„Oh brauner Saft des Mohns“

 Literatur und Doping – anlässlich diverser Sportskandale 

Der junge Bertolt Brecht war, auch mit Blick auf den Sport, ein bedenkenloser Bewunderer von Höchstleistungen. Darüber, wie sie erzielt werden, machte er sich keine Illusionen: „Selbstverständlich ist Sport, nämlich wirklich passionierter Sport, riskanter Sport, nicht gesund. Da, wo er wirklich etwas mit Kampf, Rekord und Risiko zu tun hat, bedarf es sogar außerordentlicher Anstrengungen des ihn Ausübenden, seine Gesundheit einigermaßen auf der Höhe zu halten.“ Gerade Schriftstellern und Künstlern ist die Überlegung nicht fremd, dass die totale Hingabe an eine Leidenschaft, dass der Kampf um die Vollendung eines Könnens nur wenig mit Wohlbefinden, sehr viel aber mit Selbstzerstörung zu tun hat – und nicht selten mit angeblich oder tatsächlich leistungssteigernden Drogen. Novalis schwärmte in seinen „Hymnen an die Nacht“ vom „braunen Safte des Mohns“. Baudelaire und Verlaine ließen von Absinth bis Opium wenig Halluzinogenes aus. Georg Trakl tat es ihnen nach und starb an einer Überdosis. Klaus Mann heizte sich mit Heroin kräftig ein und kam dann schwer wieder davon los. Ernst Jünger experimentierte mit Meskalin und LSD, Walter Benjamin schwor auf Haschisch. „Den Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehnten / Den gibst Du mir“, pries Gottfried Benn das Kokain. Die Beat-Autoren von Burroughs über Kerouac bis Ginsberg gaben sich zwecks „Bewusstseinserweiterung“ auf jede erdenkliche Weise pharmazeutisch die Sporen. Aber damit waren sie nur späte Nachfahren Arthur Rimbauds, der die „Entregelung der Sinne“ zum Ziel moderner Literatur ausrief und zu diesem Zweck kein ihm erreichbares Rauschgift ungenutzt ließ. Natürlich ist derartiger Drogenkonsum mit dem heutigen Dopingkonsum einiger Leistungssportler letztlich nicht vergleichbar. Denn ein Künstler verletzt mit dem Hang zu Rauschgiften nicht die Gesetze seiner Kunst, für die nur das Ergebnis zählt. Der Sportler dagegen ist zur dopingfreien Ausübung seiner Disziplin verpflichtet – und beteuert oft genug öffentlich, „clean“ zu sein. Dopt er dennoch, verletzt er das sportliche Grundgesetz der Fairness gegenüber ungedopten Gegnern und überschreitet die Grenze vom Athleten zum Akrobaten. In Zirkus fragt keiner danach, ob bei den körperlichen Spitzenleistungen der Artisten medikamentös nachgeholfen wird oder nicht. Sport dagegen ist Spiel und Wettkampf nach zuvor fest vereinbarten Regeln, und die sind in Sachen Doping unmissverständlich. Dennoch war Selbstzerstörung im Dienste der Kunst, deren Auswirkungen sich naturgemäß nicht auf den Künstler beschränken lassen, für ethisch empfindsame Künstler quer durch die Jahrhunderte kein geringes Problem. Die Frage, ob denn ihr Werk all die Opfer, die sie sich und indirekt auch anderen aufbürden, tatsächlich wert sein könne, hat manche von ihnen in ernste Gewissensnöte getrieben. Höchstleistungen, die ohne jede Rücksicht auf die Leistungsträger zustande kommen, haben zwangsläufig etwas Inhumanes – was jenen Künstlern, denen es in ihrer Arbeit um Humanität geht, nicht gleichgültig sein kann. Nach antiken Auffassungen verkörperte der siegreiche Athlet ein Idealbild des Menschen. Ein ferner Nachklang dieser Vorstellung schwingt (neben dem hohen Unterhaltungswert von Spiel und Wettkampf) noch heute mit im schier grenzenlosen Interesse am ewigen Olympia-WM-Bundesliga-Grand-Slam-Reigen: Wir wollen im Sportler ein Beispiel, ein über uns hinausragendes körperliches Ideal menschlicher Leistungskraft sehen – und niemandem käme beim Zirkus-Akrobaten, der nicht von Wettkampf- und Anti-Doping-Regeln kontrolliert wird, so etwas je in den Sinn. Hinter dem reichlich hysterischen Rummel um die aktuelle Geständnis-Serie der Radprofis verbirgt sich auch die Hoffnung auf einen nun endlich wieder sauberen, dopingfreien Sport samt entsprechender Heroen, in denen man die Vollendung des menschlich Möglichen bestaunen möchte. Doch ihre Beichten dosieren die Betreffenden ebenso gut wie ihre Dopingmittel. Eingestanden werden fast nur Verfehlungen, die sportlich schon verjährt sind, und dazu die Einnahme von Substanzen, die offensichtlich nicht mehr zum Dernier Cri auf dem Markt der pharmazeutischen Leistungssteigerung gehören. Fachleute berichten von neuen und allerneuesten Dopingmitteln, die bei Tests nicht nachweisbar sind, vermutlich längst von vielen Spitzensportlern genutzt werden und auf die mithin nur Athleten verzichten können, die bereit sind, im Zweifelsfall nicht zur Spitze zu gehören. Ein sauberer Sport ist also, allen effektvollen Geständnis-Auftritten zum Trotz, weniger denn je in Sicht. Eine drogenfreie Kunst natürlich auch nicht. Doch der Künstler hat, selbst wenn er sich und seine Angehörigen zugrunde richtet, zumindest noch sein Werk vorzuweisen – das einen mehr oder minder großen Reiz auf das Publikum entfaltet ganz unabhängig davon, ob der Künstler nun ein hochherziges oder ein schäbiges Leben geführt hat. Im Sport ist diese Trennung zwischen Leben und Werk nicht möglich. Alle Siege, Meisterschaften, Rekorde verlieren ihren sportlichen Wert, wenn sie auf unfaire Weise mit medizinisch illegaler Hilfe errungen wurden. Das einfachste Gegenmittel wäre natürlich ein völliger Verzicht auf öffentliche Sportberichterstattung. Ohne die ungeheure Aufmerksamkeit der Medien verlöre der Sport ungehend fast alles, was ihn heute ausmacht: seine Qualitäten als weltweiter Werbeträger, den Charakter von industriell betriebener Massenunterhaltung und das große Geld der staatlichen Sporthilfe, mit dem Politiker Medaillen-Renommee für ihr Land zu kaufen hoffen. Er fiele vermutlich rasch auf das Niveau heutiger Amateursportveranstaltungen zurück, bei denen möglicherweise noch immer gedopt würde, aber mangels finanzieller Möglichkeiten auf tölpelhafte, leicht kontrollierbare Weise. Natürlich ist ein solches publizistisches Moratorium schon aus wirtschaftlichen Motiven nicht durchsetzbar. Im Grunde können alle Beteiligten, die Funktionäre, Medien, Sponsoren, Politiker, Sportmediziner, von wenigen Idealisten abgesehen, an der Aufdeckung von Dopingskandalen gar nicht sehr interessiert sein – und also werden auch nur selten welche aufgedeckt. Viel wahrscheinlicher ist, dass es im Zeitalter des kaum noch nachweisbaren Dopings mit dem Sport ebenso weitergeht wie vor der Geständnis-Welle: Man betrachtet die Siege und die Sieger wie die Happy Ends schlechter Filme – man genießt ihre emotionale Ausstrahlungskraft, aber man glaubt keinen Sekunde an sie.

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