größere Reparaturen selbst vornehmen. Doch die russischen Wege versinken im Regen, sind nur noch ein Brei aus Lehm. Immer wieder müssen sie die Autos mit Spaten, Winden und Flaschenzügen regelrecht ausgraben. Oft schaffen sie nicht mehr als zehn Kilometer pro Tag. Noch vor dem Ural, am Fluss Sura, bei Kilometerstand 10.000 droht die Fahrt zu scheitern. Die Strömung ist reißend, die Fähre zu klein für die Wagen und die Landungsstege angefault. Der letzte verbliebene Mechaniker ist am Ende seiner Kräfte, will das Risiko der Überfahrt nicht eingehen, sondern zurück nach Deutschland. Doch Clärenore Stinnes lässt sich nicht stoppen. Unterstützt von Söderström verstärkt sie Landungsstege und Fähre notdürftig mit Baumstämmen, fährt den zwei Tonnen schweren „Standard 6“ selbst auf das floßähnliche Gefährt, tanzt mit beiden über die Wellen und erreicht glücklich das andere Ufer. Als sie danach den noch schwereren Lastwagen übersetzen will, lässt Söderström sich nicht lumpen und nimmt das Wagnis dieser Überfahrt auf sich. „Von diesem Tag an“, schreibt sie später, „wurde die Fahrt eine deutsch-schwedische, denn nur dadurch, dass Söderström aushielt, gelang es, unser Programm zu Ende zu führen.“ Der Mechaniker verließ sie bald darauf und auf den folgenden gut 30.000 Kilometer wurden die beiden nur noch von wechselnden Dolmetschern begleitet. Kurz vor dem sibirischen Baikalsee werden die Ochsenpfade, auf denen sie sich mit Schneeketten durch den Schlamm wühlen, vollends unpassierbar. Sie schicken den Lastwagen per Zug voraus. Zweieinhalb Monate müssen sie in Irkutsk bei Temperaturen von 30 bis 40 Grad unter Null warten, bis der See zugefroren ist, dann wagen sie die Überfahrt. Auf dem See ist die Luft plötzlich wie mit fernem Geschützdonner erfüllt. Vor ihnen bricht ein halbmeterbreiter Eisspalt auf. Bremsen ist unmöglich, Clärenore Stinnes gibt Gas und der Wagen springt über den Spalt. Am anderen Ufer notiert Söderström lakonisch: „Mit heiler Haut davongekommen. Wölfe begleiten unsere Fahrt. Fräulein Stinnes bietet mir das Du an.“ Fast scheint es, als würde, je länger die Fahrt dauert, der Realitätssinn der beiden schwinden. Es scheint keine Gefahren mehr zu geben, die sie noch schrecken könnte. Selbst als man sie energisch vor berittenen Warlords in der Mongolei warnt, lassen sie sich von der Durchquerung der Wüste Gobi nicht abhalten. Tatsächlich werden sie von bewaffneten Reitertrupps verfolgt, als bei dem Laster eine Feder bricht. Mit fliegenden Händen wechseln sie die Feder und können mit knapper Not entkommen. Als sie in China eintreffen, erfahren sie, dass zur gleichen Zeit westliche Reisende überfallen und erschossen wurden. Nachdem sie auch China trotz Bürgerkriegswirren hinter sich gebracht haben, setzen sie nach Südamerika über. Hier fahren sie von Lima über die Kordilleren an die Ostküste des Kontinents nach Buenos Aires und wieder über die Anden an die Westküste zurück. Dass es keine Straßen gibt, sind sie längst gewohnt, aber von den Gebirgsstrecken gibt es hier nicht einmal mehr Landkarten. Wie Fizzcarraldo in Werner Herzogs Film ein Schiff, so müssen sie ihren Wagen in Dschungel und Hochgebirge von Einheimischen, oder mit Flaschenzügen allein über Pässe und Steigungen bis 60 Grad zerren. Die Pfade sind oft so schmal, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als sich den Weg mit Dynamit frei zu sprengen. An manchen Tagen schaffen sie nur 150 Meter und als sie sich im August 1928 mit ihren Vorräten verrechnen, verdursten Sie um ein Haar. Von Chile aus lassen sie sich von einem Frachter nach Los Angeles bringen. Die Durchquerung der Vereinigten Staaten gleicht einem Triumphzug. Die Straßen sind hier perfekt, fahrerische Herausforderungen gibt es für sie nicht mehr. Überall werden sie von Reportern umlagert, von Gouverneuren oder Bürgermeistern empfangen, vom Publikum gefeiert. Als Präsident Herbert Hoover Clärenore Stinnes allein nach Washington einlädt, sagt sie ab. Erst als die Einladung auf Söderström erweitert wird, besuchen sie das Weiße Haus. Von New York aus erreichen sie per Schiff Le Havre in Frankreich. Nach zwei Jahren und einem Monat Fahrzeit treffen die beiden am 23. Juni 1929 in Berlin ein und sind für Tage die Stars der Stadt. Ihr Wagen ist 46.063 Kilometer gefahren. Zu Ehren Söderströms beschließt Clärenore Stinnes nach Stockholm weiterzufahren, wo sie Kilometer 49.244 erreichen und erneut gefeiert werden. Im Herbst kommt der Dokumentarfilm der beiden in die Kinos und Clärenore Stinnes Buch „Im Auto durch zwei Welten“ erscheint. Mit der letzten Pointe ihrer Geschichte lässt sich das ungleiche Paar noch ein Jahr Zeit. Sie, die kleine, aber unbeugsam Tochter einer der reichsten Familien der Zeit und er, der große, etwas ungeschlachte Sohn eines schwedischen Schmieds, die sich zwei Tage vor Fahrtbeginn kennenlernten, heiraten am 20. Dezember 1930. Als wären sie ein für allemal genug gereist, ziehen sie sich nach Südschweden zurück, und bewirtschafteten gemeinsam einen Gutshof. Clärenore Stinnes: „Im Auto durch zwei Welten“. Die erste Autofahrt einer Frau um die Welt 1972 bis 1929 Promedia Verlag, Wien 1996 253 S.,

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„Handy“

 Ingo Schulze zeigt, wie zeitgemäß Geschichten in „alter Manier“ heute sein können

Es gibt heute in der deutschen Literatur nur wenige Schriftsteller, die so souverän über die Techniken und Tricks des Erzählens verfügen wie Ingo Schulze. Er ist ein Virtuose, der sich die verschiedensten Stilarten und Schreibweisen anverwandeln kann. Während andere Autoren einen einzigen persönlichen Prosa-Tonfall päppeln und kultivieren, hüpft er mit jedem Buch munter von einer Erzählform zur nächsten. Die Bandbreite seines Talents ist erstaunlich, für sein erstes Buch „33 Augenblicke des Glücks“ orientierte er sich an Meistern der russischen Moderne, für das zweite „Simple Storys“ an amerikanischen Vorbilder wie Sherwood Anderson oder dem Lakoniker Raymond Carver, und in seinem furiosen Briefroman „Neue Leben“ knüpfte er klug an einige der ehrwürdigsten Traditionen der deutschen Literaturgeschichte an. Doch seltsam: So frei und überlegen Ingo Schulze mit erzählerischen Techniken jongliert, so festgelegt scheint er bislang in thematischer Hinsicht zu sein. Es gibt, so weit ich sehen kann, keinen anderen deutschen Schriftsteller, der die Erfahrungen der Ostdeutschen und Osteuropäer mit dem abrupten Systemwechsel nach dem Kollaps des realen Sozialismus derart feinnervig, differenziert und überzeugend in Literatur verwandelt hätte wie er. Wer sich lesend ein Bild davon machen will, wie das damals war, als der Gleichschritt des jahrzehntelang bevormundeten Lebens über Nacht endete und das Rodeo der Freiheit begann, ist bei ihm gut aufgehoben. Diesem Thema bleibt Schulze auch in „Handy“, seinem neuen Band mit Erzählungen, über weite Strecken treu. Und auch für dieses Buch – das signalisiert schon der Untertitel „Dreizehn Geschichten in alter Manier“ – hat er wieder eine andere Erzähltechnik gewählt. Es sind, von zwei Ausnahmen abgesehen, lauter Ich-Erzähler, die sich hier in einer merkwürdigen Mischung aus Abgeklärtheit und Hilflosigkeit zu Wort melden. Abgeklärt sind sie in literarischer Hinsicht, denn sie erzählen nicht einfach ihre Geschichte, sondern sie kommentieren sie auch und erklären dem Leser, weshalb sie nur so und nicht anders erzählt werden kann. Hilflos und ausgeliefert fühlen sie sich dagegen in den Situationen von denen sie erzählen. Es wirkt nicht selten so, als würden sie aus größerer zeitlicher Distanz von Erinnerungen berichten, die sie wieder und wieder rekapitulieren und mit denen sie nur schwer fertig werden. Da ist zum Beispiel die Geschichte von dem jungen Mann, der das Gefühl nicht loswird, während der den Wendewirren von 1989 im Beruf und in der Liebe aufs falsche Gleis geraten zu sein. Zehn Jahre später, in der Silvesternacht zum Jahr 2000 hin, will er seine Freundin verlassen und eine frühere Geliebte wiedergewinnen, um so endlich in sein altes, vermeintlich wahres Leben zurückfinden. Wie Ingo Schulze hier die Erinnerung des Helden an jene vergangene Liebe metaphorisch parallel setzt zu einer Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, die am Vorabend der Silvesternacht zunächst einmal ausgegraben werden muss, um endlich entschärft werden zu können, entspricht traditionellen Erzählmustern, also jener „alten Manier“, die der Untertitel des Bandes verspricht. Doch so, wie Schulze diese Muster nutzt, wirken sie nie verstaubt, sondern auf unangestrengte Weise originell und zeitgemäß. Das Erlebnis, sich nach der Wende von 1989 in völlig neuen Lebensbahnen wieder zu finden, prägt fast alle Helden dieser Geschichten. Natürlich haben sie sich längst mit der veränderten Situation arrangiert, nicht selten zu ihrem Vorteil. Doch ist, nachdem sie seinerzeit einmal den Boden gründlich unter den Füßen verloren, ein leises Gefühl der Verunsicherung für sie zum ständigen Begleiter geworden. Die einen versuchen sich durch zwanghafte Beständigkeit davor in Sicherheit zu bringen, andere wiederum spielen insgeheim mit dem Gedanken an den Sprung in weitere, ganz andere Lebensläufe. Aber eine Rückkehr zu der gefühlten Selbstverständlichkeit ihres früheren Daseins gibt es für sie nicht. Doch Schulzes Geschichten sind deshalb keineswegs nur auf Moll gestimmt. Er hat vielmehr einen wachen Sinn für die grotesken, komischen Folgen dieser Verunsicherung. Ein verarmter Este zum Beispiel, eigentlich ein würdiger Angestellter des Schriftstellerverbandes und Museumsdirektor, möchte für zahlungskräftige westliche Touristen eine Bärenjagd organisiert. Unglücklicherweise macht sich aber die einzige Bärenfamilie weit und breit aus dem Staub. Um seine Kundschaft nicht zu verlieren, kauft der Mann daraufhin einen russischen Zirkusbären, den er den Jägern zum bequemen Abschuss an einer Lichtung serviert. Doch die geraten im letzten Moment in Streit, verfehlen den Bären, und der raubt in seiner Panik einer Pilzsucherin das Fahrrad und radelt vor den Augen seiner ungläubigen Verfolger auf Nimmerwiedersehen davon. In anderen Erzählungen dieses Bandes lässt Schulze jedoch die Erfahrungen seiner Helden mit dem Systemwechsel weiter und weiter zurücktreten und wagt sich an andere, ihm weniger geläufige Themen heran. Diese Geschichten wirken zunächst wie jene typischen, um Authentizität bemühten Selbstbespiegelungen, die man hierzulande häufig zu lesen bekommt: Schriftsteller schreiben über das Leiden von Schriftstellern auf öden Kongressen, mühseligen Lesereisen oder langweiligen Partys alter Freunde, die ihnen immer fremder werden. Bei Schulze jedoch ist der Eindruck von Authentizität nur vorgetäuscht, nur das Ergebnis einer geschickten erzähltechnischen Illusion. Gerade weil seine Ich-Erzähler ihre Geschichten immer wieder kommentieren, weil sie so tun, als ließen sie die Leser an ihren Gedanken teilhaben, wie die Geschichte angemessen zu schreiben und zu verstehen ist, wirken sie wie Beichten, wie Geständnisse, die Schulze seiner gequälten Seele abringt. Doch genau betrachtet sind es, auch wenn sie gelegentlich autobiographische Anklänge enthalten, reine Erfindungen. Schulze demonstriert damit gleichsam nebenbei, wie gut sich das lange als antiquiert und unbrauchbar belächelte auktoriale Erzählen in „alter Manier“ – denn eben das betreiben seine Ich-Erzähler hier – dazu eignet, auf sehr moderne Weise die Grenzen zwischen Literatur und Realität, zwischen Sein und Schein zu verwischen. Das klingt zunächst nach erzähltechnischen Glasperlenspielen, nach Literatur für Literaten, nach raffinierten Zauberkunststückchen für Eingeweihte. Doch damit täte man dem Buch unrecht. Denn letztlich zielen Schulzes Geschichten nicht auf exklusive ästhetische Gaukeleien, sondern auf die Schilderung elementarer und dringlicher Erfahrungen. Einer seiner Helden beispielsweise, den wir mit Schulze selbst verwechseln sollen, ertappt sich dabei, wie er einen Augenblick lang in brutalen Egoismus verfällt und um seiner Bequemlichkeit willen das Leben eines in Not geratenen Jungen riskiert. Sicher, der Augenblick dauerte nur wenige Sekunden und, sicher, der Ich-Erzähler war durch Grippe und Liebeskummer massiv geschwächt. Dennoch bedrückt ihn die Erinnerung, die er nicht mit seinem Selbstbild in Einklang bringen kann. Denn sie zwingt ihn dazu, bei sich selbst je nach äußeren Umständen alles, auch unmenschliche Verhaltensweisen, für möglich zu halten. Weil Schulze die Geschichte aber nicht gleich als Fiktion zu erkennen gibt, sondern ihr geschickt den Anschein eines persönlichen Erfahrungsberichtes verleiht, entwickelt sie einen besonderen, einen inständigen Ernst. Der Band „Handy“ hat alles in allem nicht die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der „Simplen Storys“. Er ist heterogener, es ist ein Buch des Übergangs, man merkt, dass sich Schulze nach der jahrelangen Konzentration auf seinen großartigen Deutschland-Roman „Neue Leben“ umschaut nach anderen, nach frischen Themen. Aber selbst solche tastenden Neuansätze entwickeln bei ihm gleich eine beeindruckende literarische Wucht. Er ist, das zeigt sich auch hier, einer der jungen Meister unserer Gegenwartsliteratur.

Ingo Schulze „Handy“. Dreizehn Geschichten in alter Manier. Berlin Verlag, Berlin 2007 280 Seiten, 19,90 €

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Heimweg eines Davongekommenen

Harald Martenstein widmet seinen erster Roman der stillen Größe kleiner Leute
Harald Martenstein schreibt eine der komischsten Kolumnen, die man gegenwärtig in deutschen Zeitungen finden kann. „Komisch“ meint in diesem Fall allerdings nicht unbedingt „witzig“ in landläufigem Sinne. Martensteins „Lebenszeichen“ in der „Zeit“ sind eher skurril, sind auf entwaffnende, völlig ungeschützte Weise persönlich und neigen zu Ausflügen ins Verträumte und Phantastische. Sie sind unter all den vielen Artikeln, die da tagtäglich in adrett geordneten Spalten vor den Lesern zur Lektüre antreten, so etwas wie die glücklichen Narren, die aus jeder Reihe tanzen. Hier hängt einer seiner ureigenen Sicht auf die Welt nach, selbst auf die Gefahr hin, dass andere ihn deshalb für komplett verschroben halten. Genau das ist aber bekanntlich nicht die schlechteste Haltung, wenn ein Autor sich an einem Roman versuchen möchte. Denn ein Roman ist, wie uns Goethe schon verriet, nichts anderes als eine Geschichte, „in welcher der Verfasser sich die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe.“ Martenstein hat eine, soviel ist schnell klar nach den ersten Seiten des Romans „Heimweg“. Hauptfigur seiner Geschichte ist ein deutscher Landser namens Josef, der Anfang der fünfziger Jahre aus russischer Kriegsgefangenschaft ins zerbombte Mainz zurückkehrt. Doch vom Wirtschaftswunder, von der Gier und Hoffnung jener Zeit ist in seinem Leben wenig zu spüren. Josef hat, bevor der Soldat wurde, die Schönheitstänzerin Katharina geheiratet, und er hat den Krieg überlebt, das sind die beiden wichtigsten Leistungen seines Daseins. Viel mehr bringt er nicht zustande, er kehrt nicht als Held voller Tatendurst zurück, sondern als ein Davongekommener, der sich ausgelaugt und resigniert in die Heimat gerettet hat. Seiner Frau, der schönen Katharina, die das Leben gern leicht und die Männer gern stark hat, ist das natürlich gar nicht recht. Sie hat inzwischen mit ihrer Schwester eine bescheidene Nachtbar aufgezogen, in der sie sich von den Gästen nicht nur zum Trinken einladen lässt, sondern, wenn die Kasse stimmt, auch gern zu mehr. Doch selbst das betrachtet Josef weder als Kampfansage noch als plötzliche Chance auf eine Karriere als Kneipier oder Zuhälter – vielmehr registriert er es nur mit müdem Schulterzucken. Mit anderen Worten: Der Roman erzählt von Menschen, die selbst in Zeiten eines stürmischen sozialen oder wirtschaftlichen Aufschwungs den Anschluss verpassen und für immer am Boden bleiben. Doch wäre es ungerecht, sie deshalb herablassend als kleine Leute zu bezeichnen. Denn Martenstein zeigt, zu welcher Größe sie fähig sind, angesichts des Unglücks in ihrem Leben. Und davon haben sie wahrlich genug: Katharina schäkert immer häufiger mit Kerlen, die außer ihr niemand sehen kann und versinkt bald ganz in Wahnvorstellungen. Ihre Schwester bringt sich um, nachdem ihr Mann sie finanziell und gesundheitlich zugrunde gerichtet hat. Und Josef wird die Erinnerungen an zwei Russen, einen Soldaten und einen Jungen nicht los, die er hinter der Front erschossen hat. Vielleicht, so hat man den Eindruck, verpassen sie alle es auch deshalb, rechtzeitig auf den Zug in Richtung Zukunft aufzuspringen, weil sie nicht zu den Menschen gehören, die ihre Vergangenheit, die ihre Schuld und Scham abstreifen können wie ein altes Hemd. Martenstein ist kein großer Virtuose, wenn es darum geht, seine Figuren und ihr Milieu im Text sinnlich zu vergegenwärtigen. Das weiß er selbst und schreibt es auch. Es gibt für den Leser in diesem Roman wenig zu riechen, zu schmecken oder zu spüren. Dafür ist Martenstein ein kluger Psychologe, der überzeugend begreiflich machen kann, weshalb seine Figuren so handeln, wie sie handeln und weshalb sie es nie schaffen, vor den Augen der Welt zu Helden zu werden, obwohl die Gefasstheit, mit der sie ihr Leben ertragen, aller Anerkennung wert wäre. Großartig ist auch sein Einfall, einen Enkel von Josef und Katharina zum Erzähler des Buches zu machen, das Paar aber kinder- und folglich logischerweise auch enkellos sterben zu lassen – wodurch sich die ganze Geschichte im Rückblick ausnimmt wie eines jener schattenhaften Wahngebilde Katharinas. Am schönsten aber sind jene räsonierenden Passagen des Romans, in denen Martenstein seiner eigensinnigen Sicht auf die Welt ganz ungeniert nachhängt. Zugegeben, das erinnert nicht selten an ähnliche Passagen in seinen Kolumnen. Aber warum auch nicht? Hier hat jemand seinen Ton gefunden, und wenn ein Autor den so beneidenswert präzise beherrscht wie Martenstein, dann ist es, ob in einem Roman oder in einer Kolumne, immer ein Vergnügen, ihm zuzuhören.

Harald Martenstein: „Heimweg“. Roman C.Bertelsmann, München 2007 220 Seiten, 18,- €

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