Aus Stimmen Leben machen

Ulrich Plenzdorf, der Vater „des jungen W.“ und von „Paul und Paula“ ist tot

Ulrich Plenzdorf vereinte auf verblüffend harmonische Weise vollkommen gegensätzlichen Eigenschaften. Er war ein Rebell und ein präziser literarischer Handwerker, ein Popautor und ein Preuße, ein Mann mit nüchterndem Blick für politische Tatsachen und zugleich ein unbelehrbarer Romantiker. Vor allem aber verfügte der 1934 in Berlin geborene Plenzdorf über ein Talent, dass unter deutschen Gegenwartsautoren nicht im Übermaß verbreitet ist: Er hatte die Fähigkeit, seine Figuren vor den inneren Augen der Leser lebendig werden zu lassen – und zwar nicht durch das, was sie sagen, sondern dadurch, wie sie es sagen. Er konnte einprägsame, für viele Menschen unvergessliche Charaktere formen allein aus Vokabular und Tonfall. Kein Wunder, dass Plenzdorf also Drehbuch- und Bühnenautor wurde. Er schrieb nicht nur Rollen, er schrieb Stimmen, in die Schauspieler hineinschlüpfen konnten wie in Maßanzüge. Am erfolgreichsten war er mit dieser Kunst allerdings nicht in einem Theater- oder Film-Manuskript, sondern in einem kleinen Roman: „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1973). Plenzdorf hatte das Buch zunächst für die Schublade geschrieben, denn er ahnte, dass sich die Kulturfunktionäre der DDR mit Händen und Füßen dagegen wehren würden, es zu veröffentlichen. Als aber Erich Honecker 1971 Walter Ulbricht aus dem Amt schubste und den Schriftstellern des Landes vorübergehend etwas längere Leine ließ, konnten die „Neuen Leiden“ zunächst in einer Bühnenfassung in Halle uraufgeführt und dann auch gedruckt werden. Das Buch erzählt die realsozialistische Variante der ewig gleichen, ewig wahren Geschichte des idealistischen Jugendlichen, der aufbegehrt gegen die engherzige, rationale Welt der Erwachsenen. Obwohl Plenzdorf nach eigenen Worten „rot bis auf die Knochen“ war (er stammte aus einer kommunistischen Arbeiterfamilie, die Nazis hatten beide Eltern inhaftiert, seine Mutter verbrachte ein Jahr im KZ Mohringen), hielt er dabei mit seiner Enttäuschung über den tristen Alltag der DDR nicht hinterm Berg: Sein junger Held schwärmt für Jeans und Popmusik aus dem Westen und reibt sich wund an dem kleingeistigen sozialistischen Spießertum des Landes. Der Roman ist ein Meisterwerk der Stimmimitation: Auf den Spuren von Mark Twains „Huck Finn“ und Salingers „Fänger im Roggen“ traf Plenzdorf einen schnoddrigen Ton, in dem sich Jugendliche sowohl in Ost wie in West wiedererkennen konnten. Dass es ihm aber darüber hinaus noch gelang, den verlogenen Polit-Jargon der DDR-Zeitungen, die hilflosen Platitüden der Erwachsenen und nicht zuletzt das glühende, bedrängende Deutsch aus Goethes „Werther“ – den Plenzdorfs Held über die Jahrhunderte hinweg als einen Seelenverwandten betrachtet – in diesem schmalen Roman unterzubringen, macht aus ihm ein frühes Glanzstück postmoderner Literatur, entstanden zu einer Zeit, in der in Deutschland noch kaum jemand diesen Begriff auch nur buchstabieren konnte. Das Buch wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und erreiche eine Auflage von weit über vier Millionen. Man darf es zu den wenigen Welterfolgen der DDR-Literatur zählen. Einfacher gebaut, aber emotional nicht minder wirkungsvoll war Plenzdorfs Drehbuch zu „Die Legende von Paul und Paula“ (1973), das der Regisseur Heiner Carow auf die Leinwand brachte. Der Film avancierte in der DDR zum Klassiker und wird noch heute in Berliner Kinos gespielt. Angesiedelt irgendwo zwischen Erich Segals „Love Story“ und Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ zeigt er eine junge Frau, die mit ihrer unbedingten Lebens- und Liebeslust an der Schmalspurigkeit ihrer sozialistischen Umwelt scheitert und bei der Geburt des dritten Kindes stirbt. Der Film machte Angelika Domröse zum Star und Plenzdorf zum Helden aller romantischen Seelen der DDR. Mit dem virtuosen Prosastück „kein runter kein fern“ gewann Plenzdorf dann 1978 den Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis: Er entwarf den Bewusstseinstrom eines geistig behinderten zehnjährigen Schülers, der mit anderen Jugendlichen von Ost-Berlin aus ein Konzert der Rolling Stones auf dem Dach des Springer-Hochhauses in West-Berlin hören will, und von Grenzpolizisten – unter ihnen der eigene Bruder – niedergeknüppelt wird. Moralisch schärfer, aber auch literarisch entschiedener konnte die Kritik am diktatorischen Sozialismus der DDR schwerlich ausfallen. Bereits 1976 hatte Plenzdorf den legendären Petitionsbrief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieben, und danach, was ihm kaum ein anderer Autor damals nachmachte, die SED aus Protest verlassen. Die siebziger Jahren waren Plenzdorfs große Zeit. Aber auch danach hat er, der disziplinierte Preuße, unbeirrt weitergearbeitet. Er schrieb unter anderem die Drehbücher zu Martin Walsers „Fliehendem Pferd“ und zu Hans Falladas „Trinker“ (verfilmt mit Harald Juhnke), zu Erwin Strittmatters „Der Laden“ und schließlich zu der von Jurek Becker übernommenen Fernsehserie „Liebling, Kreuzberg“ – die er in sein vertrautes Revier am Prenzlauer Berg verpflanzte und für die er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. So spektakuläre Publikumserfolge wie zuvor erzielte er nicht mehr, aber was immer er ablieferte, hatte hohe handwerkliche Qualität. Plenzdorf war, was es in der deutschen Literatur selten gibt, ein Meister des well-made-plays, des dramaturgisch wie sprachlich perfekt gearbeiteten Stückes. Er ist gestern im Alter von 72 Jahren nach langer Krankheit in Berlin gestorben.

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„Der Mond und das Mädchen“

Martin Mosebachs zauberhaft zarter und zugleich satirisch böser Roman

Die Freiheit ist ein seltenes Wild. Selbst in den Ländern und Großstadtdschungeln des liberalen Westens ist sie nicht oft und nur unter beträchtlichem Einsatz zu erjagen. Man schließt gern die Augen davor, aber im Grunde gleiten Lebensläufe meist dahin wie auf Schienen, in ihrer Richtung vorbestimmt durch Erziehung, Zeitgeist, Konventionen. Nur sehr gelegentlich kommt mal eine Weiche, an der behutsam der Weg korrigiert werden kann und fast nie wagt es jemand, die Lok von den Geleisen zu heben und sich jenseits des Bahndamms die eigene Spur zu suchen. Solche raren Momente der Freiheit, gezielt oder halb unabsichtlich herbeigeführt, hat Martin Mosebach, schon mehrfach zum Motor seiner Romane gemacht. Jetzt wurde ihm, der lange Zeit wenig Aufmerksamkeit fand, mit dem Büchnerpreis eine der höchsten literarischen Ehrungen des Landes zugesprochen. Gerade rechtzeitig zur Auszeichnung erscheint sein neuer, zauberhaft zarter und zugleich satirisch böser Roman „Der Mond und das Mädchen“. Und auch den treibt die geheime, vor sich selbst uneingestandene Sehnsucht des Helden voran nach einem Ausbruch aus der festgelegten Lebensbahn. Hans heißt seine Hauptfigur: ein junger, frisch verheirateter Hamburger Universitätsabsolvent, der gerade in Frankfurt seine erste Stelle bei einer Bank antritt. Er ist kein Dummkopf, aber offenkundig von ernsteren Lebenserfahrungen bislang verschont geblieben und deshalb nicht frei von einer gewissen Naivität. Seine Frau Ina reist gleich nach der Hochzeit mit ihrer Mutter nach Italien, er selbst nimmt in Frankfurt seine Arbeit auf und möchte nebenher in der fremden Stadt gewissermaßen Quartier machen, also eine geeignete Unterkunft für sich und Ina finden. Da die Mieten in den besseren Stadtteilen eine infame Höhe erreicht haben, entscheidet sich Hans schließlich für eine Wohnung in der Nähe vom Hauptbahnhof, unmittelbar an einem der tristesten, verkehrsreichsten, unwirtlichsten Plätze der Innenstadt. Damit scheint der weitere Handlungsverlauf des Romans absehbar: Der Held, aus wohlgeordneten Verhältnissen stammend, findet sich inmitten rauer sozialer Realitäten wieder, die ihn und seine junge Frau bedrohen, und gegen die er sich zur Wehr setzen muss. Tatsächlich ist das Milieu, mit dem er sich nun konfrontiert sieht, für Hans weder vertraut noch Vertrauen erweckend: Das Ehepaar in der Etage unter ihnen, er Kunsthistoriker, sie Schauspielerin, machen einen zwar gebildeten, aber reichlich bohèmehaften Eindruck. Dazu ein marokkanischer Hausmeister, der nicht nur die Post der Mieter ausforscht, sondern die ganze Nachbarschaft wie ein Mafia-Pate zu kontrollieren vorgibt. Überdies ein grotesk verfetteter Hausbesitzer, der über das Scheitern seine Ehe nicht hinwegkommt, sich offenbar vom Hausmeister um die Mieteinnahmen prellen lässt und deshalb auf Almosen angewiesen ist. Doch Mosebach kippt die Verhältnisse um. Nicht die scheinbar so dubiosen neuen Bekanntschaften machen Hans zu schaffen, sondern die Lebenskreise aus denen er stammt. Seine Schwiegermutter, die bezeichnenderweise von Klein heißt, ist eine bornierte, engherzige Familientyrannin. Sie kennt kein Interesse jenseits des materiellen Wohlergehens – und diesem Vorbild eifert die Tochter immer offener nach. Beide Damen haben für die Anwohnerschaft rund um den Frankfurter Bahnhof keinen Sinn. Hans dagegen fühlt sich nicht unwohl zwischen den neuen Nachbarn, die aus allen Himmelsrichtungen in die Stadt gespült wurden und sich während heißer Sommerabende im Hof bei einer Trinkhalle versammeln, um die Nächte zu verplaudern. Die kuriose Völker- und Schicksalsmixtur weckt seine Neugier und die lebensfrohe Schauspielerin eine Etage tiefer seine Abenteuerlust. Martin Mosebach ist einer der großen Erotiker unter den deutschen Erzählern der Gegenwart. Nicht, dass er sexuelle Vorgänge besonders explizit beschriebe, im Gegenteil, er ist in dieser Hinsicht auf eine liebenswert altmodische Weise diskret. Vielmehr versteht er es zum Beispiel in diesem Roman, die sommerlich aufgeheizte Stadt Frankfurt in eine sinnlich schwüle, lastende, der ersehnten Entspannung entgegenfiebernde Atmosphäre zu tauchen. Er zeigt, wie die Distanz zwischen Hans und Ina zunimmt und wie die wachsenden Anziehungskräfte zwischen Hans und seiner Nachbarin für immer neue Begegnungen und kleine Flirts sorgen. Ohne zuviel vom Ausgang der Geschichte zu verraten: In der Wohnung der Schauspielerin recken sich die übervollen Bücherregale der Decke entgegen und auf den letzten Zeilen des Romans heißt es von dem Helden, der zuvor kein großer Anhänger der Literatur war: „Hans liest viel“. Erstaunlicherweise wird Mosebach gern als Kronzeuge für eine Renaissance des Bürgertums in Anspruch genommen. Daran sind sein sehr kultiviertes Auftreten, seine beeindruckende Bildung und die Tonlage seiner Romane vermutlich nicht unschuldig. Weil er Gesellschaftsromane nach dem Vorbild bürgerlicher Romanciers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schreibt, möchte man in ihm gern einen Vorboten der Wiederkehr bürgerlicher Lebensformen sehen. Doch wer sich etwas gründlicher mit seinen Büchern beschäftigt, wird darin wenig finden, das zu solchen Hoffnungen ermutigt. „Der Krieg hatte erbarmungslos den wahren Zustand bürgerlicher Kultur offenbart“, schrieb Mosebach einmal. „Vor dem Krieg hatten die Nachkommen alter Familien in ihren unzerstörten Häusern mit den Bildern und Möbeln gesessen, die ihnen über Generationen zugewachsen waren. Aber als es nach dem Krieg daranging, etwas Neues zu schaffen, das ansehnlich und menschenwürdig aussah, kam heraus, dass das ästhetische Konto seit langem überzogen war. Die Barockmöbel waren erst jüngst verbrannt, der Geschmack, der sie hervorgebracht hatte, war schon lange gestorben.“ Kultureller Niedergang ist, so Mosebach, kein abrupter, sondern ein allmählicher Prozess, auch wenn er nach historischen Katastrophen schlagartig sichtbar wird. Und er lässt sich, das liegt auf der Hand, nicht durch eine plötzlich wiedererwachte öffentliche Wertschätzung des lange geschmähten Bürgertums kurzerhand rückgängig machen. Sicher, Mosebach stellt im neuen Roman Frau von Klein als typische Vertreterin eines amorphen Wohlstandsmilieus, zu dessen höchstem denkbaren Lebensziel größtmögliche Bequemlichkeit geworden ist, mit satirischer Schärfe bloß. Doch sein Held lässt sich im Kontrast dazu eben nicht von reanimierten bürgerlichen Ideen faszinieren, sondern von einer betont unkonventionellen Schauspielerin und von dem multikulturellen Völkergemisch, das noch die ödesten Wüsteneien unserer Großstädte zu besiedeln und auf seine Weise zu rekultivieren beginnt. Selbst in seinem bislang einzigen historischen Roman „Der Nebelfürst“, der größtenteils im Frankfurt des Fin de Siècle spielt, und aus dem Mosebach leicht eine nostalgische Liebeserklärung an die versunkene Bürgerkultur hätte machen können, begegnet er allen braven Bürgersleuten betont ironisch. Seine Zuneigung dagegen gehört immer wieder jenen Figuren, die aus den Geleisen der üblichen Biographien herausspringen, also den Abenteurern, Hochstaplern, schrägen Vögeln und Phantasten, die jenseits der viel befahrenen Bahndämme die eigene Freiheit suchen, oder eben jenen Träumern, die sich nach einem solchen Ausstieg sehnen wie der schlichte Held in „Der Mond und das Mädchen“. Vielleicht darf man in Hans einen späten Nachfahren von Eichendorffs Taugenichts sehen – der sich allerdings letztlich als so willensschwach herausstellt, dass er anders als sein literarischer Urvater nicht selbst nach Italien aufbricht, sondern statt dessen Frau und Schwiegermutter reisen lässt, also zu einem echten Taugenichts nicht taugt. Mosebachs Sympathie für die Aussteiger aus der auf moderate Mittelwerte gedimmten Massengesellschaft ist in der Nachkriegsliteratur nichts Ungewöhnliches. Von Böll bis Grass haben einige der wichtigsten Erzähler mit Vorliebe die Nonkonformisten, die Querköpfe und -treiber zu ihren Helden gemacht. Das Besondere von Mosebachs Romanen ist vielmehr ihre Form, ihre Tonlage. Für zahllose Kritiker und Literaturwissenschaftler galt es hierzulande mindestens eine Generation lang als ausgemacht, dass der auktoriale Erzähler, der den Leser gleichsam an die Hand nimmt, um ihn durch den Roman zu führen und alle Handlungen oder Gefühle der auftretenden Figuren ausführlich zu kommentieren, ein für allemal überlebt sei. Mosebach aber hat nie an die Innovationsgebote und das an das Fortschrittspathos der modernen Ästhetik geglaubt, sondern sich als Schriftsteller die Freiheit genommen, aus den Geleisen der literarischen Trends zu springen und den Möglichkeiten des auktorialen Erzählens zu schwelgen, obwohl ihn der Literaturbetrieb deshalb lang Zeit missachtete. Doch die alten Dogmen haben inzwischen ihre alte Macht verloren. Dass es gute literarische Gründe dafür geben kann, Geschichten in alter Manier zu erzählen – um es mit dem Untertitel von Ingo Schulzes jüngstem Erzählungsband zu sagen – beginnen allmählich selbst Kritiker zu akzeptieren, die noch vor wenigen Jahren ganz und gar auf den Modernismus fixiert waren. An dem wunderbaren Roman „Der Mond und das Mädchen“ lassen sich einige solche Gründe studieren. So kann Mosebach beispielsweise von seinem unbedarften Helden Hans erzählen, ohne in unbedarfte Rollenprosa verfallen zu müssen, da ein auktorialer Erzähler eben auf den ganzen Scharfsinn, die Bildung und die Sprachkraft des Romanciers Mosebach zurückgreifen kann. Und wenn Mosebach in einen alten, reichen, gut zweihundert Jahre tief in der Literaturgeschichte verwurzelten Tonfall unsere aktuelle Milieus und Umgangsformen schildern, wirft das auf die Gegenwart ein seltsames Zwielicht. Man erkennt mit einem Mal wie ärmlich, wie karg unsere Zeit – die sich so gern für die Krönung der Geschichte hält – mitunter wirkt im Vergleich zur ästhetischen Fülle und Pracht vergangener Epochen.

Martin Mosebach: „Der Mond und das Mädchen“. Roman
Carl Hanser Verlag, München 2007 191 Seiten, 17,90 €

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„Aufwachen und wiederfinden“

Neue und alte Gedichte von Peter Rühmkorf

Offen gestanden: Dieses Bändchen von Peter Rühmkorf enthält nur zwei Gedichte, die bislang noch nicht in anderen Bänden Rühmkorfs gedruckt wurden. Andererseits aber und noch viel offener gestanden: Ein Buch mit nur zwei neuen Gedichten dieses Meisters ist allemal ein so großes Leseerlebnis und -vergnügen, dass sich nicht viele Bände anderer Autoren damit messen können, selbst wenn sie bis zur letzten Zeile nur zuvor unpubliziertes Material enthalten sollten. „Als ich endlich war / was ich früher einmal hatte werden wollen, / wohl gelitten, gern gelesen, / waren meine besten Zeiten offenbar / schon gewesen. / Und Fortunas Rad / rapide am Abwärtsrollen. / Schlimmes Jahr“: Es gibt nicht viele Dichter hierzulande, die so eine Strophe hinkriegen, so ehrlich und traurig, aber dennoch so frisch und kulinarisch. Diese Vielfalt der Tonfälle, diese überraschenden, leicht angeschrägten, noch nie dagewesenen Reime, dieser ironische, aber nie beschönigende, sondern immer um Wahrhaftigkeit bemühte Blick auf sich selbst! Viel besser geht’s nicht.

Peter Rühmkorf: „Aufwachen und wiederfinden“. Gedichte Insel Verlag, Frankfurt am Main 65 Seiten, 11,80 €

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„Die Kunst des Unmöglichen“

Peter Hamm Aufsätze zur Literatur verdienen Respekt, aber auch Kritik
Wenn der Essayist und Lyriker Peter Hamm über andere Schriftsteller schreibt, dann ausdrücklich nicht als Kritiker, sondern als Kenner und Kollege. Und ein Kenner, insbesondere der Schweizer Literatur und der Lyrik der Moderne, ist er unbedingt. Nach der Lektüre seines neuen, dritten Sammelbandes mit Aufsätzen zur Literatur möchte man sich respektvoll verbeugen angesichts der Fülle seines Wissens. Doch trotz allen Respekts scheint mir einiges an seinen Essays fragwürdig, ich will versuchen zu erklären warum. Hamm widmet sich mit Vorliebe schon kanonisierten Dichtern. Fast alle lebenden Autoren, über die er im neuen Band schreibt, haben mindestens den Büchner-Preis vorzuweisen. Unter den toten Schriftstellern, denen er seine Aufmerksamkeit schenkt, wimmelt es von Nobelpreisträgern. Der große Nachdruck, mit dem er immer wieder auf derartige Ehrungen hinweist, wirkt so, als betrachte er sie als kaum noch bezweifelbare Bestätigung literarischer Qualitäten. Er erspart sich auf diese Weise die Arbeit des Kritikers, der allein unter Berufung auf die eigene Autorität – also ungeschützt und jederzeit angreifbar – zwischen Gelungenem und Misslungenem zu unterscheiden versucht. Dem entspricht Hamms Neigung zu feierlichen und getragenen, aber auch leicht abgetragenen Formulierungen. Bei ihm lebte James Joyce nicht in Triest, nein, er „weilte“ dort. Das Werk von Henri Michaux hat nicht bis heute rätselhafte Züge, sondern ihm „eignet“ bis heute „Rätselhaftigkeit“. Ingeborg Bachmann hatte gegen Ende ihres Lebens keine Schreibkrise, sie ging vielmehr „ihres poetischen Ingeniums fast verlustig“. Literarische Bedeutung wird so durch die Bedeutsamkeit des Vokabulars suggeriert, statt argumentativ belegt. In welchem Maße Hamm bereit ist, sich auf die Magie schöner Worte zu verlassen, klingt an, wenn er Derek Walcott attestiert, seine Poesie vermittle „selbst dort den Eindruck von tiefer Wahrheit, wo sie dunkel und verschlüsselt wirkt“. Hamm tendiert dazu, in seiner Begeisterung für die Dichtung das Lob für die Dichter allzu hoch anzusetzen. Jeder von ihnen müsse, behauptet er, „versuchen so zu schreiben, als sei er der erste und der letzte Mensch zugleich“. Leider wird nicht recht klar, was sich hinter dieser Forderung konkret verbirgt, weil naturgemäß niemand wissen kann, wie erste oder letzte Menschen schreiben – und so entpuppt sich die Formulierung als dramatisches, aber bedeutungsleeres Wortgeklingel. Und wenn Hamm Ungaretti zum „Gesetzgeber“ der modernen Lyrik erklärt und seine Gedichte an die Seite der „Heiligen Schrift“ rückt, würde man ihn gern um etwas mehr Nüchternheit bitten. Wer so viel Weihrauch schwenkt, dem steigt er leicht in die Augen und das trübt den Blick. Wie ein Kritiker hat auch Hamm seine literarischen Vorlieben und Abneigungen – und er hat, wie ein Kritiker, ein gutes Recht auf sie. Niemand kann allen Spielarten der Literatur gleichermaßen gerecht werden, und letztlich wäre im Disput über Dichtung auch nichts uninteressanter und temperamentloser als eine solche allumfassende Gerechtigkeit. Hamm bevorzugt vor allem Autoren, die in seinen Augen ihre Kindlichkeit, ihr „kindliches Ich“, nie vollständig abgelegt, sondern immer staunend auf die Welt geschaut haben. Nicht zuletzt in dieser Eigenschaft sieht er ein Wesensmerkmal des Poeten und versichert sich von Goethe („Kindlich – unüberwindlich“) über Marina Zwetajewa („Dichter wird man als Kind“) bis Henri Michaux („Das Kind ist mehr Mensch als der Mensch“) durch Zitate der Zustimmung hoher Autoritäten. Dass damit Autoren, deren lyrisches Ich einen eher unkindlichen Eindruck macht wie das von Brecht oder Benn, in Hamms lyrischem Weltbild kaum vorkommen, ist nicht weiter schlimm, denn wie gesagt, bei Meinungsäußerungen zur Literatur ist umfassende Ausgewogenheit keine Tugenden. Ein wenig unbefriedigend aber ist, dass Hamm, der in den Jahren nach der Studentenbewegung in literarischen Fragen entschieden politisch argumentierte, sich nun, ohne die Gründe für diesen Überzeugungswandel begreiflich zu machen, mit ebenso großer Entschiedenheit für eine Dichtung einsetzt, die von allen politischen, ja allen sozialen Zusammenhängen absieht. Über Derek Walcott etwa schreibt er: „Wie jeder wahrhafte Dichter träumt er von der Kunst der Kindwerdung, vom großen Vergessen, das den Skandal der Geschichte auslöscht.“ Hier zeigt die Argumentation in Hamms Aufsätze meines Erachtens eine auffällige Lücke. Seine Vorstellung, „wahrhafte Dichter“ hätten das große Vergessen zu suchen und aus der Geschichte in skandalfreie Zeitlosigkeit auszubrechen, versetzt die Lyrik allzu leicht in weltferne Sphären – in denen sie aber vor politischem Missverständnis oder Missbrauch keineswegs geschützt sind. Die Zahl jener Klassiker der literarischen Moderne, die sich für Diktatoren oder totalitäre Weltanschauungen begeisterten, ist so hoch, dass man wohl danach fragen darf, ob das allein historischen Zufällen geschuldet ist. Doch selbst wenn Hamm erwähnt, dass Ungaretti sich zu einem seiner Gedichtbände ein Vorwort von Mussolini persönlich schreiben ließ, nennt er das schlicht „unbegreiflich“ und enthält sich jeder weiteren Analyse, ob es denn einen Zusammenhang geben könnte zwischen dem revolutionären Erneuerungsanspruch der literarischen Moderne und den revolutionären Erneuerungsanspruch faschistischer oder kommunistischer Ideologien.

Peter Hamm: „Die Kunst des Unmöglichen oder Jedes Ding hat (mindestens) drei Seiten“. Aufsätze zur Literatur
Carl Hanser Verlag, München 2007 282 Seiten, 21,50 €

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Wenn Richter über Romane richten

 Vom Skandal eines Literaturprozesses ohne Sachverständige: Ein Gutachten fordert die Aufhebung des Verbots von Maxim Billers Roman „Esra“ 

Wie immer man Maxim Billers Roman „Esra“ beurteilt, ob man ihn schätzt oder nicht, eins ist sicher: Er wird deutsche Rechtsgeschichte schreiben. Seit seinem Erscheinen 2003 ist er verboten, da zwei Klägerinnen aus München glauben, sich in Figuren des Buches wiederzuerkennen. Sie sehen sich dadurch öffentlich bloßgestellt und in ihrer Intimsphäre verletzt. Der Fall, bei dem es um nichts Geringeres geht als um eine Abwägung zwischen der vom Grundgesetz garantierten Freiheit der Kunst und den ebenfalls grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechten, wurde durch drei Instanzen bis hin zum Bundesgerichtshof verhandelt. Jetzt liegt er beim Bundesverfassungsgericht. Dessen Urteil wird, wie immer es ausfällt, entscheidende Bedeutung für künftige Spielräume der Kunst hierzulande haben. Zum Skandal des bisherigen Verfahrens gehört, dass von keiner der drei Vorinstanzen – auch nicht vom Bundesgerichtshof – wissenschaftliche Gutachten über den Roman und seinen Wirklichkeitsgehalt eingeholt wurden. Bei Prozessen, in denen technische, medizinische oder auch psychologische Fragen zur Sprache kommen, gilt es als Selbstverständlichkeit, dass Experten hinzugezogen werden. Wenn, sagen wir, der Einsturz eines Hauses vor Gericht verhandeln wird, ist es kaum vorstellbar, dass deutsche Richter eine Entscheidung fällen, ohne zuvor sachkundige Statiker gehört zu haben. Was ist aus der Tatsache zu schließen, dass alle bislang im Fall „Esra“ urteilenden Richter glaubten, auf literaturwissenschaftliche Expertisen verzichten zu können? Spricht daraus das Selbstbewusstsein von Juristen, die meinen, bei der Beurteilung von Kunstwerken keinen kompetenten Rat zu brauchen? Oder ihre Geringschätzung einer Literaturwissenschaft gegenüber, deren Erkenntnisse in ihren Augen für juristische Verfahren irrelevant sind? Oder eine Missachtung der Literatur, deren Freiheit zwar zu den Grundrechten zählt, die aber offenbar im Konfliktfall die Mühe nicht Wert ist, sich die diffizilen Zusammenhänge zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit von Experten erläutern zu lassen? Jetzt wurden von dem Juristen Christian Eichner (Düsseldorf) und dem Germanisten York-Gothart Mix (Marburg) erstmals die rechts- und literaturwissenschaftlichen Argumente im Fall „Esra“ gemeinsam abgewogen, in einem Gutachten zusammengefasst und dem Präsidenten der Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier vorgelegt (siehe: http://www.literaturkritik.de/public/Mix-EichnerLang.pdf). So kompliziert die Materie dieser Studie ist, so einfach ist ihr Fazit: Der Fall „Esra“ sei, schreiben Eichner und Mix, aus ihrer Sicht als Sachverständige „unbedingt im Sinne der Kunstfreiheit zu entscheiden“, das Verbot des Romans soll aufgehoben werden. Im Gegensatz zu allen übrigen mit dem Fall befassten Instanzen hat sich das Verfassungsgericht um Gutachten bemüht, unter anderem vom Pen-Club, vom Verband deutscher Schriftsteller und vom Börsenverein des deutschen Buchhandels, die ebenfalls alle für eine Freigabe des Romans plädierten. Diese Organisationen muss man allerdings als Interessenvertreter betrachten, was ihr Urteil relativiert. Die Autoren Eichner/Mix sind dagegen nicht als Lobbyisten der Literatur tätig geworden, was den Ergebnissen ihres Gutachtens eine besondere Bedeutung verleiht. Eichner und Mix kommen vor allem auf eine Entscheidung zurück, mit der das Bundesverfassungsgericht 1971 eine Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot des Romans „Mephisto“ von Klaus Mann zurückwies – und auf deren Begründung sich der Bundesgerichtshof im Fall „Esra“ zum Teil wörtlich bezog. Die Entscheidung von 1971 kam denkbar knapp durch eine 3:3-Stimmgleichheit im urteilenden Senat zustande. Zwei der Richter, die sich mit der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde nicht einverstanden erklärten, legten daraufhin ihre abweichenden Ansichten schriftlich nieder. Vor allem einer von ihnen, Erwin Stein, bestand darauf, dass – was auch in der Literaturwissenschaft als unumstritten gilt – von Fiktionen nicht auf Fakten, von literarischen Schilderungen nicht auf reale Gegebenheiten geschlossen werden darf: „Die Beurteilung des Romans allein nach den Wirkungen, die er außerhalb seines ästhetischen Seins entfaltet, vernachlässigt das spezifische Verhältnis der Kunst zur realen Wirklichkeit und schränkt damit das garantierte Freiheitsrecht der Kunst in unzulässiger Weise ein.“ In einer genauen Analyse von „Esra“ können Eichner und Mix aber zeigen, dass in dem Roman Wirklichkeit nicht abgeschildert, sondern nach einer „literarästhetischen Programmatik“ geformt wird – und dass ihm also der Charakter einer Fiktion, bzw. eines Kunstwerkes nicht abgesprochen werden kann. Sie gestehen zu, dass die „Esra“-Entscheidung des Bundesgerichtshofes nach dem Vorbild des „Mephisto“-Urteils zustande gekommen ist. Sie zeigen aber, dass bereits dieses Urteil verfehlt war und dass das Bundesverfassungsgericht hier seine Position dringend revidieren muss. Denn „individuell Erlebtes in literarischen Texten zu tabuisieren, kommt einer Amputation literarischer Inspiration gleich.“ Welche Bedeutung die erwartete Entscheidung des Verfassungsgerichts hat, lässt sich schon aus der in letzter Zeit sprunghaft angestiegenen Zahl von Verbotsverfahren gegen Kunstwerke ablesen, die mit dem Schutz von Persönlichkeitsrechten begründet wurden. „Zudem ist“, schreiben Eichner und Mix, „eine potentielle politische Instrumentalisierung“ solcher Verbotsanträge „durch die Gegner jeder Kunstfreiheit zu erwarten und wahrscheinlich.“ Bemerkenswert ist allerdings auch, wie lange die Germanistik gezögert hat, sich in das seit vier Jahren laufende Verfahren einzumischen. Dabei gehört die Frage nach dem Realitätsgehalt von Romanen doch wohl zum ureigensten Terrain der Literaturwissenschaft. Man stelle sich vor, ein deutsches Gericht hätte über einen Fall zu urteilen, der zentrale Themen der Geschichtsschreibung berührt – würden Historiker wie Winkler, Wehler oder Mommsen tatenlos dabei zuschauen, wie die Juristen die Sache unter sich ausmachten? Literaturfreiheit ist keine ein für allemal errungene Selbstverständlichkeit. Sie kann Stück für Stück verloren gehen. Sie braucht, wie der Prozess gegen Biller zeigt, ihre Verteidiger. Sie braucht Fürsprecher, die bereit sind, die Literatur gegen die simplifizierende Betrachtungsweise vieler Leser (auch in Richterroben) in Schutz zu nehmen, die in literarischen Werken nie etwas Eigenständiges, sondern immer nur einen banalen Abklatsch des Realen sehen wollen.

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Von der Schönheit alter Formen

Der Romancier Martin Mosebach erhält den Büchner-Preis 2007

Lange Jahrzehnte waren sich viele Germanisten und Literaturkritiker hierzulande ganz sicher: Der Gesellschaftsroman, zumal der einer ausgesprochen bürgerlichen Tradition, wie ihn Fontane, Thomas Mann oder Doderer geschrieben haben, sei heute passé. Wenn überhaupt noch erzählt werden könne, dann aus der Perspektive von Einzelgängern, die in möglichst lakonischem Ton von ihrem Misstrauen und ihrer permanenten Rebellion gegen jede überkommene Ordnung berichten. Der allwissende Erzähler, der mit Ironie und Mitleid ein vielköpfiges Ensemble von Figuren durch seinen Roman leitet, galt als tief versunken unterm Staub des 19. Jahrhunderts. Wenn Martin Mosebach jetzt mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird, der neben dem Goethe-Preis noch immer als die wichtigste literarische Auszeichnung des Landes gilt, ist das ein weiteres Indiz dafür, wie sehr sich die literarischen Wertungen in den letzten Jahren verändert haben, und dass jene doktrinären Vorstellungen von einst beiseite geschoben wurden. Denn seit seinem Debüt „Das Bett“ (1983) übt sich Mosebach wie kein anderer deutscher Schriftsteller der Gegenwart in der Kunst des Gesellschaftsromans. Er hat seither bis hin zu seinem jüngsten, in den nächsten Wochen erscheinenden Roman „Der Mond und das Mädchen“ ein höchst differenziertes, anschauliches und zugleich unterhaltsames Panorama bundesdeutscher Gegenwart entworfen – immer zentriert um seine Geburtstadt Frankfurt am Main, die seit dem Krieg keinen liebevolleren Porträtisten gefunden hat als ihn. Mosebachs Bücher, deren traditionelle Erzählweise sich auch heute noch in den Augen modernistischer Kritiker als konservativ, wenn nicht gar reaktionär ausnimmt, fanden lange nicht die Anerkennung, die sie verdient hatten. Die Erzähler in Mosebachs Romanen lassen die Leser nie allein, sie breiten ihren Stoff mit Ruhe und Umsicht vor ihnen aus, kommentieren ausführlich alle Handlungen, Gedanken oder Dialoge der Helden, sind deren Verteidiger, Ankläger und Richter in einer Person, und sorgen so für eine angenehme, ironische Distanz zu den Figuren, ohne sie deshalb mit Herablassung zu betrachten. Dazu hat Mosebach eine Sprache entwickelt, die im ersten Blick Moment antiquiert wirkt, denn sie orientiert sich an einem gepflegten, eleganten, distinguierten Tonfall, wie man ihn beispielsweise bei Henry James findet. Sie ist damit zunächst einmal konsequenter Ausdruck der Persönlichkeit dieses Autors, die sich mit eben diesen Begriffen beschreiben ließe. Zum anderen aber lässt er seinen gehobenen Erzählton immer wieder mit Lust auf die nicht gerade stilsicheren Alltagsgespräche mancher seiner Figuren prallen, die ganz im Jargon der Gegenwart befangen sind. Nicht zuletzt durch diese klug kalkulierten Kontraste sorgt Mosebach – der in diesem Punkt einiges von Eckhard Henscheid, dem anderen großen Prosaporträtisten Frankfurts gelernt hat – regelmäßig für herrlich komische Effekte. In „Westend“ (1992) breitet Mosebach das Schicksal der Bewohner einer fiktiven Straße im bürgerlichsten Wohnviertel Frankfurts vor den Lesern aus. Hier ist sein wohl wichtigstes literarisches Vorbild Heimito von Doderer am deutlichsten zu spüren. Der Roman holt sehr weit aus, erzählt mit epischer Gelassenheit über 800 Seiten lang und rechnet, wie Mosebach sagte, mit einer „gewissen Hingabe des Lesers“ an dieses literarische Denkmal für einen von Immobilienspekulanten und Abrissbaggern inzwischen schon in weiten Bereichen ins Jenseits beförderten Stadtteil. Die folgenden Romane Mosebachs wurden kürzer, konzentrierter, ohne sich deshalb vom Muster des realistischen Gesellschaftsromans zu entfernen. In „Eine lange Nacht“ (2000) erzählt er die Geschichte eines verbummelten, gescheiterten Studenten, der eine Importfirma für Billigkleider aus Pakistan aufbaut und sich mit einem mal in einer ihm völlig fremden sozialen Umwelt wiederfindet. In „Die Türkin“ (1999) verliebt sich ein aussichtsreicher junger Universitätsabsolvent unsterblich in eine türkische Wäscherin. In „Das Beben“ (2005) flieht ein Architekt, der feststellen muss, dass ihn seine Geliebte betrügt, zu einem entmachteten König nach Indien, dessen Palast er umbauen soll. Immer wieder führt Mosebach so in seinen Romanen vor, dass Gesellschaft heute selbstverständlich kein kulturell homogenes, geschlossenes Kastenwesen mehr ist, sondern von tiefen politischen und ethnischen Gegensätzen durchzogen wird. So sehr dieser Autor Frankfurt zum Zentrum seines Werks gemacht hat, so entschieden ist das heutige Frankfurt bei ihm zugleich ein Knotenpunkt unterschiedlichster, vertrauter oder auch fremder Einflüsse. Doch die daraus entstehenden Kontraste werden von Mosebach nie als bedrohlich, sondern fast immer als Bereicherung beschrieben. Wenn er in seinem jüngsten Roman „Der Mond und das Mädchen“ in einem Hinterhof in der Nähe des Frankfurter Bahnhofs einen jungen deutschen Banker, einen marokkanischen Hausmeister, ukrainische Hilfsarbeiter, einen äthiopischen Wirt und eine sehr vornehme syrische Koptin zum allabendlichen Schlummertrunk zusammenkommen lässt, legt sich bei ihm wunderbare Heiterkeit über die Szene. Für Mosebach sind gesellschaftlich tradierte Formen, sind soziale oder eben auch ästhetische Konventionen kein Zwang, sondern vor allem ein ordnender Halt, in einer Epoche, die nicht eben überreich gesegnet ist mit ordnenden Elementen. Nicht zuletzt aus dieser Haltung heraus wurde er, der ein entschiedener Katholik ist, zu einem Anhänger der römischen Liturgie, die er in seinem Essay „Die Häresie der Formlosigkeit“ (2002) wie ein Don Quijote gegen die Reformen durch das Zweite Vatikanische Konzil verteidigt. Doch täte man ihm unrecht, wenn man glaubte, er wolle tatsächlich das Rad der Geschichte zurückdrehen. Auf die Frage, was von der jüngst aufgeflammten Sehnsucht nach dem Bürgertum zu halten sei, antwortete er: „Ich verstehe das als ein Interesse an der Vergangenheit. Das Schema, nach dem in den letzten zweihundert Jahren die Geschichte betrachtet wurde, hieß ‚Fortschritt’. Seitdem dies Fortschrittsdenken allmählich infrage gestellt wird, beginnt man auch, nach den Kosten dieses Fortschritts und nach den Verlusten zu fragen.“

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Wegweiser ins Unwegsame

Zum Tode des Schriftstellers Wolfgang Hilbig
Wolfgang Hilbig wirkte zeitlebens wie ein Fremder, wie einer, der aus seiner Epoche und ihren üblichen sozialen Ordnungen gefallen ist. Er war als Lyriker und Erzähler ein Avantgardist in einer Zeit, in der die Garde längst anderen Vordenkern folgte. Er war ein mit hohen und höchsten Auszeichnungen überhäufter Autor, der dennoch nie populär wurde. Er war das Kind einer Bergmannsfamilie, das nur acht Volksschulklassen hatte besuchen dürfen, und das nie heimisch wurde im Milieu der Literaten und Intellektuellen, in das es ihn Kraft seines Talentes verschlug. Und schließlich: Er war in der DDR zum Schriftsteller geworden, deren Kulturfunktionäre ihn nach Kräften ignorierten oder schikanierten, bis er 1985 in der Bundesrepublik übersiedelte – doch konnte er seine Geburtsstadt Meuselwitz bei Leipzig nie hinter sich lassen. Jetzt ist Hilbig im Alter von 65 Jahren in Berlin gestorben. Mitte der siebziger Jahre wurden seine ersten Gedichte im Westen publiziert, 1979 dann sein erster Lyrikband – was ihm in der DDR einige Wochen Untersuchungshaft und eine Geldstrafe einbrachte. Bald darauf erschienen auch ersten Prosaarbeiten, mit denen er sich rasch den Ruf eines Experten für literarische Verunsicherungen aller Art erwarb. Sein Augenmerk galt dem Ungewissen, sein Ehrgeiz dem Versuch, es zu formulieren. Seine Arbeiten sind Einladungen ins Bodenlose, sie gleichen Wegweisern ins Unwegsame. Wer ihnen folgt, darf darauf vertrauen, ein gründlich unvertrautes Reich zu betreten. Ein Reich, von dem sich in jedem Buch ein besonderer Aspekt enthüllt, das aber von Buch zu Buch durch gleiche Gesetze beherrscht wird. Hilbig arbeitete mit einer Vielzahl von Geschichten an einer umfassenden Geschichte, die als groß angelegter Angriff auf das gewohnte Bild der Wirklichkeit zu verstehen ist. Die Welt, lautete eine der zentralen Überlegungen Hilbigs, ist nicht so, wie sie nach den üblichen ‚realistischen’ Übereinkünften zu sein scheint. Eine Literatur, die sich an diesen Übereinkünften orientiert, kam ihm deshalb vor, schrieb er in seinem Essay „Über den Tonfall“ (1990), wie „eine vollkommen zweitrangige, wenn nicht drittrangige Sache“. Vom kleinsten Partikel bis zu ihren umfassenden Strukturen, vom einzelnen Wort bis zum übergeordneten Handlungsgefüge zielt Hilbigs Prosa darauf, die selbstverständlichen Gewissheiten seiner Leser aus den Angeln zu heben. Jede Ordnung wird allmählich unterminiert, jede Regel irgendwann torpediert. Hilbigs Einfallsreichtum kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, bislang Vertrautes ins Zwielicht zu rücken und scheinbar Verlässliches verdächtig zu machen. Seine Geschichten sind überzogen mit einem Netz von Vokabeln der Vagheit und des Ungefähren: Was immer seinen Helden durch den Kopf geht, es ist nur offenbar, vermutlich, scheinbar, möglicherweise so, wie es ihnen vorkommt. Allerdings hält Hilbigs Prosalandschaft auch zahllose Erscheinungen bereit, die es geraten sein lassen, den unmittelbaren Eindrücken nicht blindlings zu vertrauen. Sinnestäuschungen sind noch das Geringste, was seine Figuren in die Irre führt, sie werden von Trancezuständen, Visionen oder Halluzinationen heimgesucht, ja von Gespenstern und Spuk verfolgt, bis sie zwischen Traum, Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden können, bis selbst Raum und Zeit jede ordnende Kraft für sie verlieren. Tatsächlich lieferte die Welt, in der Hilbig aufwuchs, eine Menge Material für den Bau eines solchen literarischen Kosmos’ der Trugbilder und des permanenten Zweifels: Selbst Ortschaften und Landstriche sind im Braunkohlerevier um Meuselwitz nichts Verlässliches, sondern können verschwinden, können gigantischen Gruben Platz machen, die sich nach einigen Jahren wieder in Seen oder frisch begrünte Täler verwandeln. Auch die Kluft zwischen dem offiziellen Bild vom Leben in der DDR und den täglichen Wahrnehmungen ihrer Bürger sorgten zuverlässig für einen Eindruck von Mehrdeutigkeit und Ambivalenz. Und schließlich: Als die DDR so plötzlich vom Erdboden verschwand wie manches Dorf, dessen Fundamente auf Kohle gründeten, entpuppte sich im Nachhinein auch die politische und künstlerische Opposition gegen das sozialistische Regime als eine zuweilen doppelzüngige Schimäre. Nur folgerichtig, dass Hilbig dieses heimliche, verunsichernde Ineinanderübergehen von Stasi und Stasi-Gegnern zum Thema des Romans „’Ich’“ (1993) machte, der vielleicht sein bedeutendstes, mit Sicherheit aber sein am meisten beachtetes Buch ist. Doch wer Hilbigs literarische Ambitionen allein im Hinblick auf solche politischen Erfahrungen betrachtete, würde ihnen nicht gerecht. Es ging ihm um weit mehr. Er war ein später Nachkomme jener Klassiker der Moderne, die seit Ende des 19. Jahrhunderts auf die zunehmenden Zweifel am konventionellen Bild von stabiler Subjektivität mit einem Abschied von den konventionellen literarischen Darstellungsformen reagierten. Zu den ironischen Pointen der künstlerischen Karriere Hilbigs gehörte es, dass er mit seinen ästhetischen Vorstellungen bei der sich fortschrittlichen wähnenden Kulturpolitik DDR auf entschiedene Ablehnung stieß, in Westen aber einem inzwischen bejahrten Begriff von Avantgarde so präzise entsprach, dass ihm zwar Literaturpreis um Literaturpreis zufiel, er aber das Publikum, das mit dem Modernismus von einst nicht mehr viel im Sinn hat, nie erreichte. Bestechend sind bei alldem die musikalischen Qualitäten der Texte Hilbigs. Er verstand es, seinen oft ausufernden Satzarchitekturen einen suggestiven Rhythmus zu geben, der sich in Schleifen zu wiederholen und zu beschleunigen scheint, der wie die Prosa Thomas Bernhards um wieder und wieder variierte, gleichsam den Takt vorgebenden Signalbegriffe kreist, und so sich aufschwingt zu schwindelnd hohen und immer höheren Gipfelpunkten, die irgendwo auf einer haarfeinen Grenze liegen zwischen maßlosem Pathos und übersteigerter Ironie. Dieser Rhythmus, ungreifbar und doch offenkundig, der in den Lesungen Wolfgang Hilbigs einen dunklen, sächsisch gefärbten Klang annahm, war in seiner Sprachwelt, die von auswegloser Unbeständigkeit erzählte, ein letztes Moment von Beständigkeit.

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„Oh brauner Saft des Mohns“

 Literatur und Doping – anlässlich diverser Sportskandale 

Der junge Bertolt Brecht war, auch mit Blick auf den Sport, ein bedenkenloser Bewunderer von Höchstleistungen. Darüber, wie sie erzielt werden, machte er sich keine Illusionen: „Selbstverständlich ist Sport, nämlich wirklich passionierter Sport, riskanter Sport, nicht gesund. Da, wo er wirklich etwas mit Kampf, Rekord und Risiko zu tun hat, bedarf es sogar außerordentlicher Anstrengungen des ihn Ausübenden, seine Gesundheit einigermaßen auf der Höhe zu halten.“ Gerade Schriftstellern und Künstlern ist die Überlegung nicht fremd, dass die totale Hingabe an eine Leidenschaft, dass der Kampf um die Vollendung eines Könnens nur wenig mit Wohlbefinden, sehr viel aber mit Selbstzerstörung zu tun hat – und nicht selten mit angeblich oder tatsächlich leistungssteigernden Drogen. Novalis schwärmte in seinen „Hymnen an die Nacht“ vom „braunen Safte des Mohns“. Baudelaire und Verlaine ließen von Absinth bis Opium wenig Halluzinogenes aus. Georg Trakl tat es ihnen nach und starb an einer Überdosis. Klaus Mann heizte sich mit Heroin kräftig ein und kam dann schwer wieder davon los. Ernst Jünger experimentierte mit Meskalin und LSD, Walter Benjamin schwor auf Haschisch. „Den Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehnten / Den gibst Du mir“, pries Gottfried Benn das Kokain. Die Beat-Autoren von Burroughs über Kerouac bis Ginsberg gaben sich zwecks „Bewusstseinserweiterung“ auf jede erdenkliche Weise pharmazeutisch die Sporen. Aber damit waren sie nur späte Nachfahren Arthur Rimbauds, der die „Entregelung der Sinne“ zum Ziel moderner Literatur ausrief und zu diesem Zweck kein ihm erreichbares Rauschgift ungenutzt ließ. Natürlich ist derartiger Drogenkonsum mit dem heutigen Dopingkonsum einiger Leistungssportler letztlich nicht vergleichbar. Denn ein Künstler verletzt mit dem Hang zu Rauschgiften nicht die Gesetze seiner Kunst, für die nur das Ergebnis zählt. Der Sportler dagegen ist zur dopingfreien Ausübung seiner Disziplin verpflichtet – und beteuert oft genug öffentlich, „clean“ zu sein. Dopt er dennoch, verletzt er das sportliche Grundgesetz der Fairness gegenüber ungedopten Gegnern und überschreitet die Grenze vom Athleten zum Akrobaten. In Zirkus fragt keiner danach, ob bei den körperlichen Spitzenleistungen der Artisten medikamentös nachgeholfen wird oder nicht. Sport dagegen ist Spiel und Wettkampf nach zuvor fest vereinbarten Regeln, und die sind in Sachen Doping unmissverständlich. Dennoch war Selbstzerstörung im Dienste der Kunst, deren Auswirkungen sich naturgemäß nicht auf den Künstler beschränken lassen, für ethisch empfindsame Künstler quer durch die Jahrhunderte kein geringes Problem. Die Frage, ob denn ihr Werk all die Opfer, die sie sich und indirekt auch anderen aufbürden, tatsächlich wert sein könne, hat manche von ihnen in ernste Gewissensnöte getrieben. Höchstleistungen, die ohne jede Rücksicht auf die Leistungsträger zustande kommen, haben zwangsläufig etwas Inhumanes – was jenen Künstlern, denen es in ihrer Arbeit um Humanität geht, nicht gleichgültig sein kann. Nach antiken Auffassungen verkörperte der siegreiche Athlet ein Idealbild des Menschen. Ein ferner Nachklang dieser Vorstellung schwingt (neben dem hohen Unterhaltungswert von Spiel und Wettkampf) noch heute mit im schier grenzenlosen Interesse am ewigen Olympia-WM-Bundesliga-Grand-Slam-Reigen: Wir wollen im Sportler ein Beispiel, ein über uns hinausragendes körperliches Ideal menschlicher Leistungskraft sehen – und niemandem käme beim Zirkus-Akrobaten, der nicht von Wettkampf- und Anti-Doping-Regeln kontrolliert wird, so etwas je in den Sinn. Hinter dem reichlich hysterischen Rummel um die aktuelle Geständnis-Serie der Radprofis verbirgt sich auch die Hoffnung auf einen nun endlich wieder sauberen, dopingfreien Sport samt entsprechender Heroen, in denen man die Vollendung des menschlich Möglichen bestaunen möchte. Doch ihre Beichten dosieren die Betreffenden ebenso gut wie ihre Dopingmittel. Eingestanden werden fast nur Verfehlungen, die sportlich schon verjährt sind, und dazu die Einnahme von Substanzen, die offensichtlich nicht mehr zum Dernier Cri auf dem Markt der pharmazeutischen Leistungssteigerung gehören. Fachleute berichten von neuen und allerneuesten Dopingmitteln, die bei Tests nicht nachweisbar sind, vermutlich längst von vielen Spitzensportlern genutzt werden und auf die mithin nur Athleten verzichten können, die bereit sind, im Zweifelsfall nicht zur Spitze zu gehören. Ein sauberer Sport ist also, allen effektvollen Geständnis-Auftritten zum Trotz, weniger denn je in Sicht. Eine drogenfreie Kunst natürlich auch nicht. Doch der Künstler hat, selbst wenn er sich und seine Angehörigen zugrunde richtet, zumindest noch sein Werk vorzuweisen – das einen mehr oder minder großen Reiz auf das Publikum entfaltet ganz unabhängig davon, ob der Künstler nun ein hochherziges oder ein schäbiges Leben geführt hat. Im Sport ist diese Trennung zwischen Leben und Werk nicht möglich. Alle Siege, Meisterschaften, Rekorde verlieren ihren sportlichen Wert, wenn sie auf unfaire Weise mit medizinisch illegaler Hilfe errungen wurden. Das einfachste Gegenmittel wäre natürlich ein völliger Verzicht auf öffentliche Sportberichterstattung. Ohne die ungeheure Aufmerksamkeit der Medien verlöre der Sport ungehend fast alles, was ihn heute ausmacht: seine Qualitäten als weltweiter Werbeträger, den Charakter von industriell betriebener Massenunterhaltung und das große Geld der staatlichen Sporthilfe, mit dem Politiker Medaillen-Renommee für ihr Land zu kaufen hoffen. Er fiele vermutlich rasch auf das Niveau heutiger Amateursportveranstaltungen zurück, bei denen möglicherweise noch immer gedopt würde, aber mangels finanzieller Möglichkeiten auf tölpelhafte, leicht kontrollierbare Weise. Natürlich ist ein solches publizistisches Moratorium schon aus wirtschaftlichen Motiven nicht durchsetzbar. Im Grunde können alle Beteiligten, die Funktionäre, Medien, Sponsoren, Politiker, Sportmediziner, von wenigen Idealisten abgesehen, an der Aufdeckung von Dopingskandalen gar nicht sehr interessiert sein – und also werden auch nur selten welche aufgedeckt. Viel wahrscheinlicher ist, dass es im Zeitalter des kaum noch nachweisbaren Dopings mit dem Sport ebenso weitergeht wie vor der Geständnis-Welle: Man betrachtet die Siege und die Sieger wie die Happy Ends schlechter Filme – man genießt ihre emotionale Ausstrahlungskraft, aber man glaubt keinen Sekunde an sie.

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Von der Qual und Zerrüttung der Zeit

Zum Tode des unglücklichen Schriftstellers Wolfgang Bächler

Talent und Tragödie sind mitunter Nachbarn. Bei kaum einem anderen Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur lässt sich diese traurige Konstellation so deutlich studieren wie bei Wolfgang Bächler. 1925 in Augsburg geboren, wurde er achtzehnjährig in Hitlers Armee eingezogen, schon bald darauf in Frankreich schwer verwundet und geriet in Gefangenschaft. Bereits seine ersten, nach Kriegsende noch in Zeitschriften verstreut veröffentlichten Gedichten verschafften ihm den Ruf, einer der wesentlichen neuen Autoren der Zeit zu sein. So war es kein Zufall, dass er, als sich die Gruppe 47 unter Hans Werner Richter zusammenfand, als jüngster Autor zum Gründungstreffen eingeladen wurde. Als dann 1950 sein erster Gedichtband „Die Zisterne“ erschien, war dies ein Ereignis. Gottfried Benn schrieb damals: „Wolfgang Bächler gehört zu den ganz wenigen neuen Lyrikern, die mich interessieren, an deren Weg ich glaube. Er hat persönliches Erleben und Mut zu offener, sammelnder wie zerstörerischer Form…“. Und Thomas Mann nannte ihn einen Dichter mit „echter Lebensinbrunst“, der „viel von der Qual und Zerrüttung der Zeit“ in seinen Versen eingefangen habe. In jenen Jahren stellte man Bächler ganz selbstverständlich auf eine Stufe mit Lyrikern wie Günter Eich, Paul Celan oder Ingeborg Bachmann. Er brachte die Erfahrungen seiner Generation poetisch zur Sprache. Einer Generation, deren kindlicher Idealismus von den Nationalsozialisten missbraucht worden war und die, als sie von den Schlachtfeldern zurückkehrten, nur noch Trümmerlandschaften sowohl materieller wie moralischer Art vorfanden. „Die Erde bebt noch von den Stiefeltritten“, heißt es in einem seiner frühen Gedichte, „die Wiesen grünen wieder Jahr für Jahr. / Die Qualen bleiben, die wir einst erlitten, / ins Antlitz, in das Wesen eingeschnitten. / In unsren Träumen lebt noch oft, was war.“ Aus seinen Gedichten sprachen vor allem der Schock des Krieges und die Erkenntnis, dass letztlich nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter den zerstörerischen Folgen der Gewalt nicht entgehen. Wenn es so etwas wie einen pazifistischen Grundkonsens in jenen frühen Jahren der Bundesrepublik gab, fand er nicht zuletzt in der Lyrik Bächlers seinen literarischen Ausdruck. Das Gedicht wurde dabei für ihn eine Art bessere Gegenwelt, es war für ihn, wie er schrieb, „der einzige Weg zu Augenblicken des Glücks und der Befreiung, zu einer Ordnung und Lösung, die Freiheit schafft.“ Gesammelt liegt seine Lyrik heute in dem Band „Ausbrechen“ (1976) vor. Doch: Die Verletzungen des Kriegs reichen tief, und nicht wenige fallen ihnen noch lange nach der Heimkehr zum Opfer. Ab Mitte der fünfziger Jahre begann Bächler unter schweren Depressionen zu leiden, abgelöst von manischen Phasen. Ein zermürbendes Auf und Ab begann, dass ihn bis zu seinem Tod nicht mehr verließ, und dass seine literarische Arbeitkraft immer mehr einschränkte. Er versank mal wie gelähmt in sich selbst und wurde dann wieder zu einem überreizten Sucher, zu einem fieberhaft Getriebenen, der nirgends mehr Ruhe finden konnte. Die zehn besten Jahre, die ihm noch blieben, lebte er, mit einer Französin verheiratet, in Frankreich. 1967 kehrte er nach Deutschland zurück und verbrachte, wenn er nicht ärztliche Hilfe benötigte, viel Zeit auf ausgedehnten Reisen. „Ich wechselte noch oft die Städte und die Länder“, schrieb er in seinem Prosaband „Stadtbesetzung“ (1979), „ich sah mich auch, der beiderseitigen Propaganda misstrauend, hinter dem eisernen Vorhang um, zuerst von Peter Huchel und Stephan Hermin eingeladen, dann auch von Brecht, Bloch und Lukács angezogen und von der Wirklichkeit, die so sehr zu ihren Ideen kontrastierte, enttäuscht. Ich führte ein schweigendes Leben, schlug meine Zelte häufig auf und ab, ein unsteter Einzimmerbewohner, kurzum ein unbrauchbarer, unsolider, unordentlicher Mensch, der keine Termine einhalten und keine Examina durchhalten kann und Redakteure, Verleger und Frauen durch seine Unpünktlichkeit zur Verzweiflung bringt.“ Aus therapeutischen Gründen, aber auch um ein urpoetische Terrain auf seine Weise zu erkunden, begann Bächler von den fünfziger Jahren an bis in die achtziger Jahre hinein seine Träume zu notieren. Diese Kurzprosastücke von einer oft erschreckender Illusionslosigkeit wurden in den Bänden „Traumprotokolle“ (1972) und „Im Schlaf“ (1988) zusammengefasst: Finstere Nachrichten aus einer labyrinthischen Welt voller Schrecken und ohne jede Zuflucht. Der oft als herzlos gescholtene Kulturbetrieb hat manches getan, um Bächlers Los zu erleichtern. Martin Walser und Michael Krüger vor allem setzten sich als literarische Fürsprecher für ihn ein. Regisseure wie Fassbinder, Werner Herzog und Volker Schlöndorff gaben ihm kleine Rollen in ihren Filmen. Jetzt ist Wolfgang Bächler im Alter von 82 Jahren in München gestorben.

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Die Stille unterm Schaum der Brandung

Der Herder Verlag ist sich seit 200 Jahren treu 

Es ist, als hätte man leichtfertig an den Knöpfen einer Zeitmaschine gespielt. Eine Szene wie diese, so rund und innig, so deutsch-romantisch, wirkt fast wie ein Fremdkörper im 21. Jahrhundert, auf jeden Fall wie eine kostbare Antiquität: Wir treten aus dem Gebäude – und das Gebäude allein schon ist so fabelhaft, dass es weiter unten zwei Absätze brauchen wird, um es zumindest knapp zu skizzieren – wir treten also aus dem Gebäude und Manuel Herder, vierzig Jahre alt und Herr des Herder Verlages in Freiburg, hat sich nicht weniger als vier Bücher unter den Arm geklemmt. Eins davon schlägt er auf und beginnt im Gehen laut vorzulesen, liest auf offener Straße mit einer Begeisterung, die sich jeder Autor von seinem Verleger nur wünschen kann, liest und schwärmt und rühmt das Buch. Ein paar hundert Meter von jenem fabelhaften Gebäude entfernt, das man heute wohl den Stammsitz seiner Familie nennen darf, kommen wir dann beim Grab seines Ur-Ur-Urgroßvaters Bartholomä Herder an, der den Herder-Verlag vor über 200 Jahren in Freiburg gründete. Der Friedhof ist eingefasst von einem Mäuerchen wie auf einem Bild von Ludwig Richter, ist ganz träumerisch verfallen, überwachsen von frischem Grün und hat ein altes Kirchlein in der Mitte. Mit den Büchern unterm Arm steht Manuel Herder dann vorm Ur-Ur-Urgroßvater und sagt, dass er schon manches Mal, wenn schwierige Entscheidungen zu treffen waren, hierher gekommen sei und gefordert habe: „So, das musst Du jetzt machen.“ Damit kein falscher Eindruck entsteht: Herder ist keine weltferne Bücherklitsche, im Gegenteil, er ist einer der großen Verlage Deutschlands, einer der in jüngster Zeit sehr erfolgreichen Verlage noch dazu und auf der jüngsten Bestsellerliste gleich dreifach vertreten, darunter auf Platz 1 mit dem Jesus-Buch von Papst Benedikt XVI. Aber andererseits passt Herder eben so gar nicht ins Bild eines geistlos beschleunigten, von kalten Konzern-Cäsaren regierten, jedem Trend blind hinterherhetzenden Buchmarkt. Herder ist seit sechster – sechster! – Generation in Familienbesitz, hat Freiburg nie verlassen, deshalb noch immer die guten Geister der Ahnen um sich versammelt und buchstäblich nichts an seiner Programmpolitik geändert: Anno Domini 1801, im Jahr der Verlagsgründung, schrieb Urvater Bartholomä an Fürstbischof Karl Theodor von Dahlberg, er wolle „eine Sammlung von Schriften veranstalten, die 1. dem Priester, dem Seelsorger etc. zur Führung seines Amts und Aufnahme guter Kenntnisse, 2. dem Schulmann, dem Erzieher und der Jugend angenehm und nützlich sind“. Wer im Jahr 2007 die neuen Herder-Titel studiert, um die Programmschwerpunkte des Verlages zu benennen, wird zwar andere Worte wählen als der Gründervater, aber letztlich fast das Gleiche sagen: Christliche Theologie, Glaubensfragen, Weltreligionen, Vorschulerziehung, Pädagogik, Familienratgeber. Themen wie diese trafen ein paar Jahrzehnte lang nicht eben auf lebhafte intellektuelle Resonanz. Spätestens mit der Studentenbewegung waren die Kirchen in ein windstilles Eck des Kulturbetriebs geraten. Populär waren allenfalls Kirchenkritiker wie Küng, Drewermann, Dorothee Sölle oder die Befreiungstheologen. Wenn ansonsten vom Glauben die Rede war, dann war Spiritualität im unverbindlichen Sinne des New Age gemeint: heute Karma, morgen Kabbala, mal Yoga, mal Tantra, erst sibirische Schamanen, dann tibetische Mönche. Das gute alte Christentum schien hoffnungslos aus der Mode gekommen, eher eine leise peinliche Erinnerung als noch eine geistige Macht. Damals hatte auch das Bücherhaus Herder keine leichten Jahre. Es wirkte ein wenig wie der Verlag der Zaghaften, Entmutigten und an den Rand Gedrängten, kurz: der Lebenshilfsbedürftigen. „Aber“, fasst Manuel Herder seine Erfahrungen jener Zeit zusammen, „die veröffentlichte Meinung ist nicht die öffentliche Meinung“. Die Bücher des Verlages hatten damals oft keine gute Presse, hatten manchmal fast gar keine Presse – aber immer Leser. Unterhalb der hochaufschäumenden Brandung der je aktuellen Debatten liegen wenig bewegte, stille Wasser, in denen auf die immer gleichen Lebensfragen nicht nach neuen, sondern nach den vertrauten Antworten gesucht wird. Antworten, die schon deshalb Sicherheit vermitteln, weil es die vertrauten sind. Und dort, bei diesen Stillen blieb Herder ein fester Orientierungsort auf dem Buchmarkt, selbst als die Kirchen nicht eben zum intellektuellen Dernier Cri zählten. Das hat sich inzwischen geändert. Seit rund fünfzehn Jahren, so berichtet Manuel Herder, nimmt die Gleichgültigkeit oder die Skepsis allem Christlichen gegenüber auch bei denen wieder spürbar ab, die sich öffentlich vernehmbar machen. Und dieser Aufwind trägt seinem Verlag in neue, lang vermisste Höhen. Ist das nun der Triumph eines Bücherhauses, das unbeirrbar den Launen des Zeitgeists getrotzt hat, oder eher der Erfolg eines Verlags, der von der allerneueste Wendung des Zeitgeist profitiert? Oder sind das die zwei Seiten der gleichen Medaille? Doch ob man jene Renaissance nun begrüßt oder bedauert, ob man sich ihr froh anschließt, oder ihr eher schulterzuckend bis kopfschüttelnd zuschaut, widersprechen kann man den Beobachtungen Manuel Herders kaum. Das blamable Ende der Hoffnungen, die der Sozialismus geweckt hatte; das lang schon grassierende Misstrauen der Aufklärung gegenüber; die Angst vor seelenloser Globalisierung und den Machtmenschen, die sie vorantreiben, dazu der fürs moderne Mediengeschäft so vorzüglich begabte Papst Johannes Paul II, und sein zumindest in Deutschland populärer deutscher Nachfolger – all das scheint zwar hierzulande die Kirchen noch immer nicht zu füllen, hat aber dem Bekenntnis zu der Kirche, zu ihren Traditionen, zu ihrer zwei Jahrtausende währenden Beständigkeit einen neuen Reiz verschafft. Vielleicht ist das kein schlechter Augenblick, um die zwei versprochenen Absätze lang vom Herderschen Verlagsgebäude zu schwärmen. Es ist genau betrachtet nicht der Stammsitz der Familie. Als Hermann Herder, der Urgroßvater Manuel Herders, es zwischen 1909 und 1912 errichten ließ, hatte der Verlag schon über hundert Jahre hinter sich gebracht. Es ist eine Kombination aus neobarockem Stadtpalais und gründerzeitlichem Druckereigebäude von der Größe eines ganzen Häuserblocks. Es gibt in Deutschland kein zweites Verlagshaus, das sich mit diesem messen könnte. Herders drucktechnische Abteilungen sind inzwischen an den Stadtrand übergesiedelt und in den entsprechenden Gebäudeteilen residiert heute ein Institut der Freiburger Universität. Doch das verbliebene Haupthaus ist imposant genug. Ein tiefrotes, vierstöckiges Schloss mit reich gegliederter Fassade und feierlichem Portal, dahinter eine großzügige, luftige Halle samt Treppe von einer schlichten Schönheit, einer prunklosen Eleganz, durch die man sich schon als Besucher gleichsam wie erhoben fühlt. Die Räume licht, die Gänge breit, die Wände massiv wie für Ewigkeiten errichtet. Mit einem Mal steht einem all das Kleinliche, das Dürftige, das nur Funktionelle der meisten zeitgenössischen Bürobauten schmerzlich klar vor Augen, weil es hier fehlt. Wer in diesem Haus an Büchern arbeitet, weiß, dass hier schon vor 100 Jahren an Büchern gleichen Sinnes gearbeitet wurde für einen Verlag, der schon vor 200 Jahren Bücher dieses Sinnes machte. Da wiegt man sich leicht in der Vorstellung, Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst. Deutlich leichter zumindest als wenn einem bei einem IT-Startup der Chef einen befristeten Arbeitsvertrag überreicht. Vielleicht verrät das Haus von Herder also, wenn man es auf richtige Weise betrachtet, schon manches über die Gründe für jenes jüngste Comeback der Kirchen, für das Herder nach Kräften wirbt. Wenn sich politische Blöcke wie der sozialistische fast über Nacht auflösen und damit eine Weltordnung stürzt, wenn eine globalisierte Ökonomie kein Stein auf dem anderen zu lassen scheint und die Wirtschaftsstrategen das als Erfolg feiern, wenn Meere und Sozialsysteme zu kippen, wenn Klima und Scheidungsraten Höchstwerte zu erklimmen drohen – dann ist es wohl kein Wunder, dass die Sehnsucht nach ein wenig mehr Beständigkeit und verlässlichen Werten zunimmt. An beidem scheint bei Herder kein Mangel. Dass gerade dieser Verlag, der so beharrlich dem einmal eingeschlagenen Weg treu bleibt, zu den Gewinnern einer Zeit zählt, in der pausenlos Flexibilität und Dynamik und Lust am Wandel gepredigt wird, ist schon eine besondere Pointe. „Ein Verlag, der nicht dient, dient zu gar nichts“, Manuel Herders Richtschnur ist klar, er sieht seinen Verlag als Dienstleistungsunternehmen, das Autoren und Lesern ihre Bedürfnisse von den Augen abliest, nicht als Vordenk-Fabrik, die zu ungeahnten Ufern aufbricht. Seine Aufgabe ist es, auf die immer gleichen Fragen die immer gleichen Antworten zu verbreiten – aber möglichst in neuem, zeitgemäßem Ton. Das war schon vor 200 Jahren so. Und, zweifellos, es hat etwas Tröstliches sich vorzustellen, dass der Herder Verlag das auch in 200 Jahren noch tun wird. P.S. Es ist tatsächlich noch viel zu tun für die Verbreitung christlicher Werte in unserer Zeit! Als ich auf der Rückfahrt von Freiburg im Zug zum Speisewagen ging, legte ich wie immer die gerade gelesenen Bücher auf meinen Sitz, damit er frei bleibt. In diesem Fall ein Band mit Erzählungen von Franziska Gerstenberg und ein Buch von Benedikt XVI, dass mir Manuel Herder geschenkt hatte. Ich tat dies voller Vertrauen, denn auf hunderten von Bahnreisen ist noch nie ein Buch weggekommen. Als ich vom Speisewagen zurückkam, war das Papstbuch gestohlen. Das Papstbuch! Wo soll das alles enden?

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