Was lehrt Schillers „Jungfrau von Orleans“ heute? Zwei Versuche von Claus Peymann und Simone Blattner im Leistungsvergleich
Hat Angela Merkel Charisma? Bräuchte sie mehr davon? Oder ist Charisma in einer friedlichen Demokratie, der es vor allem um das Aushandeln haltbarer Kompromisse geht, bei Staatsgeschäften gar nicht wichtig? Als Schiller seine „Jungfrau von Orleans“ schrieb, hatte er in Napoleon das Beispiel eines charismatischen Herrschers vor Augen, der Europa zittern ließ. So gab es für Schiller durchaus Anlass, sich der Geschichte der siebzehnjährigen Jeanne d’Arc zu widmen, die im 15. Jahrhundert so fest daran glaubte, von Gott zu Frankreichs Retterin bestimmt zu sein, dass sie schließlich die französischen Truppen in die Schlacht mitriss und die englischen Feinde in die Flucht schlug. Das Stück ist von fabelhafter Sprachkraft und doch keins von Schillers Meisterwerken. Es leistet sich allzu viele billige Wunderdinge, an die Schiller selbst nicht glaubte, von himmlischen Donnerzeichen über teuflische schwarze Ritter, die auf offner Bühne zu Hölle fahren, bis hin zum Zerreißen zentnerschwerer Ketten durch die Kraft des Gebets. Zudem verlangt es der jungen Darstellerin der Johanna fast Übermenschliches ab: Sie muss gleichermaßen überzeugend sein als naive Hirtin, religiöse Exstatikerin, charismatische Feldherrin, blutsäuferische Kampfmaschine und an der Liebe Verzweifelnde. Glücklich das Theater, das eine solche Schauspielerin hat. Claus Peymanns Berliner Ensemble ist so glücklich nicht. Peymann hat die Rolle der Johanna der bislang noch wenig bekannten Charlotte Müller anvertraut. Sie ist zweifellos begabt, sie beherrscht die zarten und schwärmerischen Töne, die sie für ihre Rolle braucht. Doch dass sie je verzagte Soldaten mit fanatischem Siegeswillen erfüllen und hilflose Engländer eigenhändig abschlachten könnte, nimmt man ihr keine Sekunde ab. Das fällt umso mehr ins Gewicht, da Peymann für seine routinierte Inszenierung wenig einfällt. Thomas Wittmann darf seinen König Karl zu einem amüsant anzuschauenden sensiblen Jammerlappen stilisieren. Corinna Kirchhoff macht aus Königin Isabeau eine kreischende Diva, die sich um Macht und Glück betrogen fühlt. Ansonsten aber verlässt sich Peymann eher auf seine prächtige Theatermaschinerie als auf eine Idee zu Schillers Stück. Er lässt die Ritter tatsächlich in Rüstungen über die Bühne scheppern, lässt Johanna vor orangeroten Glorienschein auftreten, den schwarzen Ritter mit reichlich Blitz und Rauch in die Theaterhölle fahren und Gott mit Donnerschlägen aus heiterem Himmel seine Antwort auf die Fragen der Menschen geben. Vielleicht wollte Peymann seine Aufführung auf des Messers Schneide zwischen Tragödie und Komödie stellen, wollte das Stück selbst und zugleich durch überzogene Bühneneffekte so etwas wie einen ironischen Kommentar dazu inszenieren. Doch man lacht nicht weil Peymann zuverlässig die haarfeine Grenzlinie zwischen Tragödie und Komödie träfe, sondern weil das Rüstungsgerumpel gelegentlich zu allerlei unbeholfenen Vergnüglichkeiten führt. Fast wirkt es so, als werde nicht das hochidealistische Drama „Johanna von Orleans“ gezeigt, sondern die noch unbekannte Groteske „Hanni und die Blechbüchsenburschen“. Umso interessanter hätte die Inszenierung des gleichen Stückes durch die über dreißig Jahre, also eine volle Generation jüngere Simone Blattner werden können, mit der das Schauspielhaus in Frankfurt jetzt in die Saison startet. Sie hat den Text auf zwei Stunden gekürzt, lässt ihn in rasender Eile abschnurren und manche Passagen von einem vielköpfigen Chor sprechen. Hinter letzterem Kunstgriff könnte man eine Regiestrategie vermuten, schließlich heißt es bei Schiller: „Für seinen König muss das Volk sich opfern, / Das ist das Schicksal und Gesetz der Welt.“ Auf diese Behauptung hätte der Chor als Volkes Stimme antworten können. Doch Simone Blattner verfolgt diesen Chance nicht weiter und greift lieber auf ihre alten Regiemanierismen zurück, lässt unbeschäftigte Schauspieler auf der Bühne herumsitzen oder die spartanisch ausgestattete Bühne von den Darstellern selbst umbauen. Auch ihre Johanna wird den Anforderungen der Rolle nicht gerecht. Susanne Buchenberger spielt ein wurstiges Bauernmädchen mit religiös verklärten Lächeln. Die unwiderstehliche Ausstrahlungskraft, verängstigte Männer in mörderische Schlachten zu führen, kauft man auch ihr nicht ab. Cornelia Kempers ist als Königin Isabeau eine Zumutung, sie spielt keine Herrscherin sondern eine Hausmeisterin. Nur Oliver Kraushaar macht aus dem Herzog von Burgund eine eindrucksvollen Kerl, der in wechselvoller Epoche um verlässlichen Halt ringt. Zu fragen bleibt, wie, warum und mit welchem Ziel sich Regisseure heute im deutschen Stadttheaterbetrieb für ihre Projekte entscheiden. Man kann, wie Alfred Polgar, der Meinung sein, Schillers „Jungfrau“ rühre „an keine Frage, die unsere Zeit sonderlich beschäftigt“ und das Stück beiseite lassen. Man kann, wenn man es dennoch aufführt, zu zeigen versuchen, wie Johannas göttliche Vision an der kruden Realität oder an der Liebe scheitert. Oder man kann schlicht eine exorbitant talentierte Schauspielerin in der Titelrolle vorführen wollen. Doch davon, dass Peymann oder Simone Blattner irgend einen Grund haben, der ihnen dieses Stück zu diesem Zeitpunkt aufdrängt, ist nichts zu spüren. Dolf Sternberger, der konservative Politologe, entdeckte einmal in der „Jungfrau“ den englischen Ritter Talbot als den „einzig Nüchternen“, der zusehen muss, wie sein auf Vernunft bauendes Regime vom Charisma eines kleinen Mädchens zerstört wird. Talbots Tragödie beschrieb er 1936, als in Deutschland ein ganz anderer charismatischer Machthaber herrschte. Sternberger hatte in Schillers Stück hineingelauscht, und es hatte ihm ein paar riskante Auskünfte zur Gegenwart zugeflüstert. Offenbar ist es in unserm Theaterbetrieb inzwischen so lärmig, dass kaum einer noch hören kann, was die Stücke flüstern.