Wenn Richter über Romane richten

 Vom Skandal eines Literaturprozesses ohne Sachverständige: Ein Gutachten fordert die Aufhebung des Verbots von Maxim Billers Roman „Esra“ 

Wie immer man Maxim Billers Roman „Esra“ beurteilt, ob man ihn schätzt oder nicht, eins ist sicher: Er wird deutsche Rechtsgeschichte schreiben. Seit seinem Erscheinen 2003 ist er verboten, da zwei Klägerinnen aus München glauben, sich in Figuren des Buches wiederzuerkennen. Sie sehen sich dadurch öffentlich bloßgestellt und in ihrer Intimsphäre verletzt. Der Fall, bei dem es um nichts Geringeres geht als um eine Abwägung zwischen der vom Grundgesetz garantierten Freiheit der Kunst und den ebenfalls grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechten, wurde durch drei Instanzen bis hin zum Bundesgerichtshof verhandelt. Jetzt liegt er beim Bundesverfassungsgericht. Dessen Urteil wird, wie immer es ausfällt, entscheidende Bedeutung für künftige Spielräume der Kunst hierzulande haben. Zum Skandal des bisherigen Verfahrens gehört, dass von keiner der drei Vorinstanzen – auch nicht vom Bundesgerichtshof – wissenschaftliche Gutachten über den Roman und seinen Wirklichkeitsgehalt eingeholt wurden. Bei Prozessen, in denen technische, medizinische oder auch psychologische Fragen zur Sprache kommen, gilt es als Selbstverständlichkeit, dass Experten hinzugezogen werden. Wenn, sagen wir, der Einsturz eines Hauses vor Gericht verhandeln wird, ist es kaum vorstellbar, dass deutsche Richter eine Entscheidung fällen, ohne zuvor sachkundige Statiker gehört zu haben. Was ist aus der Tatsache zu schließen, dass alle bislang im Fall „Esra“ urteilenden Richter glaubten, auf literaturwissenschaftliche Expertisen verzichten zu können? Spricht daraus das Selbstbewusstsein von Juristen, die meinen, bei der Beurteilung von Kunstwerken keinen kompetenten Rat zu brauchen? Oder ihre Geringschätzung einer Literaturwissenschaft gegenüber, deren Erkenntnisse in ihren Augen für juristische Verfahren irrelevant sind? Oder eine Missachtung der Literatur, deren Freiheit zwar zu den Grundrechten zählt, die aber offenbar im Konfliktfall die Mühe nicht Wert ist, sich die diffizilen Zusammenhänge zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit von Experten erläutern zu lassen? Jetzt wurden von dem Juristen Christian Eichner (Düsseldorf) und dem Germanisten York-Gothart Mix (Marburg) erstmals die rechts- und literaturwissenschaftlichen Argumente im Fall „Esra“ gemeinsam abgewogen, in einem Gutachten zusammengefasst und dem Präsidenten der Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier vorgelegt (siehe: http://www.literaturkritik.de/public/Mix-EichnerLang.pdf). So kompliziert die Materie dieser Studie ist, so einfach ist ihr Fazit: Der Fall „Esra“ sei, schreiben Eichner und Mix, aus ihrer Sicht als Sachverständige „unbedingt im Sinne der Kunstfreiheit zu entscheiden“, das Verbot des Romans soll aufgehoben werden. Im Gegensatz zu allen übrigen mit dem Fall befassten Instanzen hat sich das Verfassungsgericht um Gutachten bemüht, unter anderem vom Pen-Club, vom Verband deutscher Schriftsteller und vom Börsenverein des deutschen Buchhandels, die ebenfalls alle für eine Freigabe des Romans plädierten. Diese Organisationen muss man allerdings als Interessenvertreter betrachten, was ihr Urteil relativiert. Die Autoren Eichner/Mix sind dagegen nicht als Lobbyisten der Literatur tätig geworden, was den Ergebnissen ihres Gutachtens eine besondere Bedeutung verleiht. Eichner und Mix kommen vor allem auf eine Entscheidung zurück, mit der das Bundesverfassungsgericht 1971 eine Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot des Romans „Mephisto“ von Klaus Mann zurückwies – und auf deren Begründung sich der Bundesgerichtshof im Fall „Esra“ zum Teil wörtlich bezog. Die Entscheidung von 1971 kam denkbar knapp durch eine 3:3-Stimmgleichheit im urteilenden Senat zustande. Zwei der Richter, die sich mit der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde nicht einverstanden erklärten, legten daraufhin ihre abweichenden Ansichten schriftlich nieder. Vor allem einer von ihnen, Erwin Stein, bestand darauf, dass – was auch in der Literaturwissenschaft als unumstritten gilt – von Fiktionen nicht auf Fakten, von literarischen Schilderungen nicht auf reale Gegebenheiten geschlossen werden darf: „Die Beurteilung des Romans allein nach den Wirkungen, die er außerhalb seines ästhetischen Seins entfaltet, vernachlässigt das spezifische Verhältnis der Kunst zur realen Wirklichkeit und schränkt damit das garantierte Freiheitsrecht der Kunst in unzulässiger Weise ein.“ In einer genauen Analyse von „Esra“ können Eichner und Mix aber zeigen, dass in dem Roman Wirklichkeit nicht abgeschildert, sondern nach einer „literarästhetischen Programmatik“ geformt wird – und dass ihm also der Charakter einer Fiktion, bzw. eines Kunstwerkes nicht abgesprochen werden kann. Sie gestehen zu, dass die „Esra“-Entscheidung des Bundesgerichtshofes nach dem Vorbild des „Mephisto“-Urteils zustande gekommen ist. Sie zeigen aber, dass bereits dieses Urteil verfehlt war und dass das Bundesverfassungsgericht hier seine Position dringend revidieren muss. Denn „individuell Erlebtes in literarischen Texten zu tabuisieren, kommt einer Amputation literarischer Inspiration gleich.“ Welche Bedeutung die erwartete Entscheidung des Verfassungsgerichts hat, lässt sich schon aus der in letzter Zeit sprunghaft angestiegenen Zahl von Verbotsverfahren gegen Kunstwerke ablesen, die mit dem Schutz von Persönlichkeitsrechten begründet wurden. „Zudem ist“, schreiben Eichner und Mix, „eine potentielle politische Instrumentalisierung“ solcher Verbotsanträge „durch die Gegner jeder Kunstfreiheit zu erwarten und wahrscheinlich.“ Bemerkenswert ist allerdings auch, wie lange die Germanistik gezögert hat, sich in das seit vier Jahren laufende Verfahren einzumischen. Dabei gehört die Frage nach dem Realitätsgehalt von Romanen doch wohl zum ureigensten Terrain der Literaturwissenschaft. Man stelle sich vor, ein deutsches Gericht hätte über einen Fall zu urteilen, der zentrale Themen der Geschichtsschreibung berührt – würden Historiker wie Winkler, Wehler oder Mommsen tatenlos dabei zuschauen, wie die Juristen die Sache unter sich ausmachten? Literaturfreiheit ist keine ein für allemal errungene Selbstverständlichkeit. Sie kann Stück für Stück verloren gehen. Sie braucht, wie der Prozess gegen Biller zeigt, ihre Verteidiger. Sie braucht Fürsprecher, die bereit sind, die Literatur gegen die simplifizierende Betrachtungsweise vieler Leser (auch in Richterroben) in Schutz zu nehmen, die in literarischen Werken nie etwas Eigenständiges, sondern immer nur einen banalen Abklatsch des Realen sehen wollen.

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