Vor 60 Jahren erblickte die Gruppe 47 am Bannwaldsee das Licht der Welt. Eine Ortsbesichtigung
Am Säuling hat sich nichts geändert. Auch nicht am Tegelberg oder am Hennenkopf. Was sind schon sechzig Jahre für Felsriesen wie sie. Ansatzlos steigen sie aus den Feldern um den Bannwaldsee auf fast zweitausend Meter. Auch an St. Coloman, der Wallfahrtskirche, dürfte sich wenig verändert haben. Unwirklich schön steht sie in ihrer barocken Pracht samt Zwiebelturm inmitten der sattgrünen Wiesen vor dem Alpenhorizont. Aber sonst. Sonst ist nichts wie damals. Vermutlich lässt sich Vergänglichkeit nicht eindringlicher spürbar machen als durch die Verwandlung eines einst wichtigen, vielleicht historischen Ortes in einen Campingplatz. Hier haben selbst die Häuser Räder. Hier ist alles beweglich, flüchtig, immer auf dem Sprung, hier bleibt nichts. Vielleicht ist das ja das passende architektonische Symbol für eine Epoche, die Flexibilität, Tempo, eifrigen Wandel zu ihren Lieblingstugenden zählt: der Campingplatz. In einem der wenigen festen Häuser hier, das sich dreißig Meter vorm Bannwaldsee unter sein Dach duckt wie unter einen zu großen Hut und das heute von Caravans umzingelt ist, kamen vor sechzig Jahren acht Männer, zwei Frauen und drei Paare für ein Wochenende zusammen, um sich aus ihren Manuskripten vorzulesen. Und um über das Gelesene zu reden. Mehr nicht. Bald nannten sie sich Gruppe 47, verabredeten sich wieder in wechselnden Besetzungen an wechselnden Orten – auch sie beweglich, immer auf dem Sprung. Ihre Treffen wuchsen in wenigen Jahren zu der dominierenden literarischen Institution der Bundesrepublik heran. Der Aufstieg Heinrich Bölls begann mit dem Preis der Gruppe, der unbekannte Günter Grass las vor ihr aus seiner „Blechtrommel“ und war am Tag danach ein Schriftsteller mit Weltruhm. Die Debatten über die Gruppe finden bis heute kein Ende. Sie wird gefeiert und verteufelt, mal ist sie eine der unersetzlichen Pflanzschulen demokratischen Geistes in der jungen Bundesrepublik, mal eine Versammlung unbewusst antisemitischer Alt-Landser mit Neigung zum literaturpolitischen Machiavellismus. Auch das Hin- und Herwogen unserer Meinungen legt beachtliches Tempo vor. „Unterkunft für 10 Personen ab 6.September reserviert“, telegrafierte Ilse Schneider-Lengyel am 25. August 1947 an Hans Werner Richter. Sie war Lyrikerin, Fotografin, Ethnologien und vor den Nazis emigriert. Zurückgekehrt suchte sie im Nachkriegsdeutschland wieder Anschluss an den Kulturbetrieb. Sie schrieb für Richters „Ruf“ und als der die Zeitschrift „Skorpion“ plante und künftige Mitarbeiter zu einer Art gemeinsamer Lektoratssitzung zusammenholen wollte, bot sie ihm ihr Haus am Bannwaldsee als Treffpunkt an. Sie hatte in den zwanziger Jahren bei dem Bauhaus-Lehrer Lászlo Moholy-Nagy studiert und in Paris einige der großen Surrealisten kennengelernt. Manche ihre Gedichte quollen über vor surrealistischen Bildern – jede Zeile ein Seziertisch, auf dem sich Nähmaschine und Regenschirm begegnen. Sie muss sich empfindlich fremd gefühlt haben, zwischen den jungen Leuten, die ihr da ins Haus kamen und auf Hitlers Schulen von der Moderne nichts gehört hatten. Niemand wird behaupten wollen, Hans Werner Richter, der zum unumstrittenen Spiritus movens, zum „Chef“ und „Häuptling“ der Gruppe wurde, habe je einen objektiven Blick auf ihre Mitglieder gehabt. Aber zumindest deren Anfänge hat er nie beschönigt. Später nannte er die Autoren, die er an den Bannwaldsee eingeladen hatte, „literarische Anfänger, Neulinge in der Kunst des Schreibens“. Unter dem Vorgelesenen gab es „keine Meisterwerke zu entdecken. Es sind Versuche, Anfänge, dilettantisch oft, aber hin und wieder auch Talent, ja Begabung verratend.“ Sofort jedoch erblickte das später legendäre Ritual der Gruppe das Licht der Welt: Die Lesung auf dem gefürchteten „Elektrischen Stuhl“ samt unmittelbar folgender, wenig schonungsvoller Stehgreif-Kritik, wie sie bis heute im Klagenfurter Wettbewerb um den Bachmann-Preis fortlebt. „Es gibt“, erinnerte sich Richter, „keine Zwischenrufe, keine Zwischenbemerkungen. Neben mir auf dem Stuhl nimmt der jeweils Vorlesende Platz. Es ist selbstverständlich, hat sich so ergeben. Nach der ersten Lesung – es ist Wolfdietrich Schnurre – sage ich: ‚Ja, bitte zur Kritik. Was habt ihr dazu zu sagen?’ Und nun beginnt, was keiner in dieser Form erwartet hatte: der Ton der kritischen Äußerungen ist rau, die Sätze kurz, knapp, unmissverständlich. Niemand nimmt ein Blatt vor den Mund.“ Zum Rätsel, zum Wunder der Gruppe 47 gehört, wie es ihr gelang, aus diesen zufälligen, dürftigen Anfängen zur machtvollsten Vereinigung des bundesdeutschen Literaturbetriebs zu werden. Bis heute hat keine Akademie, kein Schriftstellerverband oder PEN-Club je wieder ihre Ausstrahlungskraft erreicht. Hans Werner Richter, dieses – wie Grass es nannte – „Genie der Freundschaft“, verstand es, eine nachwachsende Elite von Autoren und Kritikern an die Gruppe zu binden. Grass, Böll, Schnurre, Alfred Andersch, Günter Eich, Ilse Aichinger, Martin Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki, Joachim Kaiser. Natürlich gab es in diesen ersten Nachkriegsjahrzehnten auch eine deutsche Literatur jenseits der Gruppe 47. Die großen Emigranten, Thomas Mann, Döblin, Brecht hatten sie als Podium nicht nötig und hätten sich eher die Zunge abgebissen, als für sie zu lesen. Auch jüngere Autoren wie Max Frisch oder Dürrenmatt machten ohne sie ihren Weg. Arno Schmidt weigerte sich, vor der Gruppe aufzutreten, obwohl Gerüchte umgingen, er stünde als ihr Preisträger so gut wie fest: „Ich eigne mich nicht als Mannequin.“ Man war für die Gruppe, man war gegen sie, wichtige Kritiker wie Friedrich Sieburg bekämpften sie. Aber gleichgültig ließ sie niemanden. Sie polarisierte die gesamte Buchbranche und rückte schon deshalb immer mehr in deren Mittelpunkt. Zu den Erfolgsgeheimnissen der Gruppe zählt das Desaster, das die Nazis hinterlassen hatten. Nie zuvor waren Land und Kulturbetrieb so gründlich zerstört, nie war das Bedürfnis nach moralischer Wiederaufrichtung so groß. Doch in zwölf Jahren Diktatur hatte sich das alte literarische Leben desavouiert, es gab keine kulturelle Metropole mehr, keine eingeübten Mechanismen, über die Autoren zu Verlegern fanden, keine Orientierungspunkte, an denen Kritiker ihr Urteil hätten schärfen können. Da bot sich die Gruppe als Treffpunkt an, als Drehscheibe, als luftiges Wanderzentrum, in dem der Literaturbetrieb sich neu finden und erfinden konnte. Wie für Gründerzeiten üblich, wurden auch in dieser dann Karrieren gemacht, die von nachgeborenen Autoren bestaunt, aber wohl nicht eingeholt werden können. In kurzer Zeit wurde ein mediales Aufmerksamkeits-Kapital aufgehäuft, das sich bis heute in vielen Fällen recht mühelos verzinst. Der Unmut mancher jüngerer Schriftsteller über die Gruppe 47 sollte also niemanden verwundern. Unterschiedlicher können Autoren-Generationen kaum sein: Die ältere hatte aus dem Krieg einen ungeheueren Erfahrungsdruck mitgebracht, aber oft wenig literarische Bildung. Für die heute jungen Autoren hält das Leben gewöhnlich alle literarischen Bildungschancen bereit, doch nur selten Erfahrungen, die sich in ihrer Dringlichkeit mit denen der Alten messen können. Zum ideologischen <em>think tank</em> wollte Richter seine Gruppe nie machen. Er wachte bei den Tagungen eisern darüber, dass sie jede politische Festlegung vermied – denn das hätte sich als Sprengsatz erweisen können, der die 47er auseinander riss. Doch von Beginn an herrschte in ihren Reihen ein eher sozialistischer als sozialdemokratischer Konsens, und nachdem die Gruppe zur literarischen Großmacht aufstieg, beherrschte dieser Konsens lange auch das Klima der Buchbranche. Die Autoren, die sich in Adenauers Deutschland selbst gern als Nonkonformisten bezeichneten, hatten einen neuen geistigen Konformismus geboren, der erst in den neunziger Jahren auseinanderzubröckeln begann. Das Ende lässt etwas von Größe und Geist der Gruppe erkennen. Ungezählte Kulturinstitutionen leben fort und fort, obwohl ihre Funktion längst erfüllt und ihre Zeit vorbei ist. Richter dagegen rief, nachdem studentenbewegte Demonstranten 1967 gegen ein Gruppentreffen protestierten, seine Autoren nicht wieder zusammen. Einige von ihnen hatten sich gleich eilfertig mit den Demonstranten solidarisiert. Es war überdeutlich, dass der allmähliche Abstieg der Schriftsteller als öffentliche Orientierungsfiguren und der Aufstieg anderer Vordenker begonnen hatte. Da die Gruppe in diesem Augenblick die Kraft zu einem selbstgezogenen Schlussstrich fand, vermied sie, zu einem Schatten ihrer selbst zu verkümmern und wurde damit endgültig legendenfähig. Ilse Schneider-Lengyel, in deren Haus alles begann, blieben zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Jahre. Sie hatte an den Treffen bis 1950 und ein letztes Mal 1957 teilgenommen. Ihr Gedichtband „september-phase“ erschien 1952, doch gelang es ihr nicht, sich wieder einzufädeln in den literarischen Betrieb. Sie lebte allein, rauchte viel, schrieb wenig und starb 1972 in einer psychiatrischen Klinik. Die Leute vom Bannwaldsee haben ihr eine Woche vor dem 60. Gründungsjubiläum der Gruppe eine kleine Erinnerungsfeier im Festzelt ausgerichtet. Der 2.Bürgermeister, ein massiger Mann mit beiden Beinen sehr fest auf dem Boden, erinnert sich an sie, die oft auf dem Motorrad durch den Ort fuhr, als er noch ein Bub war. Danach spielt ein Quartett, dann werden einige ihrer Gedichte gelesen, kantige, spröde Verse, die sich aneinander reiben wie an Sandpapier. Dazu trommelt Regen aufs Zeltdach, auf die Caravans ringsum und auf das kleine Haus am See mit seinem großen Dach.
Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 6. September 2007