„Der Mond und das Mädchen“

Martin Mosebachs zauberhaft zarter und zugleich satirisch böser Roman

Die Freiheit ist ein seltenes Wild. Selbst in den Ländern und Großstadtdschungeln des liberalen Westens ist sie nicht oft und nur unter beträchtlichem Einsatz zu erjagen. Man schließt gern die Augen davor, aber im Grunde gleiten Lebensläufe meist dahin wie auf Schienen, in ihrer Richtung vorbestimmt durch Erziehung, Zeitgeist, Konventionen. Nur sehr gelegentlich kommt mal eine Weiche, an der behutsam der Weg korrigiert werden kann und fast nie wagt es jemand, die Lok von den Geleisen zu heben und sich jenseits des Bahndamms die eigene Spur zu suchen. Solche raren Momente der Freiheit, gezielt oder halb unabsichtlich herbeigeführt, hat Martin Mosebach, schon mehrfach zum Motor seiner Romane gemacht. Jetzt wurde ihm, der lange Zeit wenig Aufmerksamkeit fand, mit dem Büchnerpreis eine der höchsten literarischen Ehrungen des Landes zugesprochen. Gerade rechtzeitig zur Auszeichnung erscheint sein neuer, zauberhaft zarter und zugleich satirisch böser Roman „Der Mond und das Mädchen“. Und auch den treibt die geheime, vor sich selbst uneingestandene Sehnsucht des Helden voran nach einem Ausbruch aus der festgelegten Lebensbahn. Hans heißt seine Hauptfigur: ein junger, frisch verheirateter Hamburger Universitätsabsolvent, der gerade in Frankfurt seine erste Stelle bei einer Bank antritt. Er ist kein Dummkopf, aber offenkundig von ernsteren Lebenserfahrungen bislang verschont geblieben und deshalb nicht frei von einer gewissen Naivität. Seine Frau Ina reist gleich nach der Hochzeit mit ihrer Mutter nach Italien, er selbst nimmt in Frankfurt seine Arbeit auf und möchte nebenher in der fremden Stadt gewissermaßen Quartier machen, also eine geeignete Unterkunft für sich und Ina finden. Da die Mieten in den besseren Stadtteilen eine infame Höhe erreicht haben, entscheidet sich Hans schließlich für eine Wohnung in der Nähe vom Hauptbahnhof, unmittelbar an einem der tristesten, verkehrsreichsten, unwirtlichsten Plätze der Innenstadt. Damit scheint der weitere Handlungsverlauf des Romans absehbar: Der Held, aus wohlgeordneten Verhältnissen stammend, findet sich inmitten rauer sozialer Realitäten wieder, die ihn und seine junge Frau bedrohen, und gegen die er sich zur Wehr setzen muss. Tatsächlich ist das Milieu, mit dem er sich nun konfrontiert sieht, für Hans weder vertraut noch Vertrauen erweckend: Das Ehepaar in der Etage unter ihnen, er Kunsthistoriker, sie Schauspielerin, machen einen zwar gebildeten, aber reichlich bohèmehaften Eindruck. Dazu ein marokkanischer Hausmeister, der nicht nur die Post der Mieter ausforscht, sondern die ganze Nachbarschaft wie ein Mafia-Pate zu kontrollieren vorgibt. Überdies ein grotesk verfetteter Hausbesitzer, der über das Scheitern seine Ehe nicht hinwegkommt, sich offenbar vom Hausmeister um die Mieteinnahmen prellen lässt und deshalb auf Almosen angewiesen ist. Doch Mosebach kippt die Verhältnisse um. Nicht die scheinbar so dubiosen neuen Bekanntschaften machen Hans zu schaffen, sondern die Lebenskreise aus denen er stammt. Seine Schwiegermutter, die bezeichnenderweise von Klein heißt, ist eine bornierte, engherzige Familientyrannin. Sie kennt kein Interesse jenseits des materiellen Wohlergehens – und diesem Vorbild eifert die Tochter immer offener nach. Beide Damen haben für die Anwohnerschaft rund um den Frankfurter Bahnhof keinen Sinn. Hans dagegen fühlt sich nicht unwohl zwischen den neuen Nachbarn, die aus allen Himmelsrichtungen in die Stadt gespült wurden und sich während heißer Sommerabende im Hof bei einer Trinkhalle versammeln, um die Nächte zu verplaudern. Die kuriose Völker- und Schicksalsmixtur weckt seine Neugier und die lebensfrohe Schauspielerin eine Etage tiefer seine Abenteuerlust. Martin Mosebach ist einer der großen Erotiker unter den deutschen Erzählern der Gegenwart. Nicht, dass er sexuelle Vorgänge besonders explizit beschriebe, im Gegenteil, er ist in dieser Hinsicht auf eine liebenswert altmodische Weise diskret. Vielmehr versteht er es zum Beispiel in diesem Roman, die sommerlich aufgeheizte Stadt Frankfurt in eine sinnlich schwüle, lastende, der ersehnten Entspannung entgegenfiebernde Atmosphäre zu tauchen. Er zeigt, wie die Distanz zwischen Hans und Ina zunimmt und wie die wachsenden Anziehungskräfte zwischen Hans und seiner Nachbarin für immer neue Begegnungen und kleine Flirts sorgen. Ohne zuviel vom Ausgang der Geschichte zu verraten: In der Wohnung der Schauspielerin recken sich die übervollen Bücherregale der Decke entgegen und auf den letzten Zeilen des Romans heißt es von dem Helden, der zuvor kein großer Anhänger der Literatur war: „Hans liest viel“. Erstaunlicherweise wird Mosebach gern als Kronzeuge für eine Renaissance des Bürgertums in Anspruch genommen. Daran sind sein sehr kultiviertes Auftreten, seine beeindruckende Bildung und die Tonlage seiner Romane vermutlich nicht unschuldig. Weil er Gesellschaftsromane nach dem Vorbild bürgerlicher Romanciers des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schreibt, möchte man in ihm gern einen Vorboten der Wiederkehr bürgerlicher Lebensformen sehen. Doch wer sich etwas gründlicher mit seinen Büchern beschäftigt, wird darin wenig finden, das zu solchen Hoffnungen ermutigt. „Der Krieg hatte erbarmungslos den wahren Zustand bürgerlicher Kultur offenbart“, schrieb Mosebach einmal. „Vor dem Krieg hatten die Nachkommen alter Familien in ihren unzerstörten Häusern mit den Bildern und Möbeln gesessen, die ihnen über Generationen zugewachsen waren. Aber als es nach dem Krieg daranging, etwas Neues zu schaffen, das ansehnlich und menschenwürdig aussah, kam heraus, dass das ästhetische Konto seit langem überzogen war. Die Barockmöbel waren erst jüngst verbrannt, der Geschmack, der sie hervorgebracht hatte, war schon lange gestorben.“ Kultureller Niedergang ist, so Mosebach, kein abrupter, sondern ein allmählicher Prozess, auch wenn er nach historischen Katastrophen schlagartig sichtbar wird. Und er lässt sich, das liegt auf der Hand, nicht durch eine plötzlich wiedererwachte öffentliche Wertschätzung des lange geschmähten Bürgertums kurzerhand rückgängig machen. Sicher, Mosebach stellt im neuen Roman Frau von Klein als typische Vertreterin eines amorphen Wohlstandsmilieus, zu dessen höchstem denkbaren Lebensziel größtmögliche Bequemlichkeit geworden ist, mit satirischer Schärfe bloß. Doch sein Held lässt sich im Kontrast dazu eben nicht von reanimierten bürgerlichen Ideen faszinieren, sondern von einer betont unkonventionellen Schauspielerin und von dem multikulturellen Völkergemisch, das noch die ödesten Wüsteneien unserer Großstädte zu besiedeln und auf seine Weise zu rekultivieren beginnt. Selbst in seinem bislang einzigen historischen Roman „Der Nebelfürst“, der größtenteils im Frankfurt des Fin de Siècle spielt, und aus dem Mosebach leicht eine nostalgische Liebeserklärung an die versunkene Bürgerkultur hätte machen können, begegnet er allen braven Bürgersleuten betont ironisch. Seine Zuneigung dagegen gehört immer wieder jenen Figuren, die aus den Geleisen der üblichen Biographien herausspringen, also den Abenteurern, Hochstaplern, schrägen Vögeln und Phantasten, die jenseits der viel befahrenen Bahndämme die eigene Freiheit suchen, oder eben jenen Träumern, die sich nach einem solchen Ausstieg sehnen wie der schlichte Held in „Der Mond und das Mädchen“. Vielleicht darf man in Hans einen späten Nachfahren von Eichendorffs Taugenichts sehen – der sich allerdings letztlich als so willensschwach herausstellt, dass er anders als sein literarischer Urvater nicht selbst nach Italien aufbricht, sondern statt dessen Frau und Schwiegermutter reisen lässt, also zu einem echten Taugenichts nicht taugt. Mosebachs Sympathie für die Aussteiger aus der auf moderate Mittelwerte gedimmten Massengesellschaft ist in der Nachkriegsliteratur nichts Ungewöhnliches. Von Böll bis Grass haben einige der wichtigsten Erzähler mit Vorliebe die Nonkonformisten, die Querköpfe und -treiber zu ihren Helden gemacht. Das Besondere von Mosebachs Romanen ist vielmehr ihre Form, ihre Tonlage. Für zahllose Kritiker und Literaturwissenschaftler galt es hierzulande mindestens eine Generation lang als ausgemacht, dass der auktoriale Erzähler, der den Leser gleichsam an die Hand nimmt, um ihn durch den Roman zu führen und alle Handlungen oder Gefühle der auftretenden Figuren ausführlich zu kommentieren, ein für allemal überlebt sei. Mosebach aber hat nie an die Innovationsgebote und das an das Fortschrittspathos der modernen Ästhetik geglaubt, sondern sich als Schriftsteller die Freiheit genommen, aus den Geleisen der literarischen Trends zu springen und den Möglichkeiten des auktorialen Erzählens zu schwelgen, obwohl ihn der Literaturbetrieb deshalb lang Zeit missachtete. Doch die alten Dogmen haben inzwischen ihre alte Macht verloren. Dass es gute literarische Gründe dafür geben kann, Geschichten in alter Manier zu erzählen – um es mit dem Untertitel von Ingo Schulzes jüngstem Erzählungsband zu sagen – beginnen allmählich selbst Kritiker zu akzeptieren, die noch vor wenigen Jahren ganz und gar auf den Modernismus fixiert waren. An dem wunderbaren Roman „Der Mond und das Mädchen“ lassen sich einige solche Gründe studieren. So kann Mosebach beispielsweise von seinem unbedarften Helden Hans erzählen, ohne in unbedarfte Rollenprosa verfallen zu müssen, da ein auktorialer Erzähler eben auf den ganzen Scharfsinn, die Bildung und die Sprachkraft des Romanciers Mosebach zurückgreifen kann. Und wenn Mosebach in einen alten, reichen, gut zweihundert Jahre tief in der Literaturgeschichte verwurzelten Tonfall unsere aktuelle Milieus und Umgangsformen schildern, wirft das auf die Gegenwart ein seltsames Zwielicht. Man erkennt mit einem Mal wie ärmlich, wie karg unsere Zeit – die sich so gern für die Krönung der Geschichte hält – mitunter wirkt im Vergleich zur ästhetischen Fülle und Pracht vergangener Epochen.

Martin Mosebach: „Der Mond und das Mädchen“. Roman
Carl Hanser Verlag, München 2007 191 Seiten, 17,90 €

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