Liebe im Haifischbecken

Was heißt hier Wahrheit? Es geht doch um Literatur! Betrachtungen zu Maxim Billers Roman „Esra“.

Maxim Billers Roman „Esra“ ist verboten, aber keine Geheimsache. Wer will, kann das Buch ohne allzu großen Aufwand bekommen. Tippt man zum Beispiel Titel und Autorennamen in eine der Internet-Suchmaschine ein, hat man schnell ein paar Angebote auf dem Schirm. Allerdings hängen die Verkäufer meist ziemlich extravaganten Preisvorstellungen nach. Welche Vorschriften auch immer für den Umgang mit verbotenen Büchern in öffentlichen Büchereien gelten mögen – mir hat man noch jedes Mal, wenn ich mir die kleine Mühe machte, einen Ausleihzettel auszufüllen, ein Exemplar von „Esra“ überreicht. Schwierig wird es erst, sobald das Buch vor einem liegt. Nur wer nie von dem Fall „Esra“ gehört hätte, könnte „Esra“ auch heute noch unbefangen lesen. Bei jedem anderen schiebt sich die Behauptung, der Roman sei gar kein Roman, sondern ein autobiografischer Bericht, wie ein merkwürdiger Filter vor die Augen. Man sieht, sobald man das Buch aufschlägt, nicht mehr literarische Figuren vor sich, nicht mehr den Schriftsteller Adam, seine Freundin Esra und deren Mutter Lale, sondern einen nur notdürftig maskierten Maxim Biller eingerahmt von jenen beiden Klägerinnen, die Roman und Autor inzwischen mit allen juristischen Mitteln bekämpfen. Man macht sich kaum noch Gedanken darüber, ob die hier erzählte Geschichte unseren Blick auf die Welt schärft und bereichert, wie das Literatur im Idealfall tun kann, sondern zu aller erst darüber, wie sehr deren Helden realen Personen ähneln und wie sehr sie ihnen ähneln dürfen. Wenn man das Buch jedoch trotz allem als Roman statt als corpus delicti betrachten, fällt einem schnell auf, dass Biller nicht nur Esra und ihre Mutter Lale als recht anstrengende Persönlichkeiten, sondern auch seinen Ich-Erzähler Adam als einen narzisstisch gestörten Widerling mit unverkennbar hysterischen und paranoiden Zügen beschreibt. Seit das Gerichtsverfahren die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet hat, ob Biller den Klägerinnen durch eine unvorteilhafte Charakterzeichnung von Esra und Lale einen Tort antat oder nicht, werden die ebenso unangenehmen Züge Adams leicht übersehen. Doch wie immer man den Roman beurteilt, man wird ihm – auch juristisch – nicht gerecht, solange man diesen Punkt ausblendet. In der Romanwelt, die „Esra“ vor dem Leser entfaltet, herrscht in emotionalen Fragen das Überlebensgesetz des Dschungels. Hier gibt es keine Guten oder Bösen, sondern nur Starke und Schwache. Wer sich seiner Haut nicht wehrt, wird von den anderen mit imponierender Rücksichtslosigkeit ausgebeutet. Zumeist ist Esra das Opfer, Adam nennt sie deshalb gern Lales oder seine eigene „Sklavin“. Und in stillen Momenten der Selbstprüfung gesteht er sich ein, dass er im Zusammenleben mit ihr oft genug „genauso ein unerträgliches Arschloch wie ihre Mutter“ ist. Aber niemand sollte Esra deshalb für ein Unschuldslamm halten. Immer wenn sie sich Adams Zuneigung sicher sein kann, nimmt sie besonders wenig Rücksicht auf ihn und wird oft kapriziös bis zur Unerträglichkeit. Und als ihre Mutter einmal mit einem Nervenzusammenbruch wehrlos im Krankenhaus liegt, sieht sie ihre Chance gekommen und rechnet derart gründlich mit ihr ab, dass die jahrelang nicht mehr mit ihr spricht. Aber das ist längst nicht alles. Es wäre nicht ganz leicht, eine komplette Liste sämtlicher seelischer Grausamkeiten oder sonstiger innerfamiliärer Brutalitäten zusammenzustellen, die in diesem Buch geschildert werden. Kurz: Biller breitet in „Esra“ ein umfassendes Panorama menschlicher Schwäche und Niedertracht aus. Der literarische Zweck dieser Übung scheint mir offensichtlich. Je düsterer Biller seine Romanwelt malt, desto lichter und anrührender wirken vor diesem Hintergrund die Liebesversuche der beiden Hauptfiguren. Neu ist dieser dramaturgische Kniff nicht, er erinnert eher an altmeisterliche Erzählrezepte. Schon Tausende von Schriftstellern haben Geschichten nach diesem Muster gestrickt, bei manchen wurde tatsächlich Kunst daraus, bei anderen Kitsch. Doch solche Bewertungsfragen, die ohnehin oft genug strittig bleiben, stehen jetzt hier nicht zu Debatte. Entscheidend ist vielmehr, dass der Roman deutlich erkennbar einem ästhetischen Konzept folgt, das nicht auf einen denunziatorischen Racheakt an realen Personen zielt. Biller schildert die Welt als Haifischbecken, in der selbst unter Liebenden oder im trauten Familienkreis jeder nur auf den eigenen Vorteil aus ist. Wenn er seine Helden zudem noch Adam und Esra tauft, und damit gut hörbar die Namen des aus dem Paradies ins böse Diesseits vertriebenen Paares Adam und Eva anklingen lässt, scheint er seiner pessimistischen Diagnose des mitmenschlichen Zusammenlebens einen überzeitlichen, paradigmatischen Anspruch geben zu wollen. Dazu passt, dass er seinem Buch auf dem Schutzumschlag die einigermaßen pathetische Frage „Ist Liebe die letzte Utopie?“ mitgab. Allerdings entwirft Biller in „Esra“ nicht nur ein reichlich finsteres Weltbild, sondern er demontiert dieses Weltbild zugleich wieder mit formalen Mitteln – und diese literarische Selbstrelativierung mildert das Pathos des Buches und macht aus ihm in meinen Augen überhaupt erst einen bemerkenswerten Roman. Biller nutzt dazu drei erzähltechnische Kunstgriffe. Zunächst einmal präsentiert er die Geschichte nicht aus der Perspektive eines unbeteiligten oder eines scheinbar über den Dingen schwebenden, objektiven Erzählers, sondern aus der des Ich-Erzählers Adam, der noch dazu gelegentlich so tut, als würde er den Leser wie in einem persönlichen Gespräch mit einem höflichen „Sie“ direkt ansprechen. Für den Leser ist dabei aber evident, dass diese Gesprächssituation nur vorgetäuscht wird, schließlich spricht der Ich-Erzähler ja nicht tatsächlich bei der Lektüre mit ihm – was den fiktiven, den künstlichen Charakter der Geschichte betont. Zweitens hat Biller aus seinem Ich-Erzähler eine ausgesprochen unangenehme Figur gemacht. Ein derart unsympathischer Erzähler wie Adam, der noch dazu leicht paranoide Züge zeigt, kann jedoch nicht das schrankenlose Vertrauen der Leser gewinnen. Vielmehr werden die Leser vom Autor so regelrecht dazu gedrängt, sich über den Ich-Erzähler ihr eigenes Bild und von seinen Behauptungen mächtige Abstriche zugunsten der anderen Figuren zu machen. Und schließlich, drittens, säen Adam selbst und einige andere Figuren noch ganz ausdrücklich Zweifel an der Version der Geschichte, die er den Lesern serviert: Adam betont mehrfach, dass er in seinen Berichten „übertreibt“, dass er „zu viel Fantasie“ hat und den Lügen anderer aufsitzt. Dazu erinnert Lale in einem der Momente, in denen sie als liebenswert und großherzig geschildert wird, an die notorische Unzuverlässigkeit, ja Unzurechnungsfähigkeit von Autoren: „Diese Schriftsteller haben“, sagt sie, „gar keine Kontrolle über sich. Meistens wissen sie überhaupt nicht, warum sie das schreiben, was sie schreiben.“ Und Esra stellt außerdem noch Adam und damit auch dem Leser gegenüber klar, dass man auf keinen Fall für bare Münze nehmen darf, was der erzählt: „Du weißt überhaupt nicht, wie es wirklich ist“, sagt sie ziemlich zu Anfang des Romans, „du denkst immer nur, du wüsstest es.“ Wer also Billers Roman jenseits des Gerangels vor den Gerichten ohne Eifer und Zorn liest, erkennt schnell, dass er kein wüstes, ehrabschneiderisches Pamphlet ist. Das Buch erzählt eine zeitgenössische Romeo-und-Julia-Geschichte, unterminiert aber zugleich deren Glaubwürdigkeit. Es gibt vor, eine große Liebe exemplarisch an der Schlechtigkeit der Welt und der Unlösbarkeit alter Familienkonflikte scheitern zu lassen, hält aber zu dem enormen Pathos dieses Stoffes mit formalen Mitteln ironische Distanz. Aus literarischer Sicht gibt es also deutliche Indizien dafür, dass Billers Buch nicht auf die Bloßstellung realer Personen zielt. Zumindest wäre es für jeden Autor, der diese Absicht verfolgte, ein Leichtes, sehr viel wirkungsvollere Mittel dafür zu finden, Mittel vor allem, mit denen er seinen Ich-Erzähler in ein vorteilhafteres Licht rücken und ihm so eine weitaus höhere Glaubwürdigkeit verschaffen könnte. Noch wichtiger aber als diese Indizien ist die Tatsache, dass Biller seinem Buch den Untertitel Roman mitgegeben hat, und den Lesern so unmissverständlich signalisiert, dass es sich bei der Geschichte von Adam und Esra um eine Fiktion handelt. Damit sorgt er für eine simple, aber entscheidende Differenz. Ein Roman ist kein Tatsachenbericht. Während Zeitungsartikel, Autobiografien oder Sachbücher für sich in Anspruch nehmen, ihre Leser über Tatsachen zu informieren, weist ein Buch mit dem Untertitel Roman den Leser bereits auf der Titelseite darauf hin, das es keine realen Geschehnisse schildert, sondern eine Fiktionen entfaltet. Mit anderen Worten: Ein Roman beruft sich ausdrücklich nicht auf Fakten, sondern auf die Fantasie seines Autors. Sachbücher, Autobiografien oder Zeitungsartikel lassen sich selbstverständlich an der Frage messen, ob sie Wahrheiten oder Unwahrheiten über reale Personen verbreiten. Mit der gleichen Frage an einen Roman heranzugehen, ist dagegen unsinnig, denn seine Handlung ist nicht wahr oder unwahr, sondern erfunden. Natürlich finden sich immer unbedarfte Leser, die in jeder Geschichte nur einen zum Text geronnenen Abklatsch dessen sehen können, was der Autor erlebt hat – und die damit die eigentlich literarische, das Erlebnismaterial künstlerisch formende Leistung des Autors übersehen. Dieses Missverständnis ist so alt wie die Literatur selbst. Doch es ist nicht einzusehen, weshalb dieses Missverständnis der Literatur zur Last gelegt werden sollte. Bei Vladimir Nabokov heißt es sehr schön pointiert: : „Wer eine Geschichte ‚wahr‘ nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich.“ Der gleiche Gedanke lässt sich natürlich auch philosophisch gründlicher und mit deutscher Schwerfälligkeit formulieren. Hans-Georg Gadamer hat sich diese Mühe gemacht. Er beschreibt das Verhältnis zwischen Realität und Kunstwerk als eine „Verwandlung ins Gebilde“. Mit Verwandlung meint Gadamer hier, „das etwas auf einmal und als Ganzes ein anderes ist“, dass es also nicht nur eine äußere, akzidentielle Veränderung durchmacht, sondern einen substanziellen Wandel, bei dem es all das, was es früher einmal war, hinter sich lässt. „Verwandlung ins Gebilde ist nicht einfach Versetzung in eine andere Welt.“ Vielmehr hat das Kunstwerk „sein Maß in sich selbst gefunden und bemisst sich an nichts, was außerhalb seiner ist.“ Mit schlichteren Worten: Die Kunst entfaltet eine eigene Ordnung, die keine Gleichsetzung mit einer vermeintlich abgebildeten Realität mehr zulässt, da sie aus dieser Realität herausgelöst, herausgehoben ist und aus ihr eine andere, wie Gadamer sagt, „höhere“ Wahrheit spricht. Ich fürchte allerdings, dass solche ontologischen Überlegungen vor Gericht keine allzu hohe Durchschlagskraft entwickeln. Was, nebenbei gesagt, ein bemerkenswertes Licht auf das Verhältnis von Philosophie und Jurisprudenz wirft. Bezeichnend ist auch, wie viele Literaturkritiker in den Debatten um Esra die juristischen Argumentationsmuster bereitwillig übernahmen und sich in keiner Weise darum bemühten, stattdessen philosophische oder literaturtheoretische Überlegungen ins Zentrum zu rücken. Aber, geschenkt. Festzuhalten bleibt, dass Biller sein Buch durch den Untertitel Roman ausdrücklich als frei erfunden gekennzeichnet hat, oder drastischer formuliert, dass er seinen Lesern vorab signalisiert, sie mögen seine Geschichte gefälligst als erstunken und erlogen betrachten – und dass er diese vorausgeschickte Etikettierung mit allerlei erzähltechnischen Mitteln noch unterstreicht. Es ist, milde formuliert, nicht sehr logisch, in einer vom Autor ausdrücklich als Lüge und Legende ausgewiesenen Geschichte einen Versuch sehen zu wollen, die Rechte realer Personen zu verletzen.

Dieser Beitrag wurde unter Maxim Biller veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.