Der Romancier Martin Mosebach erhält den Büchner-Preis 2007
Lange Jahrzehnte waren sich viele Germanisten und Literaturkritiker hierzulande ganz sicher: Der Gesellschaftsroman, zumal der einer ausgesprochen bürgerlichen Tradition, wie ihn Fontane, Thomas Mann oder Doderer geschrieben haben, sei heute passé. Wenn überhaupt noch erzählt werden könne, dann aus der Perspektive von Einzelgängern, die in möglichst lakonischem Ton von ihrem Misstrauen und ihrer permanenten Rebellion gegen jede überkommene Ordnung berichten. Der allwissende Erzähler, der mit Ironie und Mitleid ein vielköpfiges Ensemble von Figuren durch seinen Roman leitet, galt als tief versunken unterm Staub des 19. Jahrhunderts. Wenn Martin Mosebach jetzt mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird, der neben dem Goethe-Preis noch immer als die wichtigste literarische Auszeichnung des Landes gilt, ist das ein weiteres Indiz dafür, wie sehr sich die literarischen Wertungen in den letzten Jahren verändert haben, und dass jene doktrinären Vorstellungen von einst beiseite geschoben wurden. Denn seit seinem Debüt „Das Bett“ (1983) übt sich Mosebach wie kein anderer deutscher Schriftsteller der Gegenwart in der Kunst des Gesellschaftsromans. Er hat seither bis hin zu seinem jüngsten, in den nächsten Wochen erscheinenden Roman „Der Mond und das Mädchen“ ein höchst differenziertes, anschauliches und zugleich unterhaltsames Panorama bundesdeutscher Gegenwart entworfen – immer zentriert um seine Geburtstadt Frankfurt am Main, die seit dem Krieg keinen liebevolleren Porträtisten gefunden hat als ihn. Mosebachs Bücher, deren traditionelle Erzählweise sich auch heute noch in den Augen modernistischer Kritiker als konservativ, wenn nicht gar reaktionär ausnimmt, fanden lange nicht die Anerkennung, die sie verdient hatten. Die Erzähler in Mosebachs Romanen lassen die Leser nie allein, sie breiten ihren Stoff mit Ruhe und Umsicht vor ihnen aus, kommentieren ausführlich alle Handlungen, Gedanken oder Dialoge der Helden, sind deren Verteidiger, Ankläger und Richter in einer Person, und sorgen so für eine angenehme, ironische Distanz zu den Figuren, ohne sie deshalb mit Herablassung zu betrachten. Dazu hat Mosebach eine Sprache entwickelt, die im ersten Blick Moment antiquiert wirkt, denn sie orientiert sich an einem gepflegten, eleganten, distinguierten Tonfall, wie man ihn beispielsweise bei Henry James findet. Sie ist damit zunächst einmal konsequenter Ausdruck der Persönlichkeit dieses Autors, die sich mit eben diesen Begriffen beschreiben ließe. Zum anderen aber lässt er seinen gehobenen Erzählton immer wieder mit Lust auf die nicht gerade stilsicheren Alltagsgespräche mancher seiner Figuren prallen, die ganz im Jargon der Gegenwart befangen sind. Nicht zuletzt durch diese klug kalkulierten Kontraste sorgt Mosebach – der in diesem Punkt einiges von Eckhard Henscheid, dem anderen großen Prosaporträtisten Frankfurts gelernt hat – regelmäßig für herrlich komische Effekte. In „Westend“ (1992) breitet Mosebach das Schicksal der Bewohner einer fiktiven Straße im bürgerlichsten Wohnviertel Frankfurts vor den Lesern aus. Hier ist sein wohl wichtigstes literarisches Vorbild Heimito von Doderer am deutlichsten zu spüren. Der Roman holt sehr weit aus, erzählt mit epischer Gelassenheit über 800 Seiten lang und rechnet, wie Mosebach sagte, mit einer „gewissen Hingabe des Lesers“ an dieses literarische Denkmal für einen von Immobilienspekulanten und Abrissbaggern inzwischen schon in weiten Bereichen ins Jenseits beförderten Stadtteil. Die folgenden Romane Mosebachs wurden kürzer, konzentrierter, ohne sich deshalb vom Muster des realistischen Gesellschaftsromans zu entfernen. In „Eine lange Nacht“ (2000) erzählt er die Geschichte eines verbummelten, gescheiterten Studenten, der eine Importfirma für Billigkleider aus Pakistan aufbaut und sich mit einem mal in einer ihm völlig fremden sozialen Umwelt wiederfindet. In „Die Türkin“ (1999) verliebt sich ein aussichtsreicher junger Universitätsabsolvent unsterblich in eine türkische Wäscherin. In „Das Beben“ (2005) flieht ein Architekt, der feststellen muss, dass ihn seine Geliebte betrügt, zu einem entmachteten König nach Indien, dessen Palast er umbauen soll. Immer wieder führt Mosebach so in seinen Romanen vor, dass Gesellschaft heute selbstverständlich kein kulturell homogenes, geschlossenes Kastenwesen mehr ist, sondern von tiefen politischen und ethnischen Gegensätzen durchzogen wird. So sehr dieser Autor Frankfurt zum Zentrum seines Werks gemacht hat, so entschieden ist das heutige Frankfurt bei ihm zugleich ein Knotenpunkt unterschiedlichster, vertrauter oder auch fremder Einflüsse. Doch die daraus entstehenden Kontraste werden von Mosebach nie als bedrohlich, sondern fast immer als Bereicherung beschrieben. Wenn er in seinem jüngsten Roman „Der Mond und das Mädchen“ in einem Hinterhof in der Nähe des Frankfurter Bahnhofs einen jungen deutschen Banker, einen marokkanischen Hausmeister, ukrainische Hilfsarbeiter, einen äthiopischen Wirt und eine sehr vornehme syrische Koptin zum allabendlichen Schlummertrunk zusammenkommen lässt, legt sich bei ihm wunderbare Heiterkeit über die Szene. Für Mosebach sind gesellschaftlich tradierte Formen, sind soziale oder eben auch ästhetische Konventionen kein Zwang, sondern vor allem ein ordnender Halt, in einer Epoche, die nicht eben überreich gesegnet ist mit ordnenden Elementen. Nicht zuletzt aus dieser Haltung heraus wurde er, der ein entschiedener Katholik ist, zu einem Anhänger der römischen Liturgie, die er in seinem Essay „Die Häresie der Formlosigkeit“ (2002) wie ein Don Quijote gegen die Reformen durch das Zweite Vatikanische Konzil verteidigt. Doch täte man ihm unrecht, wenn man glaubte, er wolle tatsächlich das Rad der Geschichte zurückdrehen. Auf die Frage, was von der jüngst aufgeflammten Sehnsucht nach dem Bürgertum zu halten sei, antwortete er: „Ich verstehe das als ein Interesse an der Vergangenheit. Das Schema, nach dem in den letzten zweihundert Jahren die Geschichte betrachtet wurde, hieß ‚Fortschritt’. Seitdem dies Fortschrittsdenken allmählich infrage gestellt wird, beginnt man auch, nach den Kosten dieses Fortschritts und nach den Verlusten zu fragen.“