In der Opferrolle

 Auf der Leipziger Buchmesse präsentieren sich Günter Grass und Martin Walser effektvoll als die Verfolgten. Selbst teilen sie kräftig aus – vor allem gegen die Presse

Das soll ihnen erst mal einer nachmachen: Zwar haben weder Günter Grass noch Martin Walser in diesem Frühjahr bedeutende Bücher vorgelegt, sondern jeweils nur ein kleines Nebenwerk, und dennoch sind sie zu den dominierenden Figuren der Leipziger Buchmesse geworden. Zugegeben, bei Walser half der 80. Geburtstag kräftig mit, doch er hat schon oft genug unter Beweis gestellt, dass er auf Jubiläen zur Selbstvermarktung nicht angewiesen ist. Die beiden Altstars der deutschen Ü70-Literaturnationalmannschaft, das Angriffsduo Grass-Walser, haben wieder einmal ihr Genie bewiesen, sich präzise im Zentrum des öffentlichen Interesses zu platzieren. Beide sind inzwischen allerdings auch seit über 50 Jahren im Geschäft: Walser debütierte 1955 mit Erzählungen, Grass 1956 mit einem Gedichtband. Wenn sich aber in diesem Frühjahr wieder die meisten Scheinwerfer auf sie richteten, hat das weniger mit ihren aktuellen literarischen Leistungen zu tun als vielmehr mit ihren zugespitzten publizistischen Äußerungen: Grass nannte die deutsche Presse pauschal „entartet“ und warf ihr vor, die Kritik an seinem langen Schweigen über die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS grenze an einen „Vernichtungsversuch“. Als man ihn daran erinnerte, welchen Platz der Begriff „entartet“ im Wörterbuch des nationalsozialistischen Unmenschen einnimmt, gestand er zu: „Ich korrigiere das Wort“, hielt aber in der Sache an seinem Vorwurf fest. Auch Walser ließ, nicht zum ersten Mal, wenig Gutes an der gesamten Medienlandschaft. Es gibt, behauptete er, „nicht einen Hauch von Meinungsfreiheit“. Sobald man von ungeschriebenen, aber deshalb umso eifriger bewachten Sprachregelungen abweiche, so wie er das gelegentlich tue, „bist du ein Nationalist, ein Kommunist oder was weiß ich. Das führt unweigerlich zur Exkommunikation.“ Darüber, mit wie viel Eifer, Gründlichkeit und zumeist auch Sympathie sein 80. Geburtstag von der Presse an die Leser kommuniziert wurde, verlor der angeblich Exkommunizierte kein Wort. Aber niemand sollte es sich deshalb so leicht machen, die Neigung dieser beiden Schriftsteller zur Polemik ebenso pauschal zu verurteilen, wie sie es umgekehrt mit der Presse tun. Die deutsche Literatur, ja der ganze Medienbetrieb, verdankt ihnen einiges. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren, als die Zeitungen noch weitaus staatsfrömmer auftraten, als man das heute glauben mag, war es nicht zuletzt die damals junge Schriftstellergeneration mit Grass und Walser, die durch politische Interventionen am Aufbau einer kritischen Öffentlichkeit mitwirkte und dafür von manchen Politikern als „Pinscher“ oder „Ratten und Schmeißfliegen“ attackiert wurde. Rückblickend kann man die von Autoren entzündeten publizistischen Schlachten als öffentliche Trainingskurse in Sachen Demokratie für ein damals noch demokratieungewohntes Publikum betrachten. Allerdings scheinen die alten Meinungskämpfe bei den Veteranen einen unseligen Hang zum Lagerdenken hinterlassen zu haben – und dazu eine gute Portion Selbstgerechtigkeit. Eine andere Rolle als die der verfolgten Unschuld kommt für sie in den eigenen Augen offenbar nicht infrage. Da sich aber Politiker heute in Debatten mit Schriftstellern gewöhnlich bedeckt halten, bietet sich als Widerpart für die Angriffslust der Autoren vor allem die Presse an, die mit manchen ihrer Äußerungen streng ins Gericht geht. Resultat ist ein grobschlächtiges Schwarz-Weiß-Denken – hier der gute Dichter, da die bösen Medien -, in das auch Peter Handke gern verfällt, wenn man ihm seine Unbelehrbarkeit in Sachen Milosevic vorhält. Nüchtern betrachtet, ist nicht recht begreiflich, worüber Grass sich beklagt. Natürlich muss man ihm dankbar sein, dass er jahrzehntelang einen selbstkritischen Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit forderte und förderte. In was für politische Zwangslagen sich ein Land manövriert, das seine historischen Verbrechen nicht wahrhaben will, lässt sich zum Beispiel an den Problemen der Türkei ablesen, sobald die Rede auf den Massenmord an den Armeniern kommt. Wenn Grass, Walser und andere Autoren die Verbrechen der Deutschen während des Nationalsozialismus mit literarischen Mitteln ins öffentliche Bewusstsein rückten, haben sie sich damit um ihr Land verdient gemacht. Wenn Grass dann aber eingesteht, selbst ein wesentliches Detail seiner Nazi-Vergangenheit über Jahrzehnte verborgen zu haben, führt kein Weg daran vorbei, ihm einen erheblichen Verlust seiner politischen Glaubwürdigkeit zu attestieren. Vielleicht ist es nicht falsch, in diesem Zusammenhang an den 1984 gestorbenen, im Westen leider weitgehend unbekannten DDR-Schriftsteller Franz Fühmann zu erinnern. Auch er ließ, wie Grass, keinen Zweifel daran, dass er als ein von den Nazis verführter Jugendlicher freudig für Hitler in den Krieg gezogen war. Doch anders als Grass spürte er in seinen Büchern trotz aller Scham den Gründen für seine Verführbarkeit leidenschaftlich nach, legte jedes Detail offen, so schmerzlich das für ihn auch wurde, und bezog daraus dann die Rechtfertigung, eine ähnlich gründliche Selbstprüfung von anderen Deutschen zu fordern. Es war mitunter gespenstisch, in Leipzig dabei zuzuhören, mit welcher Virtuosität Grass es verstand, vom langjährigen Schweigen über den eigenen Fehler abzulenken und stattdessen das „Ausmaß an Niedertracht“ seiner Kritiker zu geißeln. Nicht selten verführt er mit diesem schlichten Trick, sich als den Verfolgten, als das Opfer einer rücksichtslosen Presse hinzustellen, seine Zuhörer zu Beifallsstürmen. Doch fällt er damit den eigenen früheren Bemühungen um eine kritische Öffentlichkeit in Deutschland naturgemäß in den Rücken. Denn zum einen bleibt er seinem Publikum so eine sorgfältige Selbstprüfung schuldig. Zum anderen fertigt er sein Publikum ab mit stammtischhaften, leicht paranoiden Klischees von einer verschworenen Presse, die Vernichtungskampagnen gegen ihn führe. Wie Walser in seiner Polemik, so verschweigt auch Grass, dass die Rezensionen über seine Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ samt SS-Geständnis keineswegs einheitlich ausfielen, dass viele literarische Argumente zugunsten des Buches vorgebracht wurden und dass ihm als Schriftsteller in den Medien nach wie vor großer Respekt entgegengebracht wird. Das öffentliche Engagement, das beide früher einmal aus aufklärerischen Impulsen begannen, gerät so in die Nähe der Demagogie in eigener Sache.

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