„Die Kunst des Unmöglichen“

Peter Hamm Aufsätze zur Literatur verdienen Respekt, aber auch Kritik
Wenn der Essayist und Lyriker Peter Hamm über andere Schriftsteller schreibt, dann ausdrücklich nicht als Kritiker, sondern als Kenner und Kollege. Und ein Kenner, insbesondere der Schweizer Literatur und der Lyrik der Moderne, ist er unbedingt. Nach der Lektüre seines neuen, dritten Sammelbandes mit Aufsätzen zur Literatur möchte man sich respektvoll verbeugen angesichts der Fülle seines Wissens. Doch trotz allen Respekts scheint mir einiges an seinen Essays fragwürdig, ich will versuchen zu erklären warum. Hamm widmet sich mit Vorliebe schon kanonisierten Dichtern. Fast alle lebenden Autoren, über die er im neuen Band schreibt, haben mindestens den Büchner-Preis vorzuweisen. Unter den toten Schriftstellern, denen er seine Aufmerksamkeit schenkt, wimmelt es von Nobelpreisträgern. Der große Nachdruck, mit dem er immer wieder auf derartige Ehrungen hinweist, wirkt so, als betrachte er sie als kaum noch bezweifelbare Bestätigung literarischer Qualitäten. Er erspart sich auf diese Weise die Arbeit des Kritikers, der allein unter Berufung auf die eigene Autorität – also ungeschützt und jederzeit angreifbar – zwischen Gelungenem und Misslungenem zu unterscheiden versucht. Dem entspricht Hamms Neigung zu feierlichen und getragenen, aber auch leicht abgetragenen Formulierungen. Bei ihm lebte James Joyce nicht in Triest, nein, er „weilte“ dort. Das Werk von Henri Michaux hat nicht bis heute rätselhafte Züge, sondern ihm „eignet“ bis heute „Rätselhaftigkeit“. Ingeborg Bachmann hatte gegen Ende ihres Lebens keine Schreibkrise, sie ging vielmehr „ihres poetischen Ingeniums fast verlustig“. Literarische Bedeutung wird so durch die Bedeutsamkeit des Vokabulars suggeriert, statt argumentativ belegt. In welchem Maße Hamm bereit ist, sich auf die Magie schöner Worte zu verlassen, klingt an, wenn er Derek Walcott attestiert, seine Poesie vermittle „selbst dort den Eindruck von tiefer Wahrheit, wo sie dunkel und verschlüsselt wirkt“. Hamm tendiert dazu, in seiner Begeisterung für die Dichtung das Lob für die Dichter allzu hoch anzusetzen. Jeder von ihnen müsse, behauptet er, „versuchen so zu schreiben, als sei er der erste und der letzte Mensch zugleich“. Leider wird nicht recht klar, was sich hinter dieser Forderung konkret verbirgt, weil naturgemäß niemand wissen kann, wie erste oder letzte Menschen schreiben – und so entpuppt sich die Formulierung als dramatisches, aber bedeutungsleeres Wortgeklingel. Und wenn Hamm Ungaretti zum „Gesetzgeber“ der modernen Lyrik erklärt und seine Gedichte an die Seite der „Heiligen Schrift“ rückt, würde man ihn gern um etwas mehr Nüchternheit bitten. Wer so viel Weihrauch schwenkt, dem steigt er leicht in die Augen und das trübt den Blick. Wie ein Kritiker hat auch Hamm seine literarischen Vorlieben und Abneigungen – und er hat, wie ein Kritiker, ein gutes Recht auf sie. Niemand kann allen Spielarten der Literatur gleichermaßen gerecht werden, und letztlich wäre im Disput über Dichtung auch nichts uninteressanter und temperamentloser als eine solche allumfassende Gerechtigkeit. Hamm bevorzugt vor allem Autoren, die in seinen Augen ihre Kindlichkeit, ihr „kindliches Ich“, nie vollständig abgelegt, sondern immer staunend auf die Welt geschaut haben. Nicht zuletzt in dieser Eigenschaft sieht er ein Wesensmerkmal des Poeten und versichert sich von Goethe („Kindlich – unüberwindlich“) über Marina Zwetajewa („Dichter wird man als Kind“) bis Henri Michaux („Das Kind ist mehr Mensch als der Mensch“) durch Zitate der Zustimmung hoher Autoritäten. Dass damit Autoren, deren lyrisches Ich einen eher unkindlichen Eindruck macht wie das von Brecht oder Benn, in Hamms lyrischem Weltbild kaum vorkommen, ist nicht weiter schlimm, denn wie gesagt, bei Meinungsäußerungen zur Literatur ist umfassende Ausgewogenheit keine Tugenden. Ein wenig unbefriedigend aber ist, dass Hamm, der in den Jahren nach der Studentenbewegung in literarischen Fragen entschieden politisch argumentierte, sich nun, ohne die Gründe für diesen Überzeugungswandel begreiflich zu machen, mit ebenso großer Entschiedenheit für eine Dichtung einsetzt, die von allen politischen, ja allen sozialen Zusammenhängen absieht. Über Derek Walcott etwa schreibt er: „Wie jeder wahrhafte Dichter träumt er von der Kunst der Kindwerdung, vom großen Vergessen, das den Skandal der Geschichte auslöscht.“ Hier zeigt die Argumentation in Hamms Aufsätze meines Erachtens eine auffällige Lücke. Seine Vorstellung, „wahrhafte Dichter“ hätten das große Vergessen zu suchen und aus der Geschichte in skandalfreie Zeitlosigkeit auszubrechen, versetzt die Lyrik allzu leicht in weltferne Sphären – in denen sie aber vor politischem Missverständnis oder Missbrauch keineswegs geschützt sind. Die Zahl jener Klassiker der literarischen Moderne, die sich für Diktatoren oder totalitäre Weltanschauungen begeisterten, ist so hoch, dass man wohl danach fragen darf, ob das allein historischen Zufällen geschuldet ist. Doch selbst wenn Hamm erwähnt, dass Ungaretti sich zu einem seiner Gedichtbände ein Vorwort von Mussolini persönlich schreiben ließ, nennt er das schlicht „unbegreiflich“ und enthält sich jeder weiteren Analyse, ob es denn einen Zusammenhang geben könnte zwischen dem revolutionären Erneuerungsanspruch der literarischen Moderne und den revolutionären Erneuerungsanspruch faschistischer oder kommunistischer Ideologien.

Peter Hamm: „Die Kunst des Unmöglichen oder Jedes Ding hat (mindestens) drei Seiten“. Aufsätze zur Literatur
Carl Hanser Verlag, München 2007 282 Seiten, 21,50 €

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