„Denken wir uns“

Robert Gernhardts letzte Erzählungen
Denken wir uns einen Mann, einen vielbegabten Mann, einen Schriftsteller und Künstler, der gerne denkt und gerne spielt. Was liegt näher, als dass er Denkspiele ersinnt und uns, das Publikum, dazu einlädt, sie spielend mit- und nachzudenken, um uns an ihnen zu erfreuen. Als eine derartige literarische Spielesammlung darf man Robert Gernhardts Buch „Denken wir uns“ betrachten, einen Band mit Erzählungen, den er – neben seinem ebenso schönen wie erschütternden letzten Lyrikband „Später Spagat“ – noch kurz vor seinem frühen Tod im Juni 2006 fertig stellte. Jede der Geschichten beginnt mit den Worten „Denken wir uns…“ Sie stehen da wie drei Wachposten, die jedem, der sie lesend passiert, noch einmal energisch ins Bewusstsein rücken, dass alles Nachfolgende als reine Konstruktion, als literarische Versuchsanordnung, eben als Gedankenspiel zu betrachten ist. Es geht Gernhardt nicht um die in der neueren deutschen Literatur mitunter so hochgeschätzte Authentizität, nicht um Erzählungen, die angeblich wahr sein sollen, sondern vielmehr um künstlerische Wahrhaftigkeit. Gleich mit der ersten Erzählung signalisiert Gernhardt zudem noch an welchen Traditionen er sich hier orientiert, welche Themen ihn vor allem interessieren und – welche Ambitionen er ganz und gar nicht teilt. In dieser Geschichte nämlich greift er zurück auf das „Deutsches Requiem“ aus der Erzählungssammlung „Das Aleph“ (1949) von Jorge Luis Borges, die man zusammen mit Borges’ Sammlung „Fiktionen“ (1944) als die Urzelle der modernen lateinamerikanischen Prosa und des Magischen Realismus’ betrachten kann. Auch die Geschichten in jenen beiden Bänden, sind eher literarische Gedankenspiele als Erzählungen im üblichen Sinne. Im „Deutschen Requiem“ zum Beispiel lässt Borges einen gebildeten deutschen KZ-Kommandanten zu Wort kommen, der in der Nacht vor seiner Hinrichtung die eigenen Verbrechen und die des Nationalsozialismus mit der Geschichtsphilosophie Schopenhauers, Nietzsches und Spenglers zu erklären versucht. Zudem erfindet Borges einen jüdischen Dichter, der sein Werk dem Lobgesang auf die Freude an den kleinen Dingen des Lebens gewidmet hatte und der in jenem KZ stirbt – was von dem Kommandanten als das Sinnbild für das Ende einer humanen und den Anbruch einer „unbarmherzigen Epoche“ betrachtet wird. Mit einem höheren – von Borges allerdings ironisch unterlaufenen – welt- und ideengeschichtlichen Anspruch als diese knapp zehnseitige Geschichte kann eine Erzählung wohl kaum auftreten. Gernhardt hat in seinen Erzählungen für Ansprüche von solch epochalem Ausmaß nur ein Schulterzucken übrig. Er knüpft in seiner Eröffnungsgeschichte nicht an den überspannten nihilistischen Geschichtsanschauungen des KZ-Kommandanten man, sondern demonstrativ an dem einzigen Gedicht jenes fiktiven jüdischen Dichters, das Borges in seiner Erzählung näher beschreibt. Dieses Gedicht nämlich hat mit den großräumigen politischen oder philosophischen Überlegungen der Erzählung nichts zutun, sondern ist selbst wieder eine Art Gedankenspiel über das Verhältnis von Kunst und Leben. Es beschreibt einen Londoner Pfandleiher des 16. Jahrhunderts, der „in seiner Sterbestunde umsonst seine Verfehlungen zu rechtfertigen sucht, ohne zu ahnen, dass die geheime Rechtfertigung seines Lebens darin besteht, dass er einem seiner Kunden (den er nur ein einziges Mal sah und an den er sich nicht mehr erinnert) den Charakter des Shylock eingegeben hat.“ Mit einer solchen spielerischen Reflektion über Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen von Kunstwerken aber sind wir bei einem typischen Thema Robert Gernhardts – und zugleich weit weg vom Schlachtenlärm der so weltgeschichtsentscheidenden Theorien und Ideologien. Wer will, könnte anhand der Art und Weise wie Gernhardt hier Bezug nimmt auf die Erzählung von Borges eine kleine Skizze der Differenzen zwischen einer unter dem Eindruck hochgespannter ideologischer Konflikte entstandenen Literatur der Moderne und einer betont ideologieskeptischen Postmoderne entwerfen. Gernhardts Geschichte läuft auf die prächtige ironische Volte hinaus, nach der sich jeder, der als Künstler nicht berühmt wird, über die Maßen glücklich schätzen muss. Denn da er der Nachwelt kein gefeiertes Oeuvre liefert, liefert er eben auch keine Lebensrechtfertigung für all die miesen Pfandleiher, KZ-Kommandanten und übrigen widerlichen Zeitgenossen, denen er sonst als Vorbilder der Gestalten in seinen Werken zu literarischer Unsterblichkeit verholfen hätte. Nicht alle Geschichten dieses Bandes entwickeln eine solche Komplexität. Manche sind nicht mehr als die Umsetzung eines kleinen erzählerischen Einfalls und wollen auch nicht mehr sein. Es sind Gelegenheitsarbeiten, mit denen Gernhardt noch einmal sein Talent unter Beweis stellt, selbst aus dem nebensächlichsten oder schrägsten Material mit leichter Hand sehr lesbare und vergnügliche Texte machen zu können. Wie schon bei seinem letzten Lyrikband „Später Spagat“ wollte er angesichts seines sehr bewusst vollzogenen Abschieds vom Leben, seinen Lesern offenbar nicht nur als einer der wichtigen Schriftsteller seiner Generation Lebwohl sagen, sondern auch als der Unterhaltungskünstler, der Entertainer und Spaßmacher, der er ebenso war. Der Schriften Lichtenbergs, hat Goethe einmal geschrieben, „können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.“ Auch für Gernhardt war der Witz unter anderem ein Problem-Detektor und Erkenntnismittel. Denn durch das, was uns zum Lachen reizt, machen sich nicht selten die Bruchlinien in jenen Gesetzes- und Regelwerken bemerkbar, mit denen wir dem Leben eine möglichst bruchlose Ordnung zu geben suchen. Wenn Gernhardt zum Beispiel Walther von der Vogelweides herrliche lyrische Altersklage „Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!“ (Oweh wohin sind entschwunden alle meine Jahre!) mit den Ratschlägen eines Seniorenberaters unserer Tage konfrontiert, ist das nicht nur sehr lustig, sondern auch ein Mittel, sowohl die modernen wie die mittelalterlichen Selbsttäuschungen im Umgang mit dem Elend des Alters sichtbar zu machen. Zu großer Form läuft Gernhardt nicht zuletzt dann auf, wenn es um die unerschöpflichen Rätsel der Kunst und der Kreativität geht. Da wird auf satirische Weise angedeutet, welche ungeheure Stilisierung und Sublimationsleistung hinter den so makellosen Bildern eines Jan Vermeer steckt. Da rechtfertigt sich ein Künstler vor dem Jüngsten Gericht für einen Abend, den er nicht enthaltsam mit Arbeit verbracht, sondern an ein schlechtes Abendessen bei unkultivierten Millionären verschwendet hat. Da verfällt ein Maler, der sich um seinen Pinsel, will sagen: um seine Potenz beraubt sieht und um seine Produktionskraft fürchtet, nicht in lebensfeindliche Bitterkeit und findet gerade deshalb einen unverhofften Helfer, der ihm die Weiterarbeit möglich macht. Zu den schönsten Geschichten gehört ein kaum getarntes Selbstporträt als leicht verzweifelter Toskana-Bewohner. Der Held, ein Schriftsteller, erklärt einem Besucher wortreich, dass er inzwischen schlichtweg alles rings um seinen italienischen Landsitz, die Landschaften, Pflanzen, Tiere, als Anregung und poetisches Material für seine Arbeit verbraucht habe, und also inspirationstechnisch inmitten verbrannter Erde lebe. Daraufhin beginnt der Besucher nach irgendeinem Detail Ausschau zu halten, das der Dichter noch nicht bedichtet hat, sucht und sucht – und fängt auf diese Weise an, etwas zu ahnen von den Mühen des Dichtens. „Denken wir uns“ ist ein beschwingter Prosazyklus, in dem Robert Gernhardt noch einmal die Bandbreite seines Könnens zeigt. Von der parodistischen Stimmimitation, bis zur liebevoll ausgemalten, atmosphärisch dichten Erzählung, von der dezidiert komischen Anekdote bis zum kunsttheoretischen Erzählessay, vom satirischen Zeitgeistporträt bis zum vieldeutigen Lehrstück. Mit wie viel Freude liest man dieses Buch, und dann, mit wie viel Melancholie schlägt man es, sein letztes, zu.
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