Maxim Billers Roman „Esra“ wird auch vom Verfassungsgericht verboten – und muss noch einmal vor Gericht

Auf den ersten Blick wirkt das Urteil des Verfassungsgerichtes wie ein Teilerfolg der Literatur. Genauer betrachtet ist dieser Teilerfolg allerdings von einer totalen Niederlage für die Kunstfreiheit kaum zu unterscheiden. Das Verfassungsgericht akzeptiert das Urteil nicht, mit dem 2005 der Bundesgerichtshofes (BGH) den Roman „Esra“ von Maxim Biller endgültig verbot und zwingt die Richter des BGH, sich noch einmal mit dem Fall zu befassen. Doch dass der Roman bei der neuen Verhandlung eine Chance bekommen könnte, dem Verbot zu entgehen, ist fast ausgeschlossen. Sicher ist nur: Das Urteils des Verfassungsgerichtes wird für die deutsche Literatur von einschneidender Bedeutung sein. Zur Chronologie der Ereignisse: 2003 veröffentliche der Schriftsteller Maxim Biller den Roman „Esra“. Zwei Klägerinnen glauben, sich in Figuren des Buches wieder zu erkennen. Sie sahen sich deshalb in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt und ließen die Auslieferung des Romans verbieten – und der BGH gab ihnen Recht. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtes bestätigt dieses Urteil nun im Falle einer der beiden Klägerin. Ihre Intimsphäre werde durch das Buch verletzt, da die Romanfigur, die sie für ein Porträt von sich halte, beim Sex dargestellt werde. Die Figur aber, in der die andere Klägerin sich zu erkennen meint, wird vom Ich-Erzähler des Romans zumeist nicht direkt beschrieben, sondern nur durch Erzählungen fremder Auskunftspersonen. Das macht die Figur gleichsam noch „fiktiver“. Aus diesem Grund verlangen die Verfassungsrichter, wie es in den Mitteilungen ihres Gerichtes heißt, vom BGH einen Nachweis, „dass dem Leser vom Autor nahe gelegt wird, bestimmte Teile der Schilderung als tatsächlich geschehen anzusehen, und dass gerade diese Teile eine Persönlichkeitsverletzung darstellen.“ Die Entscheidung ist sehr knapp ausgefallen. Von den acht Verfassungsrichtern des Ersten Senates bestanden immerhin drei auf ihrem Recht, in der Urteilsbegründung ihre abweichenden Überzeugungen zu Protokoll zu geben. Christine Hohmann-Dennhardt und Reinhard Gaier, aber auch Wolfgang Hoffmann-Riem betonen in ihren Stellungnahmen ausdrücklich die Eigengesetzlichkeit der Literatur, die nicht als simpler Abklatsch der Realität betrachtet werden darf. Aus ihrer Sicht ist es evident, dass der Roman „weder Erfahrungswelten reproduziere noch Autobiographisches darstelle, sondern einer literaturästhetischen Programmatik folge“ und also eine erzählerische „Konstruktion sei“. Bei einer kunstspezifischen Betrachtung, wie sie die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit verlangt, könne deshalb von einer Persönlichkeitsrechtsverletzung keine Rede sein. Die Entscheidungsgründe dieser drei Richter wären auf einen Freispruch erster Klasse für den Roman hinausgelaufen. Sie entsprechen letztlich der literaturwissenschaftlichen und philosophischen Sicht des vertrackten Verhältnisses zwischen Wirklichkeit und Kunst, zwischen Fakten und Fiktionen. Der zentrale Konflikt, in dem sich auch die Verfassungsrichter offenkundig nicht einigen konnten, läuft auf die Frage hinaus, ob und unter welchen Umständen Romanhelden als Abbilder von realen Personen zu betrachten sind, mit denen sie bestimmte äußere Merkmale oder Angaben zur Biographie teilen. Die Position der Literaturwissenschaft dazu ist sehr klar und weitgehend einhellig. Wenn eine Figur Teil einer vom Autor geformten, nach künstlerischen Gesichtpunkten durchgearbeiteten Geschichte ist, kann man sie nicht mit einer realen Person gleichsetzen. Sie gehört in einen fiktiven Zusammenhang, der eigenen Gesetzen folgt. Wer glaubt, sich in einer solchen Figur wieder zu erkennen, sitzt einem Missverständnis auf, das man nicht der Literatur, sondern dem Leser zur Last legen muss. Allerdings wurden erst vom Verfassungsgericht entsprechende Stellungnahmen von Literaturfachleuten eingeholt, die anderen Instanzen hielten das für überflüssig. Spätestens hier wird der Skandal dieses Prozesses, wird die einseitige Bevorzugung des Persönlichkeitsrechtes auf Kosten der Literaturfreiheit offenkundig. In allen Urteilen nämlich wurde aus der Übereinstimmung bestimmter biografischer Daten der Romanheldinnen mit denen der Klägerinnen auf die Identität zwischen fiktiven Figuren und realen Personen geschlossen. Die Richter gehen – soweit sie nicht Sondervoten formulierten – damit nicht nur entschlossen an den Erkenntnissen der Literaturwissenschaft vorbei, sondern sie löschen die Freiheit der Kunst letztlich aus. Denn sobald Ähnlichkeiten zwischen fiktive Figuren und realen Personen zu entdecken sind, behandeln sie den Roman nicht als Kunstwerk, sondern als Tatsachenbericht. Wenn Literatur aber, sobald es zu einem Konflikt kommt, de facto als Tatsachenbericht behandelt wird, hat es keinen Sinn mehr von spezifischer Literaturfreiheit zu reden. Was werden die Folgen für die Literatur hierzulande sein? Jeder Schriftsteller greift beim Schreiben auf seine Erfahrungen zurück. Das war bei Goethe so und bei Proust, bei Fontanes „Effi Briest“ und Thomas Manns „Buddenbrooks“. Zu allen Zeiten glaubten deshalb reale Personen, sich in manchen Werken wieder zu erkennen. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes – das vom BGH nüchtern betrachtet nur verlangt, noch einmal zu prüfen, ob Billers „Esra“ auf Grund der Einsprüche nur einer oder aller beider Klägerinnen verboten bleiben soll – werden sich Schriftsteller in Deutschland sehr genau überlegen müssen, ob und in wie weit sie ureigene Erlebnisse literarisch verarbeiten können. Autoren von Fantasy oder historischen Romanen werden kaum juristische Einsprüche fürchten müssen. Doch wer Gegenwartsromane schreibt, die aktuelle Milieus und authentische Verhaltensweise schildern, der riskiert von nun an mehr als früher. Denn wenn nur wenige nahe Bekannte auf die Idee verfallen, Romanfigur und reale Person gleichzusetzen, genügt das jetzt für eine Verbot. Auch die finanziellen Risiken sind größer geworden: Die „Esra“-Gegnerinnen haben inzwischen eine Schadenersatzklage gegen Biller in Höhe von 100.000 Euro eingereicht. Die Chancen, damit erfolgreich zu sein, stehen nunmehr gut. In diesem Fall dürfte dann künftig jeder, der sich in einem Roman wieder erkennen sollte (oder möchte), mit derartigen Schadenersatz-Prämien rechnen, falls er klagt. Verblüffend ist, mit welchem Desinteresse der Literaturbetrieb das „Esra“-Verfahren an sich vorüberziehen ließ. Erst nach dem BGH-Urteil, also als das Kind längst im Brunnen war, schlugen Schriftstellerorganisationen oder einzelne Autoren halblaut Alarm. Dabei ist Literaturfreiheit keine ein für allemal errungene Selbstverständlichkeit. Sie kann Stück für Stück verloren gehen. Sie braucht, wie der Prozess gegen „Esra“ zeigt, ihre Verteidiger. Sie braucht Fürsprecher, die bereit sind, die Literatur gegen die simplifizierende Betrachtungsweise durch viele Leser (auch in Richterroben) in Schutz zu nehmen. Hätten sich noch zwei Verfassungsrichter überzeugen lassen, die Welt der Literatur sähe anders aus.

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