„Handy“

 Ingo Schulze zeigt, wie zeitgemäß Geschichten in „alter Manier“ heute sein können

Es gibt heute in der deutschen Literatur nur wenige Schriftsteller, die so souverän über die Techniken und Tricks des Erzählens verfügen wie Ingo Schulze. Er ist ein Virtuose, der sich die verschiedensten Stilarten und Schreibweisen anverwandeln kann. Während andere Autoren einen einzigen persönlichen Prosa-Tonfall päppeln und kultivieren, hüpft er mit jedem Buch munter von einer Erzählform zur nächsten. Die Bandbreite seines Talents ist erstaunlich, für sein erstes Buch „33 Augenblicke des Glücks“ orientierte er sich an Meistern der russischen Moderne, für das zweite „Simple Storys“ an amerikanischen Vorbilder wie Sherwood Anderson oder dem Lakoniker Raymond Carver, und in seinem furiosen Briefroman „Neue Leben“ knüpfte er klug an einige der ehrwürdigsten Traditionen der deutschen Literaturgeschichte an. Doch seltsam: So frei und überlegen Ingo Schulze mit erzählerischen Techniken jongliert, so festgelegt scheint er bislang in thematischer Hinsicht zu sein. Es gibt, so weit ich sehen kann, keinen anderen deutschen Schriftsteller, der die Erfahrungen der Ostdeutschen und Osteuropäer mit dem abrupten Systemwechsel nach dem Kollaps des realen Sozialismus derart feinnervig, differenziert und überzeugend in Literatur verwandelt hätte wie er. Wer sich lesend ein Bild davon machen will, wie das damals war, als der Gleichschritt des jahrzehntelang bevormundeten Lebens über Nacht endete und das Rodeo der Freiheit begann, ist bei ihm gut aufgehoben. Diesem Thema bleibt Schulze auch in „Handy“, seinem neuen Band mit Erzählungen, über weite Strecken treu. Und auch für dieses Buch – das signalisiert schon der Untertitel „Dreizehn Geschichten in alter Manier“ – hat er wieder eine andere Erzähltechnik gewählt. Es sind, von zwei Ausnahmen abgesehen, lauter Ich-Erzähler, die sich hier in einer merkwürdigen Mischung aus Abgeklärtheit und Hilflosigkeit zu Wort melden. Abgeklärt sind sie in literarischer Hinsicht, denn sie erzählen nicht einfach ihre Geschichte, sondern sie kommentieren sie auch und erklären dem Leser, weshalb sie nur so und nicht anders erzählt werden kann. Hilflos und ausgeliefert fühlen sie sich dagegen in den Situationen von denen sie erzählen. Es wirkt nicht selten so, als würden sie aus größerer zeitlicher Distanz von Erinnerungen berichten, die sie wieder und wieder rekapitulieren und mit denen sie nur schwer fertig werden. Da ist zum Beispiel die Geschichte von dem jungen Mann, der das Gefühl nicht loswird, während der den Wendewirren von 1989 im Beruf und in der Liebe aufs falsche Gleis geraten zu sein. Zehn Jahre später, in der Silvesternacht zum Jahr 2000 hin, will er seine Freundin verlassen und eine frühere Geliebte wiedergewinnen, um so endlich in sein altes, vermeintlich wahres Leben zurückfinden. Wie Ingo Schulze hier die Erinnerung des Helden an jene vergangene Liebe metaphorisch parallel setzt zu einer Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, die am Vorabend der Silvesternacht zunächst einmal ausgegraben werden muss, um endlich entschärft werden zu können, entspricht traditionellen Erzählmustern, also jener „alten Manier“, die der Untertitel des Bandes verspricht. Doch so, wie Schulze diese Muster nutzt, wirken sie nie verstaubt, sondern auf unangestrengte Weise originell und zeitgemäß. Das Erlebnis, sich nach der Wende von 1989 in völlig neuen Lebensbahnen wieder zu finden, prägt fast alle Helden dieser Geschichten. Natürlich haben sie sich längst mit der veränderten Situation arrangiert, nicht selten zu ihrem Vorteil. Doch ist, nachdem sie seinerzeit einmal den Boden gründlich unter den Füßen verloren, ein leises Gefühl der Verunsicherung für sie zum ständigen Begleiter geworden. Die einen versuchen sich durch zwanghafte Beständigkeit davor in Sicherheit zu bringen, andere wiederum spielen insgeheim mit dem Gedanken an den Sprung in weitere, ganz andere Lebensläufe. Aber eine Rückkehr zu der gefühlten Selbstverständlichkeit ihres früheren Daseins gibt es für sie nicht. Doch Schulzes Geschichten sind deshalb keineswegs nur auf Moll gestimmt. Er hat vielmehr einen wachen Sinn für die grotesken, komischen Folgen dieser Verunsicherung. Ein verarmter Este zum Beispiel, eigentlich ein würdiger Angestellter des Schriftstellerverbandes und Museumsdirektor, möchte für zahlungskräftige westliche Touristen eine Bärenjagd organisiert. Unglücklicherweise macht sich aber die einzige Bärenfamilie weit und breit aus dem Staub. Um seine Kundschaft nicht zu verlieren, kauft der Mann daraufhin einen russischen Zirkusbären, den er den Jägern zum bequemen Abschuss an einer Lichtung serviert. Doch die geraten im letzten Moment in Streit, verfehlen den Bären, und der raubt in seiner Panik einer Pilzsucherin das Fahrrad und radelt vor den Augen seiner ungläubigen Verfolger auf Nimmerwiedersehen davon. In anderen Erzählungen dieses Bandes lässt Schulze jedoch die Erfahrungen seiner Helden mit dem Systemwechsel weiter und weiter zurücktreten und wagt sich an andere, ihm weniger geläufige Themen heran. Diese Geschichten wirken zunächst wie jene typischen, um Authentizität bemühten Selbstbespiegelungen, die man hierzulande häufig zu lesen bekommt: Schriftsteller schreiben über das Leiden von Schriftstellern auf öden Kongressen, mühseligen Lesereisen oder langweiligen Partys alter Freunde, die ihnen immer fremder werden. Bei Schulze jedoch ist der Eindruck von Authentizität nur vorgetäuscht, nur das Ergebnis einer geschickten erzähltechnischen Illusion. Gerade weil seine Ich-Erzähler ihre Geschichten immer wieder kommentieren, weil sie so tun, als ließen sie die Leser an ihren Gedanken teilhaben, wie die Geschichte angemessen zu schreiben und zu verstehen ist, wirken sie wie Beichten, wie Geständnisse, die Schulze seiner gequälten Seele abringt. Doch genau betrachtet sind es, auch wenn sie gelegentlich autobiographische Anklänge enthalten, reine Erfindungen. Schulze demonstriert damit gleichsam nebenbei, wie gut sich das lange als antiquiert und unbrauchbar belächelte auktoriale Erzählen in „alter Manier“ – denn eben das betreiben seine Ich-Erzähler hier – dazu eignet, auf sehr moderne Weise die Grenzen zwischen Literatur und Realität, zwischen Sein und Schein zu verwischen. Das klingt zunächst nach erzähltechnischen Glasperlenspielen, nach Literatur für Literaten, nach raffinierten Zauberkunststückchen für Eingeweihte. Doch damit täte man dem Buch unrecht. Denn letztlich zielen Schulzes Geschichten nicht auf exklusive ästhetische Gaukeleien, sondern auf die Schilderung elementarer und dringlicher Erfahrungen. Einer seiner Helden beispielsweise, den wir mit Schulze selbst verwechseln sollen, ertappt sich dabei, wie er einen Augenblick lang in brutalen Egoismus verfällt und um seiner Bequemlichkeit willen das Leben eines in Not geratenen Jungen riskiert. Sicher, der Augenblick dauerte nur wenige Sekunden und, sicher, der Ich-Erzähler war durch Grippe und Liebeskummer massiv geschwächt. Dennoch bedrückt ihn die Erinnerung, die er nicht mit seinem Selbstbild in Einklang bringen kann. Denn sie zwingt ihn dazu, bei sich selbst je nach äußeren Umständen alles, auch unmenschliche Verhaltensweisen, für möglich zu halten. Weil Schulze die Geschichte aber nicht gleich als Fiktion zu erkennen gibt, sondern ihr geschickt den Anschein eines persönlichen Erfahrungsberichtes verleiht, entwickelt sie einen besonderen, einen inständigen Ernst. Der Band „Handy“ hat alles in allem nicht die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der „Simplen Storys“. Er ist heterogener, es ist ein Buch des Übergangs, man merkt, dass sich Schulze nach der jahrelangen Konzentration auf seinen großartigen Deutschland-Roman „Neue Leben“ umschaut nach anderen, nach frischen Themen. Aber selbst solche tastenden Neuansätze entwickeln bei ihm gleich eine beeindruckende literarische Wucht. Er ist, das zeigt sich auch hier, einer der jungen Meister unserer Gegenwartsliteratur.

Ingo Schulze „Handy“. Dreizehn Geschichten in alter Manier. Berlin Verlag, Berlin 2007 280 Seiten, 19,90 €

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