Das Marbacher Literaturmuseum der Moderne zeigt Porträt-Plastiken aus dem Kreis um Stefan George
Stefan George ist erst 75 Jahre tot – und doch kommt er intellektuell wie aus einer anderen Welt. Während wir es heute gern sehen, wenn Literatur populär ist, konnte sie ihm gar nicht elitär genug sein. Während wir Demokratie, Freiheit und Aufklärung für zentrale westliche Werte halten, predigte er Führerkult, unbedingte Gefolgschaft und eine griechenschwärmerische, männerbündlerisch Esoterik. Während wir oft glauben, Dichter fürsorglich unter Kulturschutz stellen zu müssen, sah er im Dichter wie selbstverständlich die prägende Herrschergestalt seiner Epoche. Während wir uns drin üben, eine Mehrzahl von Wahrheiten und Ansichten parallel zu tolerieren, bestand er darauf, dass nur einer allein – nämlich er, Stefan George – im Besitz der alleinseligmachenden Weisheit sei: „In jeder ewe / Ist nur ein gott und einer nur sein künder.“ Sicher, fast alle Künstler neigen zu Selbststilisierungen und Selbstmystifikationen. Doch aus heutiger Sicht richtet sich bei keinem anderen Schriftsteller der Moderne das Bedürfnis nach Imagepflege so offenkundig auf unzeitgemäße Ziele wie bei George und wirkt deshalb oft so peinlich. Brecht, der Bürgersohn in Lederjacke, liebte die Rolle des proletarischen Revolutionärs, Hemingway die eines flintentragenden Abenteurers, d’Annunzio die eines Renaissancefürsten im Doppeldecker. George aber griff zu den Sternen und inszenierte sich als schwarz verhüllter, in unbestimmte Fernen blickenden Prophet einer neuen Kunst-Religion, der er mit dem früh verstorbenen Knaben Maximin sogar einen Gott mitlieferte. Lange stand er in der Bundesrepublik unter dringendem Faschismusverdacht – und der war nicht aus der Luft gegriffen. Als die Nazis ihn 1933 öffentlich für sich einzuspannen versuchten, wehrte er zwar ab, schrieb aber zugleich: „Die ahnherrschaft der neuen nationalen Bewegung leugne ich durchaus nicht ab und schiebe auch meine geistige mitwirkung nicht beiseite. Was ich dafür tun konnte habe ich getan.“ Heute dagegen wird er mitunter, da Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg als junger Mann dem George-Kreis angehörte, zu einem Wegbereiter des Widerstandes erklärt. Mit den spezifisch ästhetischen Qualitäten seines Werks hat weder die eine noch die andere politische Zuordnung etwas zu tun. Dem Charisma seiner Sprache und seiner Person verdankte er die enorme Anziehungsmacht, die lange von ihm ausging. Die Ausstrahlungskraft seiner Sprache hat allerdings in dem dreiviertel Jahrhundert seit seinem Tod gelitten. George stimmte seine Lyrik so konsequent auf einen hohen, erhabenen, komplett ironiefreien Ton, dass ein Leser von heute, der durch Literatur und Leben auf einen rasanten Wechsel der Sprachebenen trainiert ist, sich von seinen Gedichten recht bald unterfordert fühlen kann. Hat man eines von ihnen gelesen, kennt man zwar noch nicht alle, aber die übrigen halten sprachlich keine großen Überraschungen mehr bereit. Das Charisma seiner Person muss zu Lebzeiten enorm gewesen sein. Davon zeugt nicht zuletzt die erstaunlich hohe Zahl von Porträtskulpturen die jetzt im Marbacher Literaturmuseum der Moderne ausgestellt werden unter dem Titel: „Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung“. Schließlich ist es George allein durch die Wirkung seiner Worte und seines Auftretens gelungen, einen weit verzweigten „Kreis“ oder „Staat“ von zum Teil hoch gebildeten Menschen um sich zu versammeln, die gläubig an seinen Lippen hingen und jeden Satz von ihm wie eine Offenbarung entgegennahmen. Der Philosoph und Soziologe Max Weber beschrieb diesen Kreis frühzeitig als Sekte und handelte sich damit naturgemäß die aggressive Abwehr der Anhänger Georges ein. „Nicht restlos geklärt“, schreibt Museumsdirektor Ulrich Raulff, „ist die Funktion, die die Skulpturen des George-Kreises besaßen.“ Sie sind nämlich – und es ist der Ausstellung hoch anzurechnen, dass sie daran wenig Zweifel lässt – unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, nicht sonderlich gut. Im Gegenteil, man fragt sich, schreibt Raulff, wie sich die formbewussten Sprachartisten und Philologen des George-Kreises, „mit einer derart alle Standards der Zeit missachtenden Kunstübung zufrieden geben“ konnten. Eine Antwort auf dieses Rätsel könnte vielleicht ein vergleichender Blick auf die Fan-Clubs heutiger Pop-Stars bereithalten, in denen selbst durchaus reflektierte Menschen gelegentlich zu kritiklosen Schwärmern regredieren, die sich malend, zeichnend oder eben töpfernd mit dem Bildnis des angebeteten Idols beschäftigen. Ganz so harmlos, war das Programm des George-Fan-Clubs allerdings nicht. Nach Georges Überzeugung gehörte es zum „Amt“ des Dichters, nach seinen Vorstellungen neue Menschen zu formen, die sein Volk und seinen Staat bilden sollen. Ein Programm, das spürbar darauf zielt, alles Fremde und Andere auszuschalten, und dessen totalitärer Anspruch kaum zu überhören ist. Wer will, kann also in den Bildhauerarbeiten der George-Jünger, die nicht nur den Kopf ihres Meisters zum Objekt ihrer künstlerischen Bemühungen machten, sondern sich auch gegenseitig Modell saßen oder Knaben und junge Männer in Gips porträtierten, als künstlerische Vorübung für eine radikal zu verstehende Menschenbildung sehen. Ist es ein Sakrileg anzudeuten, dass bei all dem die Homosexualität Georges vermutlich keine geringe Rolle spielte? Thomas Karlauf beschreibt in seiner neuen George-Biographie (Blessing Verlag, 810 Seiten, 29,95 €), wie häufig George mit den von ihm verehrten Jünglingen bald möglichst zum Fotografen ging, um so zumindest ihr Bildnis umgehend in Besitz zu nehmen. Von Claus von Stauffenbergs Bruder Berthold machte er, wie sich Alexander von Stauffenberg erinnerte, „eine hinreißende stehende Nacktaufnahme“. Ähnliche Aufnahmen wurden im Kreis für Skulpturen nackter Knaben angefertigt und sind jetzt in Marbach zu sehen. Es ist wohl nicht abwegig, in diesen Bildern auch erotische Anregungsmittel für die privaten Gebrauch Georges zu sehen, vulgo: seine Wichsvorlagen. Bleibt die Frage: Muss man so etwas ausstellen? Ulrich Raulff und sein Mitkurator Lutz Näfelt vermeiden klug jede Monumentalisierung oder falsche Ehrfurcht vor den gezeigten Plastiken. Einen Gefallen haben sie George mit dieser Präsentation dennoch nicht getan. Selbst wer Georges Lyrik heute skeptisch beurteilt, wird doch jederzeit zugeben, dass sie um Klassen besser ist als die Versuche seines Kreises, wie Raulff schreibt, „das Land der Griechen aus der Gipstüte zu zaubern“. Dennoch rückt die Leidenschaft, mit der sie diesen wenig glücklichen Bemühungen frönten, zu denen sie George offenbar ermunterte, rückblickend den Kunstverstand aller Beteiligten in ein nicht eben vorteilhaftes Licht.