Lukas Bärfuss erzählt in einem erschütternden politischen Roman von hundert Tage des Tötens in Ruanda
Was für ein ungeheures Buch! So etwas wird in deutscher Sprache nur selten geschrieben. Ein hochpolitischer Roman, der sich nicht in schnellen, vorgefertigten Schuldsprüchen erschöpft und einem schon damit die Ruhe rauben kann. Ein Roman, der anhand eines konkreten historischen Ereignisses – des Völkermordes in Ruanda 1994 – einige fundamentale, ja letzte Fragen stellt, und zeigt, dass wir vor diesen Fragen auch heute hilflos stehen wie Kinder mit leeren Händen. Ein Roman schließlich, der auf die Forderung nach subjektiver Authentizität, der man in unserem Literaturbetrieb lange huldigte, keinen Pfifferling mehr gibt, und stattdessen auf kluge Recherche und die Macht der Imagination setzt. Lukas Bärfuss, 1971 in Zürich geboren, gehört heute zu den wichtigsten jungen Dramatikern im deutschsprachigen Raum. Neben einigen Gesellenstücken hat er mit „Der Bus“ ein veritables Meisterstück abgeliefert, in dem sich poetisches und absurdes Theater mischen und das über die kostbare Kraft verfügt, auf der Bühne das Abbild einer Welt entstehen zu lassen. Seine erste Prosaarbeit „Die toten Männer“ war missraten und lohnte die Lektüre nicht. Sein Roman „Hundert Tage“ dagegen ist von ganz anderem Zuschnitt, ein Buch von bohrendem, existentiellem Ernst, das nur sehr abgebrühte oder dickfellige Leser unbeeindruckt lassen dürfte. Was natürlich zunächst einmal am Thema liegt. Bärfuss erzählt die Geschichte des jungen Schweizers David, der als Entwicklungshelfer 1990 nach Ruanda geht. Zu diesem Zeitpunkt ist Ruanda fast so etwas wie ein Vorzeigeland Afrikas. Es hat eine passable Infrastruktur, eine erträglich autoritäre Regierung und eine aufgeschlossene Bevölkerung, die den zahllosen Hilfsorganisationen aus aller Welt ihre Arbeit leicht und hoffnungsvoll erscheinen lässt. Doch David muss miterleben, wie all das in nur fünf Jahren zusammenbricht oder sich als Täuschung erweist und schließlich in einem bestialischen Blutbad endet – dem größten Genozid seit 1945. Im Gegensatz zu den vielen angelsächsischen Autoren, die von Joseph Conrad bis Rudyard Kipling, von Graham Greene bis V.S. Naipaul solchen kolonialen oder postkolonialen Katastrophen literarische Denkmäler gesetzt haben, verleiht Bärfuss seinem Roman keinen dramatischen, sondern einen elegischen Grundton: David erinnert sich Jahre nach seiner Rückkehr in die Schweiz in einem langen Gespräch mit einem Freund an das Desaster Ruandas. Das nimmt der Geschichte etwas von ihrer Spannung, da der Leser von Beginn an sicher sein kann, dass David alle Gefahren überleben wird. Es gibt Bärfuss andererseits aber die Möglichkeit, eine Unmenge politischer Fakten wie aus historischer Vogelperspektive gedrängt und doch übersichtlich in Davids Bericht einfließen zu lassen. Im Zentrum steht bei all dem nicht das Morden selbst, Bärfuss verzichtet glücklicherweise auf alle Splatter-Effekte. Vielmehr spürt er vor allem den vielfältigen Voraussetzungen und Verantwortlichkeiten für das Morden nach – und schont dabei keine Seite: Weder die Kolonialherren von einst noch die UNO von heute, weder die lange Zeit naiven Entwicklungshelfer noch die Machthaber Ruandas oder deren zahllose willige Vollstrecker, die ohne viel Federlesen ihre Nachbarn in Handarbeit abschlachteten. Wie konnte das geschehen? fragt sich David und muss sich eingestehen, dass Vernunft und Ordnung, die seine gediegene Schweizer Hilfsorganisation dem Land zu bringen hoffte, den Genozid nicht verhinderten, sondern überhaupt erst möglich machten: Denn nur weil sie von ihren westlichen Lehrern Vernunft und Ordnungssinn übernahmen, konnten die gelehrigen Ruandischen Schreibtischtäter ihr Gemetzel so effizient vorbereiten, dass ihm in nur hundert Tagen fast eine Million Menschen zum Opfer fielen. Nach dem Vorbild jener großen angelsächsischen Erzähler baut Bärfuss in seinen Tropenroman auch eine Liebesgeschichte des Helden mit einer Einheimischen ein – die in diesem Fall allerdings für politisch korrekte Seelen manche Provokation birgt. Denn so sehr David seine schwarze Freundin auch begehrt, sie bleibt für ihn letztlich fremd in ihrer schamlos direkten Freude an Macht, Gewalt und Sex. Die Spannung zwischen Herrschaft und Unterwerfung wird bei ihr weder durch nennenswertes Mitgefühl noch durch ironisches Spiel gemildert, sondern mit buchstäblich blutiger Heftigkeit ausgelebt. In diesen Szenen des Romans schimmert etwas vom Bild jenes archaischen Afrikas durch, das Conrad vor hundert Jahren exemplarisch im „Herz der Finsternis“ zeichnete, und das nicht gut zu modernen universalistischen Vorstellungen passt. Bärfuss ist während des Völkermordes nicht in Ruanda gewesen, als Autor kann er sich folglich nicht auf authentische Erlebnisse berufen, sondern muss sich auf sein Talent zur Erfindung der Wahrheit entlang verbürgter Fakten verlassen. Das schmälert die literarische Überzeugungskraft seines Buchs keineswegs, im Gegenteil, gerade weil er sich frei im recherchierten historischen Material bewegen kann und nicht an wenigen erlebten Episoden klebt, gewinnt der Roman als Kunstwerk eine höhere Glaubwürdigkeit. Ein Leser, der nur auf zuverlässig beglaubigte Tatsachen vertrauen will, darf sich ohnehin nicht an Romane, sondern muss sich an Sachbücher halten. Warum kann ein Idealist wie der Entwicklungshelfer David, der nur das Gute will, schließlich doch zu einem Teil jener Kraft werden, die Böses schafft? Es ist diese Frage, die den Roman von Lukas Bärfuss vorantreibt, und die letztlich auch zum Motor seines Stückes „Der Bus“ wurde. Eine Antwort darauf enthalten naturgemäß weder der Roman noch das Stück. Beide beschränken sich darauf, die gebrechliche Einrichtung der Welt vorzuführen und zu zeigen, wie schwer es ist, mit ihr zu leben.
Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 8. März 2008.
Lukas Bärfuss „Hundert Tage“. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2008 197 Seiten, 19,90 € ISBN 978-3-8353-0271-6