Aus Stimmen Leben machen

Ulrich Plenzdorf, der Vater „des jungen W.“ und von „Paul und Paula“ ist tot

Ulrich Plenzdorf vereinte auf verblüffend harmonische Weise vollkommen gegensätzlichen Eigenschaften. Er war ein Rebell und ein präziser literarischer Handwerker, ein Popautor und ein Preuße, ein Mann mit nüchterndem Blick für politische Tatsachen und zugleich ein unbelehrbarer Romantiker. Vor allem aber verfügte der 1934 in Berlin geborene Plenzdorf über ein Talent, dass unter deutschen Gegenwartsautoren nicht im Übermaß verbreitet ist: Er hatte die Fähigkeit, seine Figuren vor den inneren Augen der Leser lebendig werden zu lassen – und zwar nicht durch das, was sie sagen, sondern dadurch, wie sie es sagen. Er konnte einprägsame, für viele Menschen unvergessliche Charaktere formen allein aus Vokabular und Tonfall. Kein Wunder, dass Plenzdorf also Drehbuch- und Bühnenautor wurde. Er schrieb nicht nur Rollen, er schrieb Stimmen, in die Schauspieler hineinschlüpfen konnten wie in Maßanzüge. Am erfolgreichsten war er mit dieser Kunst allerdings nicht in einem Theater- oder Film-Manuskript, sondern in einem kleinen Roman: „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1973). Plenzdorf hatte das Buch zunächst für die Schublade geschrieben, denn er ahnte, dass sich die Kulturfunktionäre der DDR mit Händen und Füßen dagegen wehren würden, es zu veröffentlichen. Als aber Erich Honecker 1971 Walter Ulbricht aus dem Amt schubste und den Schriftstellern des Landes vorübergehend etwas längere Leine ließ, konnten die „Neuen Leiden“ zunächst in einer Bühnenfassung in Halle uraufgeführt und dann auch gedruckt werden. Das Buch erzählt die realsozialistische Variante der ewig gleichen, ewig wahren Geschichte des idealistischen Jugendlichen, der aufbegehrt gegen die engherzige, rationale Welt der Erwachsenen. Obwohl Plenzdorf nach eigenen Worten „rot bis auf die Knochen“ war (er stammte aus einer kommunistischen Arbeiterfamilie, die Nazis hatten beide Eltern inhaftiert, seine Mutter verbrachte ein Jahr im KZ Mohringen), hielt er dabei mit seiner Enttäuschung über den tristen Alltag der DDR nicht hinterm Berg: Sein junger Held schwärmt für Jeans und Popmusik aus dem Westen und reibt sich wund an dem kleingeistigen sozialistischen Spießertum des Landes. Der Roman ist ein Meisterwerk der Stimmimitation: Auf den Spuren von Mark Twains „Huck Finn“ und Salingers „Fänger im Roggen“ traf Plenzdorf einen schnoddrigen Ton, in dem sich Jugendliche sowohl in Ost wie in West wiedererkennen konnten. Dass es ihm aber darüber hinaus noch gelang, den verlogenen Polit-Jargon der DDR-Zeitungen, die hilflosen Platitüden der Erwachsenen und nicht zuletzt das glühende, bedrängende Deutsch aus Goethes „Werther“ – den Plenzdorfs Held über die Jahrhunderte hinweg als einen Seelenverwandten betrachtet – in diesem schmalen Roman unterzubringen, macht aus ihm ein frühes Glanzstück postmoderner Literatur, entstanden zu einer Zeit, in der in Deutschland noch kaum jemand diesen Begriff auch nur buchstabieren konnte. Das Buch wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und erreiche eine Auflage von weit über vier Millionen. Man darf es zu den wenigen Welterfolgen der DDR-Literatur zählen. Einfacher gebaut, aber emotional nicht minder wirkungsvoll war Plenzdorfs Drehbuch zu „Die Legende von Paul und Paula“ (1973), das der Regisseur Heiner Carow auf die Leinwand brachte. Der Film avancierte in der DDR zum Klassiker und wird noch heute in Berliner Kinos gespielt. Angesiedelt irgendwo zwischen Erich Segals „Love Story“ und Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ zeigt er eine junge Frau, die mit ihrer unbedingten Lebens- und Liebeslust an der Schmalspurigkeit ihrer sozialistischen Umwelt scheitert und bei der Geburt des dritten Kindes stirbt. Der Film machte Angelika Domröse zum Star und Plenzdorf zum Helden aller romantischen Seelen der DDR. Mit dem virtuosen Prosastück „kein runter kein fern“ gewann Plenzdorf dann 1978 den Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis: Er entwarf den Bewusstseinstrom eines geistig behinderten zehnjährigen Schülers, der mit anderen Jugendlichen von Ost-Berlin aus ein Konzert der Rolling Stones auf dem Dach des Springer-Hochhauses in West-Berlin hören will, und von Grenzpolizisten – unter ihnen der eigene Bruder – niedergeknüppelt wird. Moralisch schärfer, aber auch literarisch entschiedener konnte die Kritik am diktatorischen Sozialismus der DDR schwerlich ausfallen. Bereits 1976 hatte Plenzdorf den legendären Petitionsbrief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieben, und danach, was ihm kaum ein anderer Autor damals nachmachte, die SED aus Protest verlassen. Die siebziger Jahren waren Plenzdorfs große Zeit. Aber auch danach hat er, der disziplinierte Preuße, unbeirrt weitergearbeitet. Er schrieb unter anderem die Drehbücher zu Martin Walsers „Fliehendem Pferd“ und zu Hans Falladas „Trinker“ (verfilmt mit Harald Juhnke), zu Erwin Strittmatters „Der Laden“ und schließlich zu der von Jurek Becker übernommenen Fernsehserie „Liebling, Kreuzberg“ – die er in sein vertrautes Revier am Prenzlauer Berg verpflanzte und für die er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. So spektakuläre Publikumserfolge wie zuvor erzielte er nicht mehr, aber was immer er ablieferte, hatte hohe handwerkliche Qualität. Plenzdorf war, was es in der deutschen Literatur selten gibt, ein Meister des well-made-plays, des dramaturgisch wie sprachlich perfekt gearbeiteten Stückes. Er ist gestern im Alter von 72 Jahren nach langer Krankheit in Berlin gestorben.

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