Christoph Ransmayrs überwältigend schöner Roman „Der fliegende Berg“
Christoph Ransmayrs Romane sind Aufbrüche in den Mythos. Es sind Einladungen an den Leser, aus der Zeit zu fallen. Das hat nichts mit Flucht in esoterische Sphären zu tun, nichts mit der Entdeckung dunkel raunender, angeblich ewiger Wahrheiten. Ransmayr versteht sich vielmehr auf die rare, die erstaunliche Kunst, den Kopf literarisch bis über die Wolken zu strecken und doch mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Seine Bücher entfalten eigene Welten, die den Bezug zu den sogenannten Tatsachen nie verlieren, über die bloßen Tatsachen aber weit hinausreichen. Ransmayrs neuer Roman „Der fliegende Berg“ signalisiert seinen Eigensinn, seinen eigenen Sinn schon in seiner formalen Gestalt. Wie bei einem Epos hat Ransmayr, dessen Prosa immer schon enorme sprachmusikalische Qualitäten hatte, seinen Text in Verse und Strophen geordnet. Er selbst spricht nüchtern nur von „Flattersatz“; wer will, braucht auf Verse oder Strophen keine große Rücksicht zu nehmen und kann den Roman lesen, wie jeden anderen auch. Doch bei genauerem Hinhören ist schnell zu spüren, dass diese Prosa bis in die Feinheiten hinein rhythmisch durchformt und durchdacht ist, ohne deshalb in eine aufdringliche, starre Metrik zu verfallen. Der Stoff des Romans hat Ransmayr über ein Jahrzehnt lang beschäftigt. Erzählt wird von zwei Brüdern, die in den Osten Tibets aufbrechen, um dort den noch unbezwungenen, knapp siebentausend Meter hohen Phur-Ri, den „Fliegenden Berg“ zu besteigen. Wie während der inzwischen legendären Nanga Parbat-Expedition von Günther und Reinhold Messner 1970 kommt einer der beiden Brüder beim Abstieg vom Gipfel um. Doch viel weiter reichen die Parallelen nicht, Ransmayrs Figuren stammen aus Irland, nicht aus Südtirol. Ihr Vater ist ein schwärmerischer, nicht recht realitätstauglicher IRA-Fanatiker, dessen Frau mit einem Protestanten in den britischen Norden durchgebrannt ist. Liam, der ältere der beiden Brüder, hat seinen Beruf als Computer-Fachmann und Kartograph an den Nagel gehängt und ist nun Viehzüchter auf einer kleinen Insel im Südwesten Irlands. Pad, der jüngere Bruder und Ich-Erzähler des Romans, fuhr jahrelang zur See, bevor er bei seinem gleichermaßen bewunderten wie eifersüchtig bekämpften Bruder eine feste Bleibe findet. Die Bildphantasie Ransmayrs ist atemraubend. Wie Liam auf nächtlichen Internet-Irrfahrten ein erstes Foto der Phur-Ri entdeckt, wie die beiden Brüder an den Insel-Steilküsten über dem Meer ihr bergsteigerisches Können trainieren, wie sie in Tibet auf ganze Felder von farbigen Gebetsfahnen stoßen, auf Nomaden, die unter freiem Himmel im Schnee Billard spielen oder auf Schmetterlinge, die von heißen Luftströmungen über Tausende von Metern bis ins ewige Eis der Gletscher gerissen werden – all das wirkt wie Szenen aus einem Film von Stanley Kubrick, die Ransmayrs auf wenigen Zeilen ebenso poetisch wie präzise vor das innere Auge des Lesers zu rücken versteht. Naturgemäß wird das Leben, je weiter die beiden Brüder in die entlegenen Winkel Ost-Tibets vordringen, umso archaischer. Für Liam ist das lediglich ein unvermeidlicher, meist lästiger oder auch gefahrvoller Begleitumstand der Expedition. Für Pad jedoch wird ihr Weg zu einer Reise in eine andere, vom mythischen Denken geprägte Welt, deren Ausstrahlung er sich nicht entziehen kann und auch nicht will. Ransmayr gibt so dem berühmten Motiv von Joseph Conrads Reise ins „Herz der Finsternis“ eine Wendung ins Positive: Sein Held Pad verliert sich mit der zunehmenden Entfernung von der westlichen Zivilisation nicht in Wahn und Gewalt, er gelangt auch nicht zu spiritueller Erleuchtung, wie sie viele Asientouristen suchen, sondern schlicht zu einem größeren Gefasstheit und auch Gelassenheit angesichts der fundamentalen Vergeblichkeit des Lebens. Bei Jean-Paul Sartre heißt es, der Mensch sei eine nutzlose Leidenschaft. Für diese Einsicht findet Ransmayr in seinem Roman ein schmerzlich schönes Bild: Als die Brüder das Ziel ihrer Leidenschaft erreicht haben, den Gipfel des Phur-Ri, schreiben sie auf diesem Nebendach der Welt ihre Namen in den Schnee, obwohl schon ein Unwetter aufzieht, dass alle Spuren unfehlbar löschen wird. Doch Pad begreift inmitten der urtümlichen Landschaft, wie vorübergehend letztlich jedes Dasein ist, er begreift, dass selbst die Gebirgsgiganten des Himalaja irgendwann einmal verschwinden werden, und also, wie die tibetischen Mythen lehren, als fliegende Berge nur vorübergehend auf der Erde Platz genommen haben – was Pad mit Blick auf die eigene Vergänglichkeit zu größerer innerer Ruhe verhilft. Die Helden Ransmayrs drängt es in all seinen Romanen zu den Rändern ihrer Zivilisation. Denn Zivilisation ist für Ransmayr nicht denkbar ohne Machtkampf und Zerstörung. Mit wenigen Strichen skizziert er im „Fliegenden Berg“ wie in der Vergangenheit die englischen Kolonialherren in Irland hausten und heute die chinesischen Kolonialherren in Tibet. Der unbestreitbare Glanz der siegreichen Kultur wird bezahlt mit der Verwüstung der Natur – Irland und Tibet werden von ihren Besatzern gleichermaßen abgeholzt – und dem Untergang der unterlegenen Kulturen. Ein Ausweg aus diesem jahrhundertealten Reigen der Gewalt ist der Rückzug an die kaum besiedelten, nicht erforschten oder sogar noch nie betretenen Ränder der bekannten Welt, wie zu jenem Gipfel des Phur-Ri. Das ist eine Flucht, zugegeben, aber sie birgt einen Moment von Freiheit. Hier vielleicht Hinweis auf Verweigerung von Ransmayrs Vater, unter Nazis was zu werden. Ende von „Geständnisse eines Touristen“. Ransmayr riskiert bei all dem literarische eine Menge. Er scheut sich nicht, die Rivalität der beiden Brüder, ihr bedingungslos aufeinander Angewiesensein während der Auf- und Abstiegs und nicht zuletzt auch die Liebesgeschichte zwischen Pad und der Tibeterin Nyema, die er während des wochenlangen Trecks zum Phur-Ri kennenlernt, als einschneidende, lebensverändernde Erfahrungen zu schildern, die große Gefühle von archaischen Dimensionen wecken. Das ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack. Wer seine Ohren ganz auf die oft kühlen, lakonischen Töne unserer Gegenwartsliteratur eingestimmt hat, kann das gelegentlich als fremd und pathetisch empfinden. Doch gehört ebendies, gehört der Abschied vom Gewohnten und die Konfrontation mit einem wiederentdeckten existentiellen Ernst zum Programm dieses Romans. Wer bereit ist, sich darauf einzulassen, finden in diesem Buch eine Sprache von überwältigender, von erschütternder Schönheit.
Christoph Ransmayr: „Der fliegende Berg“. Roman S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006 359 S., 19,90 €