Die Stille unterm Schaum der Brandung

Der Herder Verlag ist sich seit 200 Jahren treu 

Es ist, als hätte man leichtfertig an den Knöpfen einer Zeitmaschine gespielt. Eine Szene wie diese, so rund und innig, so deutsch-romantisch, wirkt fast wie ein Fremdkörper im 21. Jahrhundert, auf jeden Fall wie eine kostbare Antiquität: Wir treten aus dem Gebäude – und das Gebäude allein schon ist so fabelhaft, dass es weiter unten zwei Absätze brauchen wird, um es zumindest knapp zu skizzieren – wir treten also aus dem Gebäude und Manuel Herder, vierzig Jahre alt und Herr des Herder Verlages in Freiburg, hat sich nicht weniger als vier Bücher unter den Arm geklemmt. Eins davon schlägt er auf und beginnt im Gehen laut vorzulesen, liest auf offener Straße mit einer Begeisterung, die sich jeder Autor von seinem Verleger nur wünschen kann, liest und schwärmt und rühmt das Buch. Ein paar hundert Meter von jenem fabelhaften Gebäude entfernt, das man heute wohl den Stammsitz seiner Familie nennen darf, kommen wir dann beim Grab seines Ur-Ur-Urgroßvaters Bartholomä Herder an, der den Herder-Verlag vor über 200 Jahren in Freiburg gründete. Der Friedhof ist eingefasst von einem Mäuerchen wie auf einem Bild von Ludwig Richter, ist ganz träumerisch verfallen, überwachsen von frischem Grün und hat ein altes Kirchlein in der Mitte. Mit den Büchern unterm Arm steht Manuel Herder dann vorm Ur-Ur-Urgroßvater und sagt, dass er schon manches Mal, wenn schwierige Entscheidungen zu treffen waren, hierher gekommen sei und gefordert habe: „So, das musst Du jetzt machen.“ Damit kein falscher Eindruck entsteht: Herder ist keine weltferne Bücherklitsche, im Gegenteil, er ist einer der großen Verlage Deutschlands, einer der in jüngster Zeit sehr erfolgreichen Verlage noch dazu und auf der jüngsten Bestsellerliste gleich dreifach vertreten, darunter auf Platz 1 mit dem Jesus-Buch von Papst Benedikt XVI. Aber andererseits passt Herder eben so gar nicht ins Bild eines geistlos beschleunigten, von kalten Konzern-Cäsaren regierten, jedem Trend blind hinterherhetzenden Buchmarkt. Herder ist seit sechster – sechster! – Generation in Familienbesitz, hat Freiburg nie verlassen, deshalb noch immer die guten Geister der Ahnen um sich versammelt und buchstäblich nichts an seiner Programmpolitik geändert: Anno Domini 1801, im Jahr der Verlagsgründung, schrieb Urvater Bartholomä an Fürstbischof Karl Theodor von Dahlberg, er wolle „eine Sammlung von Schriften veranstalten, die 1. dem Priester, dem Seelsorger etc. zur Führung seines Amts und Aufnahme guter Kenntnisse, 2. dem Schulmann, dem Erzieher und der Jugend angenehm und nützlich sind“. Wer im Jahr 2007 die neuen Herder-Titel studiert, um die Programmschwerpunkte des Verlages zu benennen, wird zwar andere Worte wählen als der Gründervater, aber letztlich fast das Gleiche sagen: Christliche Theologie, Glaubensfragen, Weltreligionen, Vorschulerziehung, Pädagogik, Familienratgeber. Themen wie diese trafen ein paar Jahrzehnte lang nicht eben auf lebhafte intellektuelle Resonanz. Spätestens mit der Studentenbewegung waren die Kirchen in ein windstilles Eck des Kulturbetriebs geraten. Populär waren allenfalls Kirchenkritiker wie Küng, Drewermann, Dorothee Sölle oder die Befreiungstheologen. Wenn ansonsten vom Glauben die Rede war, dann war Spiritualität im unverbindlichen Sinne des New Age gemeint: heute Karma, morgen Kabbala, mal Yoga, mal Tantra, erst sibirische Schamanen, dann tibetische Mönche. Das gute alte Christentum schien hoffnungslos aus der Mode gekommen, eher eine leise peinliche Erinnerung als noch eine geistige Macht. Damals hatte auch das Bücherhaus Herder keine leichten Jahre. Es wirkte ein wenig wie der Verlag der Zaghaften, Entmutigten und an den Rand Gedrängten, kurz: der Lebenshilfsbedürftigen. „Aber“, fasst Manuel Herder seine Erfahrungen jener Zeit zusammen, „die veröffentlichte Meinung ist nicht die öffentliche Meinung“. Die Bücher des Verlages hatten damals oft keine gute Presse, hatten manchmal fast gar keine Presse – aber immer Leser. Unterhalb der hochaufschäumenden Brandung der je aktuellen Debatten liegen wenig bewegte, stille Wasser, in denen auf die immer gleichen Lebensfragen nicht nach neuen, sondern nach den vertrauten Antworten gesucht wird. Antworten, die schon deshalb Sicherheit vermitteln, weil es die vertrauten sind. Und dort, bei diesen Stillen blieb Herder ein fester Orientierungsort auf dem Buchmarkt, selbst als die Kirchen nicht eben zum intellektuellen Dernier Cri zählten. Das hat sich inzwischen geändert. Seit rund fünfzehn Jahren, so berichtet Manuel Herder, nimmt die Gleichgültigkeit oder die Skepsis allem Christlichen gegenüber auch bei denen wieder spürbar ab, die sich öffentlich vernehmbar machen. Und dieser Aufwind trägt seinem Verlag in neue, lang vermisste Höhen. Ist das nun der Triumph eines Bücherhauses, das unbeirrbar den Launen des Zeitgeists getrotzt hat, oder eher der Erfolg eines Verlags, der von der allerneueste Wendung des Zeitgeist profitiert? Oder sind das die zwei Seiten der gleichen Medaille? Doch ob man jene Renaissance nun begrüßt oder bedauert, ob man sich ihr froh anschließt, oder ihr eher schulterzuckend bis kopfschüttelnd zuschaut, widersprechen kann man den Beobachtungen Manuel Herders kaum. Das blamable Ende der Hoffnungen, die der Sozialismus geweckt hatte; das lang schon grassierende Misstrauen der Aufklärung gegenüber; die Angst vor seelenloser Globalisierung und den Machtmenschen, die sie vorantreiben, dazu der fürs moderne Mediengeschäft so vorzüglich begabte Papst Johannes Paul II, und sein zumindest in Deutschland populärer deutscher Nachfolger – all das scheint zwar hierzulande die Kirchen noch immer nicht zu füllen, hat aber dem Bekenntnis zu der Kirche, zu ihren Traditionen, zu ihrer zwei Jahrtausende währenden Beständigkeit einen neuen Reiz verschafft. Vielleicht ist das kein schlechter Augenblick, um die zwei versprochenen Absätze lang vom Herderschen Verlagsgebäude zu schwärmen. Es ist genau betrachtet nicht der Stammsitz der Familie. Als Hermann Herder, der Urgroßvater Manuel Herders, es zwischen 1909 und 1912 errichten ließ, hatte der Verlag schon über hundert Jahre hinter sich gebracht. Es ist eine Kombination aus neobarockem Stadtpalais und gründerzeitlichem Druckereigebäude von der Größe eines ganzen Häuserblocks. Es gibt in Deutschland kein zweites Verlagshaus, das sich mit diesem messen könnte. Herders drucktechnische Abteilungen sind inzwischen an den Stadtrand übergesiedelt und in den entsprechenden Gebäudeteilen residiert heute ein Institut der Freiburger Universität. Doch das verbliebene Haupthaus ist imposant genug. Ein tiefrotes, vierstöckiges Schloss mit reich gegliederter Fassade und feierlichem Portal, dahinter eine großzügige, luftige Halle samt Treppe von einer schlichten Schönheit, einer prunklosen Eleganz, durch die man sich schon als Besucher gleichsam wie erhoben fühlt. Die Räume licht, die Gänge breit, die Wände massiv wie für Ewigkeiten errichtet. Mit einem Mal steht einem all das Kleinliche, das Dürftige, das nur Funktionelle der meisten zeitgenössischen Bürobauten schmerzlich klar vor Augen, weil es hier fehlt. Wer in diesem Haus an Büchern arbeitet, weiß, dass hier schon vor 100 Jahren an Büchern gleichen Sinnes gearbeitet wurde für einen Verlag, der schon vor 200 Jahren Bücher dieses Sinnes machte. Da wiegt man sich leicht in der Vorstellung, Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst. Deutlich leichter zumindest als wenn einem bei einem IT-Startup der Chef einen befristeten Arbeitsvertrag überreicht. Vielleicht verrät das Haus von Herder also, wenn man es auf richtige Weise betrachtet, schon manches über die Gründe für jenes jüngste Comeback der Kirchen, für das Herder nach Kräften wirbt. Wenn sich politische Blöcke wie der sozialistische fast über Nacht auflösen und damit eine Weltordnung stürzt, wenn eine globalisierte Ökonomie kein Stein auf dem anderen zu lassen scheint und die Wirtschaftsstrategen das als Erfolg feiern, wenn Meere und Sozialsysteme zu kippen, wenn Klima und Scheidungsraten Höchstwerte zu erklimmen drohen – dann ist es wohl kein Wunder, dass die Sehnsucht nach ein wenig mehr Beständigkeit und verlässlichen Werten zunimmt. An beidem scheint bei Herder kein Mangel. Dass gerade dieser Verlag, der so beharrlich dem einmal eingeschlagenen Weg treu bleibt, zu den Gewinnern einer Zeit zählt, in der pausenlos Flexibilität und Dynamik und Lust am Wandel gepredigt wird, ist schon eine besondere Pointe. „Ein Verlag, der nicht dient, dient zu gar nichts“, Manuel Herders Richtschnur ist klar, er sieht seinen Verlag als Dienstleistungsunternehmen, das Autoren und Lesern ihre Bedürfnisse von den Augen abliest, nicht als Vordenk-Fabrik, die zu ungeahnten Ufern aufbricht. Seine Aufgabe ist es, auf die immer gleichen Fragen die immer gleichen Antworten zu verbreiten – aber möglichst in neuem, zeitgemäßem Ton. Das war schon vor 200 Jahren so. Und, zweifellos, es hat etwas Tröstliches sich vorzustellen, dass der Herder Verlag das auch in 200 Jahren noch tun wird. P.S. Es ist tatsächlich noch viel zu tun für die Verbreitung christlicher Werte in unserer Zeit! Als ich auf der Rückfahrt von Freiburg im Zug zum Speisewagen ging, legte ich wie immer die gerade gelesenen Bücher auf meinen Sitz, damit er frei bleibt. In diesem Fall ein Band mit Erzählungen von Franziska Gerstenberg und ein Buch von Benedikt XVI, dass mir Manuel Herder geschenkt hatte. Ich tat dies voller Vertrauen, denn auf hunderten von Bahnreisen ist noch nie ein Buch weggekommen. Als ich vom Speisewagen zurückkam, war das Papstbuch gestohlen. Das Papstbuch! Wo soll das alles enden?

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