Gespräch mit Martin Mosebach über die Pläne zur Umgestaltung der Frankfurter Altstadt, den modernen Städtebau und das rituelle Krönungsmahl den deutschen Kaisers über einem offenen Laden sowie die Sicherheit, dass jeder Zustand, auch der Allererfreulichste, ein Übergangszustand ist

Der Romancier Martin Mosebach, der im Herbst 2007 den Büchnerpreis erhielt, ist in Frankfurt am Main geboren, lebt dort und hat seine Heimatstadt unverkennbar zum Zentrum seiner literarischen Welt gemacht. 2007 entschied der Frankfurter Magistrat, das zwischen Dom und Römer gelegene Technische Rathaus der Stadt abzureißen, um die im und nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörte Altstadt zumindest in Teilen seiner historischen Gestalt wiederanzunähern. Uwe Wittstock sprach mit Mosebach über diese umstrittenen und nicht zuletzt kostspieligen Pläne, Frankfurt in seinem Zentrum ein neues Gesicht zu geben, das seinem früheren ähnelt.

Uwe Wittstock: Das Technische Rathaus Frankfurts soll, vor drei Jahrzehnten erst errichtet, jetzt abgerissen werden, obwohl keine technischen Baumängel bestehen. Ist das in Ihren Augen nötig? Martin Mosebach: Das Areal zwischen Dom und Römer machte vor seiner Zerstörung den Kern der Frankfurter Altstadt aus. Die Altstadt war ein Meer aus schmalen, hoch gebauten, eng aneinander gepressten Häusern mit spitzen Giebeln, aus dem der Dom riesenhaft herausragte. Der Frankfurter Dom ist gemessen an anderen deutschen Domen ein bescheidenes Bauwerk. Aber der Domturm ist ein architektonisches Meisterwerk. Dem Architekt Madern Gerthener ist da Großes gelungen. Das zweite bedeutende Gebäudeensemble ist der Römer. Diese beiden architektonisch wichtigen Orte müssen zur Geltung gebracht, müssen eingerahmt werden. Dazu war das Häuser-Gewimmel bestens geeignet. Wittstock: Eine solche adäquate Einrahmung ist nach dem Krieg nicht wieder gelungen? Mosebach: Der moderne Städtebau hat dafür bis heute keine angemessene Lösung gefunden. Das moderne Bauen denkt nicht in dem engen mittelalterlichen Kataster – und kann in ihm nicht denken. Deshalb ließ man dieses Gebiet auch nach dem Krieg lange brach liegen. Dann entschloss man sich, dort das völlig überproportionierte Rathaus hinzusetzen, das den Dom seiner Wirkung beraubt. Ganz egal wie man die Qualität dieses Gebäude beurteilt: Es ist ein gewaltiger Elefantenkörper neben dem Dom. Das neu entstandene Areal ist nie von der städtischen Bevölkerung angenommen worden, es ist eine tote Welt geblieben. Das war keine Lösung, die auf Dauer Bestand haben konnte. Deshalb ist es sehr gut, wenn dieses Gebäude jetzt wegkommt.
Wittstock: Was soll dort stattdessen entstehen? Halten Sie es für richtig, wenn das Areal historisierend rekonstruiert wird?
Mosebach: Frankfurt ist eine Stadt der halben Sachen oder der Kompromisse. Das gehört seit je zu ihr. Hier wurde nie eine ästhetische Linie radikal durchgefochten, es wird vielmehr so lange diskutiert, bis alle Meinungen berücksichtig sind und der groß gemeinte ästhetische Wurf sehr klein gerät. Man überlegt gegenwärtig, einige Häuser der Altstadt, deren Pläne man noch hat, zu rekonstruieren und um sie herum Häuser nach dem alten Kataster zu bauen. Die sollen der Silhouette der Altstadthäuser nachempfunden sein, aber den Gesetzen moderner Architektur gehorchen. Ich halte das für sehr problematisch. Ich fürchte, man wird so zu etwas kommen, dass schnell veraltet und dann sehr unansehnlich ist. Wittstock: Ist denn die Rekonstruktion von Gebäuden, die vor sechzig Jahren zerstört wurden, nicht ebenfalls ästhetisch problematisch? Mosebach: Es geht hier doch nicht um solche großen, erhabenen Architekturfragen wie: Darf man Vergangenes rekonstruieren, oder löscht man damit die Erinnerung an die historischen Ereignisse aus, die zur Zerstörung führten. Hier geht es einfache Bürgerhäuser, nicht um architektonische Meisterwerke wie die Frauenkirche in Dresden. Diese Altstadthäuser sind Bestandteil des Rahmens von Dom und Römer. Wenn man einen alten Sessel hat, dem eine Lehne abgebrochen ist, kommt niemand auf die Idee, statt der Lehne vom Polsterer ein Erinnerungszeichen der Zerstörung an dieses Möbel anfügen zu lassen. Nein, man sorgt dafür, dass der Sessel repariert wird, damit er als Ganzes wirkt und seine Funktion erfüllt. Wittstock: Zwischen Dom und Römerberg verlief der sogenannte „Krönungsweg“ der Deutschen Kaiser. Sie zogen auf ihm während ihrer Krönungszeremonie zum Römer. Heute ist dort auf der einen Seite das Rathaus, auf der anderen liegen antike Fundamente zur Besichtigung frei. Wie kann man mit denen umgehen, wenn man der Altstadt wieder Züge ihrer alten Gestalt geben will? Mosebach: Diese Fundamente, das haben andere schon sehr schön formuliert, sind nicht das Forum Romanum. Es sind ein paar Mäuerchen und es ist sehr interessant, dass sie dort sind. Aber sie werden auch gut in einem Keller aufbewahrt sein. Man soll sie um Gottes Willen nicht zubetonieren, sondern bei angemessenem Zugang überbauen. Wenn wir durch eine Rekonstruktion des Altstadtcharakters wieder eine Ahnung bekommen von der Gestalt des „Krönungsweges“, wird das historisch äußerst reizvoll sein. Dies ist ein wesentlicher Ort deutscher Geschichte und der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches. Die allergrößte Zeremonie des Reiches zog nicht über irgendeine Camps Elysee, irgendeine Prachtstraße, sondern über ein enges Sträßlein. Das ist in meinen Augen ein ergreifendes Zeugnis für den Charakter dieses Reiches. Es herrschte ein ganz anderes Verhältnis zur Repräsentation des Reiches, das zersplittert war, das kein Zentralstaat war, und in dem man mit den Gegebenheiten der Bürgerstadt Frankfurt vorlieb nehmen musste. Dort hatte man bei einigen Häusern, die nebeneinander standen, die Zwischenwände herausgebrochen und nannte das so entstandene, gründlich verbaute Gebäude Römer. Unten war eine große Lagerhalle. Wenn der Kaiser sein rituelles Kaisermahl zu sich nahm, fand das quasi über einen offenen Laden statt. Alles war nur eine Improvisation. Wittstock: Haben Sie keine Angst, dass durch eine Rekonstruktion der Altstadt entlang des Krönungsweges eine Art Disney-Frankfurt entsteht? Mosebach: Mit dem Wort Disney geht man sehr großzügig um. Wer schon einmal in einem Disney-Park gewesen ist, weiß, dass es dort anders aussieht, als wenn historische Gebäude von anspruchsvollen Restauratoren wiedererrichtet werden. Den Disney-Vorwurf könnte man in Frankfurt auch gegen das Goethe-Haus erheben, das bis auf die Grundmauern abgebrannt war und – glücklicherweise – wieder aufgebaut wurde. Die Vergleichsgröße sollte nicht ein Disney-Park sein, sondern Warschau. Die Altstadt dort hat mir einen großen Eindruck gemacht. Natürlich, dem Warschauer Königsschloss sieht man an, dass es eine Rekonstruktion ist. Aber die großen Plätze mit ihren Bürgerhäusern sind gelungen.
Wittstock: Wird durch solche Rekonstruktionen nicht Geschichte – genauer: das düsterste Kapitel deutscher Geschichte – architektonisch beschönigt und überpinselt?
Mosebach: Es kommt doch nur darauf an, den Domturm, das beste Stück Frankfurter Architektur, der wie eine Glucke über der Altstadt saß, zur Geltung zu bringen. Um mehr geht es hier nicht. Den Krieg vergessen machen, das können wir in Frankfurt sowieso nicht. Die die Konstabler Wache, die Berliner Straße, die Kurt-Schumacher-Straße, all diese Unorte werden uns an den Krieg erinnern, so lange wir in dieser Stadt leben. Noch in einem Jahrhundert wird man ihr ansehen, dass ihr mal eine Katastrophe geschehen ist. Sieben Altstadthäuschen können einen Krieg nicht weglügen.
Wittstock: Wieso wurde gerade in Frankfurt so konsequent mit der Tradition gebrochen und vieles, was der Krieg verschonte, noch nachträglich zerstört?
Mosebach: Es ist leichter eine Residenzstadt wie München wiederaufzubauen, die am grünen Tisch entstanden ist. Etwas anderes ist es, eine gotische Altstadt wieder herzustellen, wie sie in Frankfurt über Jahrhunderte gewachsen ist. Bei einem solchen Organismus kann man nie sagen, welches der zu bewahrende Endzustand war, weil sich alles immerfort weiterentwickelte. Das Fachwerk vieler Häuser zum Beispiel, das heute bei den Rekonstruktionsplänen oft auf Befremden stößt, war über Jahrhunderte gar nicht zu sehen. Wenn man alte Kupferstiche oder Fotos betrachtet, sieht man, dass dieses Fachwerk verputzt war oder mit Schieferschindeln bedeckt, weil man Fachwerk als mindere Bauform empfand und den Anschein fester Steinhäuser erreichen wollte. Mein Vorschlag wäre, die Häuser als Fachwerk wieder zu errichten, dann aber zu verputzen, so wie sie um 1930 aussahen. Sie würden dann in viel geringerem Maße als Rekonstruktion wirken, und sie könnten ihrer dienenden Funktion als Rahmen für Dom und Römer besser gerecht werden.
Wittstock: In ihrem jüngsten Roman „Der Mond und das Mädchen“, der in Frankfurt spielt, deuten sie an, die Stadt habe fast jedes spezifische Aroma verloren: „Ausgesogenheit konnte man es nennen“, schreiben Sie, einen „vollständigen Verlust von Hall und Timbre“. Wird die Wiederherstellung der Altstadt daran etwas ändern?
Mosebach: Nein, daran wird man bestimmt nichts ändern können. Diese Art metaphysischer Öde, die ich spüre, wird man mit solchen Maßnahmen nicht in den Griff kriegen. Die Ursache dafür ist nicht eine Hässlichkeit, die man durch architektonische Reparaturen beseitigen könnte. Diese Öde liegt meinem Empfinden nach über der ganzen Stadt. Auch die wenigen Gebäude, die den Krieg überstanden haben, wirken seltsam neu. Die feinen Wurzelgeflechte, die ein Haus, eine Straßen, einen Winkel mit anderen Epochen verbinden, die sind hier gekappt. Das hat sicher viele Gründe. Darunter wohl auch den, dass ein relativ kleiner Stadtorganismus sich zu einer Finanzmetropole wandelte, in der viele Menschen nur sehr vorübergehend leben, bevor sie dann in andere Städte weiterziehen. Das heimatliche Element, das Beharrende, das typisch Frankfurterische ist fast nicht mehr vorhanden.
Wittstock: Aus diesem nomadenhaften Hin und Her vieler Menschen bildet sich aber auch etwas Neues. Das beschreiben Sie ebenfalls in ihrem neuen Roman.
Mosebach: Es bildet sich immer etwas Neues. Man kann mit großer Sicherheit sagen, dass jeder Zustand, auch der Allererfreulichste, ein Übergangszustand ist. Ich will deshalb gar nichts bejammern. Ich will nur feststellen, dass diese Stadt Voraussetzungsloser, Geschichtsloser ist als viele andere. Umso wichtiger wäre es, historische architektonische Haltepunkte wiederherzustellen.

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