Max Goldt, der Meister der Kolumne, und das Glück des freien Geistes
Ein perfekter, ein exemplarischer Max-Goldt-Kolumnen-Absatz: „Die Trunksucht ist grob und brutal; dadurch unterscheidet sie sich, wie es mir vorkommt, von den anderen Lastern. Die anderen sind sozusagen geistiger; manche haben eine Art großen Schwung, wenn man es so nennen darf; es gibt Laster, die etwas vom Erkenntnisdrang in sich schließen, die eine gewisse Sorgfalt, Tapferkeit, Vorsicht, Geschicklichkeit und Feinheit verlangen; die Trunkenheit aber ist ganz körperlich und irdisch.“ Typisch Goldt: Wie da etwas rundum Gewöhnliches („Trunkenheit“), das sonst selten mehr als ein Augenbrauenheben hervorruft, vor den Augen der Leser mit spitzen Fingern auseinandergefaltet wird. Wie da mit einer präzisen Aufgliederung des sonst plump und pauschal verachteten („Laster“) begonnen und Überraschendes zu Tage gefördert wird („großer Schwung“, „Erkenntnisdrang“). Wie die so gewonnenen Einsichten aber gleich relativiert werden („wie es mir vorkommt“). Und wie sich der Autor, was an einem einzelnen Absatz naturgemäß nicht abzulesen ist, sehr bald und völlig ungeniert zu völlig anderen Themen weiterhangelt, etwa zu den Sportübungen seines Vaters, zur weiblicher Keuschheit und dem Mut mancher Märtyrer. Mustergültig. Die Sache hat allerdings einen Haken. Dieser so bilderbuchmäßige Max-Goldt-Kolumnen-Ausschnitt ist nicht von Max Goldt. Vielmehr hat er gut vierhundert Jahre auf dem Buckel und stammt von Michel de Montaigne (1533-1592). Und wer eine unverschmockte Montaigne-Übersetzung wie die von Arthur Franz zur Hand nimmt, wird schnell feststellen, dass die zitierten Passage längst nicht die einzige in den „Essais“ des französischen Landedelmannes der Spätrenaissance ist, die an die ebenso scharfsinnigen wie -züngigen Aufsätze des hochkomischen Berliner Zeitgeistbeobachters unserer Tage erinnert. Was, nebenbei bemerkt, selbstverständlich weder gegen Goldt noch gegen Montaigne spricht, sondern vielmehr für eine bemerkenswerte Geistesverwandtschaft über ein paar Epochen hinweg. Beide haben keine Hemmung, noch die nebensächlichsten Nebensachen der Welt im gleichen Kolumnen-Atemzug zu behandeln wie Fragen auf Leben und Tod. Beide gehen ihre Themen mit bewundernswerter Unvoreingenommenheit an, irgendwelche intellektuelle Verbindlichkeiten, Rücksichten oder Systemzwänge gleich welcher Art sind ihnen komplett fremd. Beide kennen keinen missionarischen Eifer, wollen niemanden überzeugen oder belehren, sondern möchten ihre Überlegungen lediglich so aufrichtig und ungeschminkt wie möglich formulieren: „Gewöhnlich nehme ich mir nichts vor, als alles aufzuschreiben, was mir gerade einfällt, ganz gleich, was es ist, dabei aber nur die Gedanken zu benutzen, die wirklich auf meinem Acker wachsen“ – schreibt Montaigne, doch der Satz könnte eben so gut einem der Äcker Goldts entsprossen sein. In seinem neuen Band „QQ“ zeigt Goldt wieder mal, was er alles kann, und er kann eine Menge. Es gibt nur wenige Schriftsteller, die einen so wachen Blick auf die deutsche Gegenwart werfen wie er. Die amorphe Musiksoße, mit der unsere Sendeanstalten ihre Fernsehspiele beträufeln; die wunderliche Gewohnheit vieler Frauen, Mini-Teddybären an ihre Rucksäcke zu heften; die verblüffende Selbstverständlichkeit, mit der allerorten der „gehobene Vermutungsunsinn“ angeblicher Trend- oder Zukunftsforscher lautstark in die Welt geblasen wird – all das und noch viel mehr macht er zur Zielscheibe eines derart einsichtsvollen wie bitterbösen Spottes, dass man sich fragt, weshalb derlei Unsitten danach noch fortexistieren können. Zudem darf man Goldt einen fabelhaften Sprachartisten nennen, einen Worterotiker und barocken Satzbaumeister, von dessen Meisterschaft sich so mancher vom Literaturbetrieb als Stilist gepriesener Dichterfürst eine Scheibe abschneiden könnte. Er hat dabei nichts von der Blockwartmentalität jener Dudenschwenker, die sich bei der uferlosen Debatte um die Rechtschreibreform wichtig taten. Er ist vielmehr ein Feinschmecker der Sprache, ein Karl Kraus von heute, der dem Bewusstsein seiner Zeitgenossen nachspürt anhand der Phrasen, die sie dreschen. Prachtvoll, wie er in „QQ“ beispielsweise die schwer überbietbare Schleimigkeit der Talkshow-Floskel: „Ich finde es ein unheimliches Geschenk, dass ich hier sitzen darf“ enthüllt. Oder wie er anhand eines einzelnen Satzes aus einer Theaterrezension eine Musterkollektion kritiklos repetierter Schreib- und Denkklischees von beträchtlicher Hohlheit vorführt. Hier enden, nebenbei gesagt, die Parallelen zu Montaigne. Der betrachtete sich, wohl auch angesichts der Verehrung seiner Zeit für die klassische Rhetorik und den notorischen Sprachfetischismus seiner Heimat, eher als einen Freund des schlichten Wortes: „Die Kunst des Ausdrucks schadet der Sache, wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wie bei einem Anzug einen kleinen Geist verrät, wenn sich jemand durch etwas Besonderes und Ungewöhnliches hervortun will, so ist es auch beim sprachlichen Ausdruck. Da entspricht das Suchen nach ungewöhnlichen Satzbildungen und nach ungebräuchlichen Worten einem kindlichen, schülerhaften Ehrgeiz.“ Aber das ist natürlich längst nicht das einzige, was die beiden trennt. Im Gegensatz zu seinem literarischen Urahnen liebt Goldt es, nahezu alles, was ihm begegnet, zum Gegenstand ästhetischer Erwägungen zu machen. Geschmack ist, wie er einmal geschrieben hat, keine „gottgegebene Eigenschaft“, sondern „eine Größe, an der beständig gearbeitet werden muss“. Wer aber so konsequent wie er ästhetische Überlegungen in den Mittelpunkt seines Lebens rückt, will sagen: wer der Welt mit geschärften Sinnen, beträchtlicher Intelligenz und entschlossen Urteilsbereitschaft gegenübertritt, für den verwandelt sie sich in ein Universum wundersamer Überraschungen. Glücklicherweise aber zählt Goldt nicht zu jenen Fanatikern des Stilgefühls, die bereit sind, jedem, der anderen ästhetischen Vorlieben frönt als sie, umgehend das Existenzrecht abzusprechen. Vielmehr bleibt er selbst den eigenen Ansichten nicht sonderlich lange treu, sondern schwingt sich wie ein Freibeuter in der Takelage seiner durch das Meer der Geschmacksurteile kreuzenden Kolumnen-Fregatte munter von Standpunkt zu Standpunkt. Wichtig scheint ihm lediglich eine geradezu buddhistische heitere Achtsamkeit für jedes noch so geringe Detail des Daseins zu sein. Denn jedwede Kleinigkeit kann, wendet man sich ihr nur konzentriert genug zu, zur Steigerung der Lebensintensität beitragen. So findet sich in Goldts Kolumnen die ganze krude Konfusion der Realität wieder, es geht in ihnen so chaotisch zu wie im Leben selbst. Doch wird das Durcheinander hier eben geformt und zusammengehalten durch einen Kunstverstand, der dem ungemilderten Zusammenprall der Kontraste vor allem eins abzugewinnen versteht: Witz, Lebenslust, groteske Komik, Nonsens. Goldt hat, wie schon Robert Gernhardt, einem seiner literarischen Entdecker gleich zu Anfang auffiel, die „Freude am Disparaten“, am „Verwirrspiel“, am „Hakenschlagen“ zur Triebfeder seiner Arbeit gemacht. Mit dieser fröhlichen Verachtung aller üblichen Hierarchien und intellektuellen Ordnungen werden seine Aufsätze zum literarischen Echo eines postmodernen Denkens, das notgedrungen von der Vorstellung zentraler Gewissheiten und strenger Rangfolgen Abschied nahm. Auch wenn Montaigne der Komik lange nicht so viel Wert beimaß wie Goldt, liegt ihm dessen Ziel, lieber aus der Vielfalt ein Fest zu machen als mit Blick aufs kunterbunte Leben intellektuelle Geschlossenheit und Einheitlichkeit herbei zu zwingen, ebenso am Herzen. „Die ganze weite Welt ist der Spiegel, in dem wir uns betrachten müssen“, mahnte dieser vormoderne Meister als sei ihm das heute immer engere Nebeneinander der Kulturen bereits vertraut gewesen: „Es gibt so viele Arten, Neigungen, Sekten, Meinungen, Gesetze und Sitten; ihre Verschiedenheit lehrt uns, den Wert dessen, was bei uns gilt, richtig einzuschätzen; sie lehrt uns, uns bewusst zu werden, wie beschränkt und schwach unser Urteilsvermögen seiner Natur nach ist.“ Vielleicht verbirgt sich hier, in der Selbstbetrachtung bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Selbstrelativierung der Kern jener verblüffenden Verwandtschaft dieser beider Autoren aus so unterschiedlichen Zeitaltern. Wer Goldt liest, fühlt bald eine eigentümliche Beschwingtheit. Woher die kommt? Nietzsche nannte Montaigne einmal einen wahrhaft freien Geist. Dem muss man mit Blick auf Max Goldt beipflichten. Es wäre grundfalsch, sich als Leser Goldts wechselnden Ansichten, Meinungen, Überzeugungen anzuschließen. Doch die Unbefangenheit seiner Urteile und die Freiheit, mit der er sie fällt, färben ab. Man ahnt mit einem Mal, wie unsinnig all die Befangenheiten oder Rücksichten sind, in die wir uns viel zu oft verheddern. Und sofort fühlt man sich leichter, gelöster, freier – und möchte weiter lesen, weiter, immer weiter.
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