Provokation macht Spaß

Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf über Puppenspieler, die nobilitierende Kraft des Gedichtes und expressionistische Weltuntergangsstimmung sowie den Drang nach Lebensgenuss

Uwe Wittstock: Ihre Familie mütterlicherseits ist kirchlich grundiert, ihr Großvater war Pastor, ihr Patenonkel der Theologe Karl Barth. Ihr Vater dagegen war Puppenspieler. Welcher Erbteil hat sich bei Ihnen stärker durchgesetzt? Der Gläubige oder der Künstler? PETER RÜHMKORF: Man könnte meinen, dass sich bei mir der Künstler, der Artist durchgesetzt habe, auch wenn meine Erziehung religiös gestimmt war. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie ich als kleiner Junge den mir oktroyierten Glauben verlästert habe. Den Anlass dafür habe ich vergessen. Bis heute halte ich jede Religion für Kokolores. Aber irgendwo sitzt da in mir noch ein Wurm, ein theologischer Wurm. Ich habe so ein weltliches Evangelium, in das der Humanismus sehr gut mit hineinpasst und auch Teile des Sozialismus, und ich spüre offenkundig den Drang, dieses Evangelium zu verkünden. Sie sind dann ohne Vater aufgewachsen. Haben Sie darunter gelitten, waren Sie ein Außenseiter?
RÜHMKORF: Ja, es war eine Art von Außenseitertum, in dem ich mich aber nicht gefährdet sah. Ich machte damals immer Witze über die Nazis, HJ-Witze. Auf Festabenden habe ich mich zum Beispiel in Gedichten mich über unsere HJ-Führer lustig gemacht, aber aus irgendeinem Grund nahmen die das sogar geschmeichelt hin. Die Gedichtform nobilitierte meine Witze, sie fühlten sich erhoben, weil sie in ein Gedicht aufgenommen wurden. Deshalb hatte ich keine Angst, ich stand unterm Schutz des Gedichts. Ließ man Sie es spüren, dass Sie ein Außenseiter waren?
RÜHMKORF: Ich war kein Außenseiter, wenn man sich darunter einen Einzelgänger vorstellt. In unserer Klasse hatten wir eine Gruppe, die bestand aus fünf Leuten. Wir hatten von den Jugendgruppen gehört, die uns ungeheuer in den Bann zogen, von der Bismarck-Bande, von den Edelweiß-Piraten. Wir fünf sammelten die Flugblätter der Engländer und Amerikaner und hörten Feindfunk. Das war uns ein Genuss, aber es war mordsgefährlich. Es wundert mich bis heute, dass davon nichts durchgedrungen ist. Wir fünf nannten uns „Die Stibier“. Stibium ist ein chemisches Element und wird auf Deutsch Antimon genannt. Antimon übersetzten wir uns mit: gegen den Alleinherrscher. Die chemische Abkürzung von Stibium „Sb“ trugen wir auf kleinen gelb-weißen Schnallen unterm Hemdkragen. Gelb-weiß, denn das waren die Hannoveranischen Farben, was wir als Anspielung auf die alte Verbindung Hannovers zu England verstanden.
In den fünfziger Jahren gründeten Sie zusammen mit ihrem Freund Werner Riegel eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Zwischen den Kriegen“.
RÜHMKORF: Schon auf der Schule hatten wir so eine handgemachte Zeitung, die hieß „Nuntius Athenaei“. Nach dem Krieg nannten wir sie „Der lachende Georg“, denn St. Georg war der Schutzpatron unserer Schule. In der haben wir dann so richtig gegen die nazi-gebliebenen Autoritäten vom Leder gezogen. Danach wollten wir das noch einmal toppen und nannten sie „Die Pestbeule“. Mit Klaus Rainer Röhl, einem Schulkameraden, machte ich dann Kabarett und als Student mit dem Freund Werner Riegel wieder eine Zeitschrift. Literaturzeitschriften trugen damals so erneuerungssonnige Namen wie „Die Wandlung“ oder „Aufbau“ oder „Aussaat“. Das fanden wir viel zu brav und entschieden uns deshalb für „Zwischen den Kriegen“. Den einen hatten wir gerade hinter uns, und in den Zeitungen war unentwegt die Rede vom Koreakrieg, vom Kalten Krieg. Allenthalben war mit brandroten Lettern an den Horizont geschrieben das Wort Krieg. Der 8. Mai 45 lag nicht weit zurück und schon ging es wieder los. Von Wandlung keine Spur. Werner Riegel, der schon im Krieg expressionistische Bücher gesammelt hatte, wollte unsere Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ nennen. Da sagte ich, mein Lieber, das geht nicht, die Anti-Nazi-Kirche um Karl Barth, Thurneysen, Bultmann hatten schon mal eine Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“. Außerdem klang mir das viel zu edel, also nannten wir unsere „Zwischen den Kriegen“. Das entsprach unserem Lebensgefühl.
Was ist die Aufgabe von Literatur in der Zeit zwischen den Kriegen?
RÜHMKORF: Interessante Frage. Wie reagiert man, wenn man so ein Motto hat, wenn man so eine Parole über seine Zeitschrift setzt. Wie reagiert man literarisch darauf? Es gibt zwei Möglichkeiten und beide sind von uns kräftig durchreflektiert worden. Entweder eine apokalyptisch-verzweifelte, expressionistische Weltuntergangsstimmung. Oder die andere Haltung: Man muss etwas gegen das Forttanzen dieses Kriegsreigens tun. In diese beiden Richtungen teilten wir uns auf in unseren Schreibbemühungen, und Riegel sprach daraufhin von „Schizographie“: Spaltschreiberei. Die Anti-Kriegshaltung, diese moralische Position, konnten wir in Gedichten nicht vertreten, es war uns unangenehm, Politik zu poetisieren. Politische Themen führten uns immer zur Prosa, zum Essay. In der Lyrik dagegen schrieben wir aus einem Vanitas-Gefühl heraus, einer apokalyptischen Grundstimmung, verbunden mit dem Drang nach Weltlebensgenuss. War im Barock ja ganz ähnlich.

Gehörte Klaus Rainer Röhl lange zu Ihrer Zeitschrift?
RÜHMKORF: Röhl war nur eine Nummer lang dabei, weil Riegel meinte, Röhl sei kein Dichter. In seinen Augen war das so ein flusiger Journalist und gehörte nicht in eine Literaturzeitschrift. Wir maßen uns ja an historischen Zeitschriften wie „Sturm“ oder „Aktion“. Da passte Röhl nicht rein. Röhl, der gesellungsbedürftig war, hat sich dann mit anderen Leuten zusammen getan. Mit denen gründete er den „Studentenkurier“ aus dem dann die Zeitschrift „konkret“ wurde. Aber Röhl war schlau und auch kein Übelnehmer: Er lud uns ein, in seiner Zeitschrift zu schreiben – das war zwar unbezahlt, aber verführerisch für unsere Ruhmsucht. Denn wir hatten unser Blatt nur so hektographiert, Röhls Zeitschrift dagegen konnte sogar Bilder drucken und war wie ein bunter Hund an allen Universitäten vertreten. Sie rechneten sich in den sechziger Jahren und danach zweifellos zur Linken in Deutschland. Wie kann man politisches Engagement mit literarischer Unabhängigkeit verbinden? Lässt sich Poetisches und Politisches vereinen?
RÜHMKORF: Für mich teilte es sich. Das Politische war nur in Prosa zu behandeln, das andere wollte im Gedicht zum Ausdruck kommen. Natürlich haben sich bestimmte Motive in den Gedichten mit dem Krieg beschäftigt. Der Krieg zog weiter wie ein Meteoritenschweif durch die Lyrik. Aber das blieb luftig, war schwer festlegbar im politischen Sinne. Im Essay dagegen, konnte man politisch argumentierend auf den Tisch hauen. War einer ihrer Antriebe damals die Lust an der Provokation? Links zu sein war im Adenauer-Deutschland eine Provokation der Autoritäten, der Honoratioren.
RÜHMKORF: Ja, Provokation machte Spaß. Das war schon zur Nazi-Zeit so, und später blieb es so, es ist ein durchgehender Faden. Es war nicht nur Quatsch und Komik, sondern es hatte seinen politischen Sinn. Nach Kriegsende war überall von Wandlung die Rede, alles war auf dem ernstgestimmten Wandlungs-Trip. Das wirkte damals auf uns bieder und naiv, zumal sich das Nazitum über alle Kanäle ins Regierungslager geschlichen hatte. Denken sie nur an Hans Globke als Adenauers Ratgeber, oder an die ganze Juristerei oder das ganze Pseudochristentum. Da kam dann ganz furios unser Freund Hochhuth und griff das Thema Nazis und Kirche auf. Und Peter Weiss erinnerte literarisch an den Auschwitz-Prozess und so weiter. Eigentlich jedes Thema, das nachher die APO noch einmal anrührte, hatte vorher schon seinen Dichter gefunden.
Welches Verhältnis hatte das, was man heute so pauschal „die Achtundsechziger-“, die „Studentenbewegung“ nennt, zur Literatur?
RÜHMKORF: Als der Rummel anfing, glaubten wir, dass sich unsere Schreibtische auf die Straße hin verlängert hätten. Wir sahen uns als die Patenonkels dieser Bewegung. Alle Themen, die nun aufgewühlt wurden, waren schon bei uns behandelt worden. An allem hatten wir den Finger gehabt, ob es das Thema Folter war, Neokolonialismus, Auschwitz, Nazivergangenheit, alles gehörte zu unserem Anti-Fächer. Insofern waren wir zuerst ungemein erfreut, dass das, was zu unseren Glaubensinhalten zählte, auf einmal zu den öffentlich heiß erörterten Themen aufstieg. Aber das blieb nicht sehr lange so, weil diese Bewegungs-Bewegung sich zerfaserte und sich dann in lauter Alleinvertretungs-Ansprüche zersplitterte und so einen Zug ins Totalitäre bekam. Und wenn man selbst zu denen gehörte, die einmal die Vorreiterrolle gespielt hatten, und dann bei öffentlichen Diskussionen von den Podien gepfiffen wurde von so genannten Genossen – dann war ein kritischer Punkt überschritten und habe ich mich langsam zurückgezogen. Ihre Lyrik war auch damals spürbar mehr auf Gottfried Benn gestimmt als auf Bertolt Brecht.
Sie nannten Benn ihren Lehrer. Wie kamen sie damit bei ihren politischen Weggefährten an? RÜHMKORF: Das stimmt nicht ganz. Die Beeinflussung durch Benn und Brecht war eine Parallelerscheinung, ohne dass wir uns dabei in die Wolle kamen. Wir kamen mit diesen politisch-poetologischen Widersprüchen zwischen diesen beiden Herren ganz gut zurecht. Wieder so eine schizographischer Widerspruch: bei Brecht ein Ich, das sich amalgamieren wollte mit anderen Ichs, das eine Genossenschaft bilden wollte, und bei Benn ein verlorenes Ich, das in der Verlorenheit auch einen Genussfaktor sah, einen Moment von Freiheit.

Sie haben ein Buch über das poetische „Volksvermögen“ gemacht, über populäre Verse von anonymen Autoren. Was kann ein Schriftsteller vom lyrischen Volksmund lernen?
RÜHMKORF: Ich wollte immer den Beweis führen, welchen Rang die Poesie hat, in allen Zeiten, allen Völkern, allen Klassen. Die Lyrik ist eigentlich keine unter Kennern und Dichter-Profis ausgemachte Literaturart. Sondern es ist so eine zehnmal über die Straßen geschleifte Sprachkunst, an der jedermann teilhat. Eine Kunst, die sich unter Ausschluss der Erzieher oder Autoritäten gebildet hat. Also habe ich Zeugnisse dieser molekularen Dichtung des Volksmundes gesammelt, die sich von selbst ausgebreitet haben und an denen wir uns schon als Kinder vergnügten, ohne jede Indoktrination durch Lehrer. Das schien mir der Lebensbeweis der Lyrik schlechthin zu sein.

Sie haben auch Märchen geschrieben. Was hat Sie an dieser Form gereizt?
RÜHMKORF: Rückblickend ist mir aufgefallen, dass ich nicht nur volksmündliche Kinderverse gesammelt habe, wie die Romantiker die Volkslieder, sondern auch wie die Romantiker die Form der Parodie traktiert habe und, ebenfalls wie die Romantiker, mich für Märchen interessierte und Kunstmärchen geschrieben habe. Meine poetische Seele ist offenbar auf Romantisches gestimmt. Wie wichtig ist das Komische für Ihre Gedichte. Sind Sie verletzt, wenn man bei der Lektüre ihre Gedichte lachen muss? RÜHMKORF: Nein, überhaupt nicht. Ich bin da selbst überrascht. Früher stand das Tragische und Zerrissene und ernsthaft Kaputte oft im Vordergrund. Doch mit der Zeit scheinen diese Tränen getrocknet zu sein und es gibt mehr zu lachen.
Ihre Lyrik hat aber immer noch einen apokalyptischen Beiklang. Im neuen Gedichtband heißt es: „Wo die Erde bereits wie ein durchgedrehter Brainburger / durch die große kapitalistische Imbißbude saust, / rasend, / rotierend, / dem Selbstverzehr entgegen, / bis der letzte Biß und der letzte Schiß in einem Reim / zusammenfallen / und die Führung endgültig an die Kakerlaken übergeht…“
RÜHMKORF: Das ist ein Vortrage-Gedicht, man muss es öffentlich vortragen. Dann merkt man, wie komisch es ist. Die Leute haben beim Zuhören jedenfalls immer gelacht. Ich hab sie dann gefragt, was lachen Sie denn, hier ist Untergang angesagt. Darauf kam neues Lachen. Da sieht man, wie eng Tragödie und Komödie beieinander lagern, literarisch.

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