Jeder Verleger ist ein Verkäufer seiner Bücher. Doch Helge Malchow, der Chef von Kiepenheuer & Witsch, ist zugleich ihr Verteidiger: Um drei Titel seines Hauses hat er bis vor die höchsten Richtertische gekämpft. Für Heiner Müller mit Erfolg, für Maxim Biller ohne Ein Verleger ist ein Impresario der Literatur. Er will, wenn er es ernst meint mit seinem Beruf, nicht nur Bücher verkaufen, er will auch die Ideen seiner Autoren verbreiten, will ihnen Gehör und Geltung verschaffen, will Ruhm und Anerkennung für sie erringen. Der schwierige Spagat zwischen den Gesetzen des Marktes und den Gesetzen der Kultur gehört zu seinen gymnastischen Grundübungen. Doch als wäre das nicht genug, werden ihm gelegentlich noch ganz andere Fähig- und Fertigkeiten abverlangt. Dann muss der Verleger seine Autoren nicht nur auf dem engen Buchmarkt durchsetzen, sondern muss für sie zudem in juristische Kämpfe ziehen gegen zu enge Vorstellung von den Freiheiten der Kunst. Dann ist der Verleger nicht nur der Verkäufer und Verbreiter der Literatur, sondern wird zu ihrem wichtigsten, wenn nicht einzigen Verteidiger. Helge Malchow, der Chef des Verlages Kiepenheuer & Witsch in Köln, hat diese Zusatzrolle in den letzten Jahren gleich drei Mal übernommen. Es steht jetzt 2:1 für ihn, zwei Mal zog er für seine Bücher erfolgreich vor Gericht, ein Verfahren endete mit einer Niederlage. Doch das Thema ist zu ernst, als dass man die drei Prozesse locker nach Art von Sportresultaten zusammenfassen sollte. Vielleicht ist die Abhängigkeit eines Schriftstellers und also der Literatur vom Verleger nie größer als im Fall eines Rechtskonflikts. Denn üblicherweise wird, wenn jemand gegen ein Buch mit juristischen Mitteln vorgeht, zunächst der Verleger verklagt, der das Buch auf den Markt brachte, und erst in zweiter Linie der Autor, der es schrieb. Verleger stehen in einer solchen Situation vor einer für die Literatur oft fatalen Kalkulation. Wenn das Buch, dass sich plötzlich vor Richtertischen wiederfindet, kein Bestseller ist – und weit mehr als 95 Prozent aller Bücher sind keine – dann kann der Verleger selbst im Falle eines Erfolges vor Gericht nicht damit rechnen, an dem Buch nennenswerte Summen zu verdienen. Mit Sicherheit aber weiß er, dass Literaturprozesse sehr aufwendig und zeitraubend sind, dass er dafür hoch spezialisierte Anwälte braucht, die gern imposante Rechnungen schreiben und dass der Ausgang des Verfahrens höchst ungewiss ist. Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist es also fast nie sinnvoll, sich für ein Buch juristisch weit aus dem Fenster zu lehnen. Folglich finden viele derartige Prozesse ihr frühes Ende schon in der ersten Instanz, in der bekanntlich recht hemdsärmlich Recht gesprochen wird. Falls das Buch dort nicht als strahlender Sieger den Gerichtssaal verlässt, oder falls sein Gegner es vor eine zweite Instanz zitiert, hat es sein Lebensrecht schnell verwirkt, und es schließen sich über ihm unwiderruflich die Aktendeckel. Seltsame Situation: Die Literaturfreiheit gehört zum zentralen Bestand der bürgerlichen Rechte und wird vom Grundgesetz ohne jede Einschränkung garantiert, sie kann ihre Grenze also nur im Konflikt mit anderen Grundrechten finden. Die Verfechtung dieses hohen Rechtsgutes jedoch liegt de facto in privaten Händen, in den Händen der Verleger, die gerade mit guten Büchern selten ein so beruhigendes finanzielles Polster erwirtschaften, dass sie sich ausufernde Prozesse leisten könnten. Andererseits besteht an der Verteidigung der Literaturfreiheit ein öffentliches Interesse, denn die Freiheit der Literatur ist zugleich die Freiheit ihrer Leser – was nicht verlegt werden darf, kann naturgemäß auch von niemandem gelesen werden. Helge Malchow kann sich über mangelnden Erfolg nicht beklagen, sein Verlag Kiepenheuer & Witsch zählt zu den wichtigsten des Landes. Kaum ein anderer hat von Böll über Bellow bis García Márquez so viele Nobelpreisträger, von Harald Schmidt über Joschka Fischer bis Biolek so viele populäre, von DeLillo über Julian Barnes bis Doctorow so viele hoch gelobte, von Frank Schätzing über Bastian Sick bis Nick Hornby so viele gewinnbringende Autoren im Programm wie er. Was ihm nicht nur gesunde Bilanzen eintrug, sondern eben auch die Möglichkeit verschaffte, in juristischen Konflikten um Bücher seines Hauses alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. 1995 zum Beispiel setzte die Bundesprüfstelle den Roman „American Psycho“ von Bret Easton Ellis auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften. Das bedeutete unter anderem, dass die Buchhandlungen ihn nicht mehr auslegen, sondern nur noch auf Nachfrage erwachsener Kunden unterm Ladentisch verkaufen durften. Er war damit praktisch vom Buchmarkt verbannt. Tatsächlich ist das Buch keine sanfte Bettlektüre, sein Held ist ein Börsenmakler und Serienlustmörder, der mit Vorliebe Frauen zu Tode foltert. Doch gefällt wurde die Entscheidung gegen zwei von der Prüfstelle selbst eingeholte literatur- und erziehungswissenschaftliche Gutachten, die den Roman nicht als Pornographie, sondern als Kunstwerk einstuften und empfahlen, ihn nicht auf die Liste zu setzen. Es brauchte fünf Jahre und zähe juristische Gefechte auf dem labyrinthischen Instanzenweg, bis das Oberverwaltungsgericht in Münster das Buch endgültig wieder freigab, weil es ausdrücklich dessen Rang als Kunstwerk anerkannte. Beim zweiten Fall, in dem ein Buch des Kiepenheuer & Witsch Verlags rechtlich gefährdet war, ging es um Heiner Müllers Theaterstück „Germania 3 Gespenst am toten Mann“. Müller hatte darin Textteile aus den Werken Hölderlins, Kleists, Kafkas und in zwei Fällen auch Brechts eingewoben. Brechts Erben erhoben aus urheberrechtlichen Gründen Klage, da die von Müller in das Stück einmontierten Brecht-Passagen mit zusammen knapp vier Seiten die übliche Zitierfreiheit überschritten. Wieder brauchte es etliche Jahre und mehrere einstweilige bzw. Hauptsacheverfahren, bis das Verfassungsgericht im Jahr 2000 entschied, dass ein Schriftsteller auch Texte fremder Autoren in sein Werk aufnehmen darf, soweit sie „Gegenstand und Gestaltungsmittel seiner eigenen künstlerischen Aussage bleiben“. Ein Urteil, das gerade mit Blick auf die ausgeprägten Neigung postmoderner Autoren zum Zitat und ihres deshalb programmatisch laxen Umgangs mit dem geistigen Eigentum anderer, von herausragender Bedeutung ist. Der dritte Rechtsstreit schließlich, den Malchow um ein Buch seines Verlages führte, wuchs sich zum spektakulärsten von allen aus und ging verloren. Zwei Klägerinnen glaubten sich in Figuren aus Maxim Billers Roman „Esra“ wieder zu erkennen und ließen das Buch wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte verbieten. Auch in diesem Fall zog sich das Verfahren über gut vier Jahre und vier Instanzen hin. Die abschließende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war äußerst knapp: Fünf Richter votierten für das Verbot des Buches, drei dagegen. „Ich halte“, sagt Malchow, „das so zustande gekommene Urteil nach wie vor für falsch. Die fünf Richter, die sich durchsetzen, haben den Kunstcharakter des Romans richtig erkannt, aber daraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen.“ Tatsächlich beschreibt die Argumentationslinie der Urteilsbegründung eine seltsame Kurve: Zunächst wird zugestanden, dass ein Roman „nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden“ darf. Und dass dies auch gelte, wenn „hinter den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar sind“. Denn die Kunstfreiheit schließe eine Verwendung von Vorbildern aus der Lebenswirklichkeit ein. Dann aber verlassen die fünf Verbots-Richter diese Position plötzlich, betrachten die Romanfiktion doch teilweise als Realitätsbeschreibung und kommen zu merkwürdigen „Je-Desto“-Abwägungen: „Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts.“ Diesem Punkt kritisieren auch die drei Richter, die für die Freigabe „Esras“ stimmten, und machen ihren Richterkollegen abschließend den schärfsten Vorwurf, der in dem Verfahren denkbar war: Sie nennen deren Urteil bündig einen „verfassungswidrigen Eingriff“ in die vom Grundgesetz garantierten Rechte von Autor und Verlag. „Sicher“, sagt Malchow, „die Niederlage schmerzt, doch die Sondervoten der drei unterlegenen Richter haben mir gezeigt, dass mein Verständnis von Literaturfreiheit nicht abwegig, sondern auch fachjuristisch sehr gut zu rechtfertigen ist.“ Öffentlich wurde hierzulande wohl noch nie so viel diskutiert über das komplexe Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit wie in den Jahren des „Esra“-Prozesses. Darin könnte man, dem Urteil zum Trotz, ein Erfolg für Malchow sehen. Doch dessen Fazit klingt auch unter diesem Gesichtspunkt ernüchternd. In den vielen Debatten um „Esra“ ist ihm, resümiert er, „ungeheuer viel Ängstlichkeit und Spießigkeit begegnet gegenüber der Provokation, die in jedem Kunstwerk liegt.“ Und letztlich haben Ängstlichkeit und Spießigkeit 5:3 gewonnen.
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