Hans-UIrich Treichel erzählt von einem Mann mit zu vielen Leben
Wer etwas notiert, möchte etwas festhalten. Der Held von Hans-Ulrich Treichels neuer und sehr seltsamer Geschichte „Der Papst, den ich gekannt habe“, hat offenbar eben jenen Wunsch, denn er kauft haufenweise Notizbücher. Es gehört zu seinen schönsten Vorstellungen, etwas in diese Notizbücher hineinzuschreiben, also „einen Vers, einen Romananfang oder den Abschnitt einer Erzählung“ festzuhalten. Doch leider kommt er nie dazu. Seine Notizbücher bleiben leer. Statt Gedanken und Ideen, statt Verse und Romananfänge zu fixieren, liest er Zeitungen und verliert sich so an das bunte, flüchtige Durcheinander der Nachrichten und Eindrücke, die auf ihn einstürzen. Das klingt zunächst harmlos. Denn wie extrem flüchtig, wie schwer greifbar die Welt von Treichels Ich-Erzähler ist, davon macht man sich anfangs noch keine rechte Vorstellung. Was nicht zuletzt an der Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit liegt, mit der dieser seine imposante Bildungsgeschichte ausbreitet: Sechs Sprachen, so sagt er, spricht er fließend, „besser italienisch, als mancher Italiener“. Er spielt beneidenswert gut Klavier, hat die Werke der Weltliteratur in Originalsprachen gelesen, steigt in den besten Hotels ab und wird Jahr für Jahr zu Konferenzen nach Castelgandolfo eingeladen, wo er Papst Johannes Paul II begegnete – was dem Buch seinen Titel gibt. Doch dann beginnt die Geschichte den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es tauchen immer mehr Details auf, die nicht recht zusammenpassen. Da erzählt der Held, er habe deutsche und portugiesische Literatur parallel an zwei italienischen Hochschulen unterrichtet. Habe eine Galerie in Rom betrieben und eine zweite in New York gründen wollen. Habe aber sein Luxusleben in Rom dunkler Geschäfte wegen aufgeben müssen und deshalb in New York als professioneller Hundeausführer mit gefälschtem veterinärmedizinischen Abschlusszeugnis gelebt. Habe in Bamberg Zoologie studiert. Habe in Berlin als Sozialpädagoge eine Diplomarbeit über Wilhelm von Humboldt geschrieben und in Jamaika als Entwicklungshelfer gearbeitet. Ja, er habe noch vor seinem Architekturstudium eine Tischlerlehre absolviert. Treichels Held ist offenbar nicht nur unfähig seine Notizen festzuhalten, sondern auch seine Identität. Bei ihm ist alles derart flüchtig, dass er alle zehn bis zwanzig Seiten in ein völlig anderes Leben, ein anderes Schicksal hineinrutscht. Da er von all diesen halsbrecherischen biographischen Kurven und schier unermesslichen Bildungshorizonten mit Sinn für Selbstironie und lakonische Pointen zu berichten weiß, lässt man sich ganz gern weiter und weiter durch seinen Lebensabriss treiben – doch glaubwürdiger wird er dabei nicht. Fast hat man den Eindruck, in eine Geschichte geraten zu sein, die mit erzählerischen Mitteln etwas Ähnliches betreibt wie Max Goldt mit seinen Kolumnen. Sie hangelt sich ohne jede Rücksicht auf Plausibilität munter von Hölzchen zu Stöckchen, von Rom nach Jamaika, vom Tischer zum Hochschullehrer. So entpuppt sich das Buch, das sich zunächst wie die heitere, vom Licht Italiens durchflutete Plauderei eines souveränen Intellektuellen ausnimmt, als kleines literarisches Experiment. Treichel führt vor, wie sich mit einfachen erzählerischen Strichen der Charakter einer Figur skizzieren lässt, wie die Figur vor den Augen der Leser als ein etwas großsprecherischer, leicht täppischer Dandy Gestalt annimmt, wie diese Gestalt dann aber durch immer neu hinzugefügte biographische Behauptungen seine Konturen wieder verliert und schließlich , obwohl sie nach wie vor im gleichen, scheinbar überlegenen Tonfall spricht, in komplette Ungreifbarkeit zerfließt. Natürlich kann man diese Geschichte, wie so viele Arbeiten Treichels, auch als eine Reflektion darüber betrachten, welche Funktion das Schreiben für Schriftsteller übernimmt. Treichel hat einmal in einem Essay den um sein erstes Buch ringenden Autor, dem es einfach nicht gelingen will, seine literarischen Vorhaben aufs Papier zu bringen, als „Künstler ohne Kunst“ beschrieben. Der Held seines neuen Buches erinnert ein wenig an einen solchen „Künstler ohne Kunst“, der so gern etwas notieren und damit sowohl seinen Fantasien wie sich selbst als Autor feste Konturen geben möchte, der das aber nicht schafft, und deshalb das Gefühl nicht los wird, sein Dasein zerfließe zu völliger Konturlosigkeit. Auf den letzten Zeilen verleiht Treichel seiner Geschichte dann überraschend doch ein tendenziell realistisches Fundament, denn er deutet an, der Ich-Erzähler werde in einem geschlossenen Haus wohlverwahrt, sei also möglicherweise der unzurechnungsfähige Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt. Das ist alles in allem intelligent gemacht und hat streckenweise Charme. Doch letztlich bleibt es eine eher von Literaturtheorie als von Erzählfreude gespeiste Fingerübung. Hans-Ulrich Treichel Der Papst, den ich gekannt habe Suhrkamp, Frankfurt am Main 119 Seiten, 14,90 €
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