Der Erzähler Ernst Augustin ist nicht zum fassen. Ein Porträt
Die Pariser Oper gefällt ihm. Also hat er sie sich ins Haus geholt. Genauer: maßstabsgerecht verkleinerte Teile davon. Zwei gut ein Meter hohe, grauweiße Modelle der Fassade stehen in Ernst Augustins Arbeitszimmer und laden ein zu Spaziergängen unter prachtvollen Arkaden, zu Streifzügen über marmorne Aufgänge und Treppen, zum Flanieren durch festliche Entrees, Foyers, Hallen und Spiegelsäle. Oder auch zur Suche nach verborgenen Winkeln, versteckten Türen, labyrinthischen Fluchtgängen, wie sie Phantome in der Oper bekanntlich brauchen. Und fassadenkletternde Trickdiebe auch. Oder die zahlreichen heimlichen Liebhaber der Sopranistin. Oder Attentäter auf dem Weg zur Präsidentenloge. Nicht zu glauben, wie phantasiesteigernd so ein Riesengebäude in Tischformat sein kann. Kaum fällt der Blick drauf, gleiten die Augen in eine andere Wirklichkeit, in der die erstaunlichsten Dinge möglich sind. Jedes Giebelchen, jede Nische, jeder Erker vollgestopft mit Geschichten. Wer über den Autor, Arzt und Abenteurer Ernst Augustin spricht, kann über Architektur nicht schweigen. Augustin zählt zu den großen Baumeistern und Raumerfindern unter den deutschen Schriftstellern. Manchmal empfangen seine Bücher den Leser gleich mit der Beschreibung eines Hauses und seiner Zimmer, detailliert bis hin zu Sesseln, Schränken, Teppichen, Tapeten, Bildern, Büchern wie der Roman „Raumlicht: der Fall Eveline B.“ Oder sie laufen über 200 Seiten hinweg auf die minuziöse Schilderung eines Sand- und Sonnenstudios zu, eines perfekten Verführungsgemaches für eine sommersüchtige, schönhüftige Badenixe wie „Die Schule der Nackten“. Augustins imaginäre Welten sind wie waghalsige Architekturmodelle, in denen man von Raum zu Raum wandert, vom exquisiten Boudoir zum kahlen Keller, von der engen Bude zur guten Stube, von der frommen Kemenate zu grandiosen Gelass. Es tun sich immer neue, fabelhafte Ein- und Ausblicke auf, der Leser durchschreitet eigentümliche Zimmerfluchten voller kleiner erzählerischer Wunderwerke und Überraschungen. Einen genialen Fälscher, der an neuen deutschen Geldscheinen scheitert, macht Augustin ebenso zu seinem Romanhelden (in „Gutes Geld“) wie einen afghanischen Mogulkaiser im Jahre 1000 („Mahmud der Bastard“), ein FKK-Schwimmbad genauso zum Romanthema („Schule der Nackten“) wie eine psychotherapeutische Gruppe in London („Eastend“). Seine Bücher fügen sich nicht in gängige Genre oder Literaturmuster, es sind machtvoll wuchernder Gebilde eigener Güte. Aber wer will, kann diese Bauten immer auch als Seelenwelten betrachten, als Seelenräume, die der Arzt, der Psychiater Ernst Augustin schreibend sowohl entwirft wie auch erforscht. „Das ist meine Schale“, sagt er, und meint damit sein Münchner Haus. Dabei sieht er gar nicht aus, als bräuchte er eine Schale: Groß, trotz seiner fast achtzig Jahre ganz ungebeugt, beweglich, lachlustig. Aus diesem Haus hat er, zusammen mit seiner Frau, der Malerin Inge Augustin, auch so ein Wunderwerk gemacht. Ein Kunst-Labyrinth auf vier Etagen, plus einen Keller. Von außen ist es ganz zugewachsen und unscheinbar. Innen aber warten schon an den Treppenhaus-Wänden gemalte Marmorsäulen vor südlichen Trompe-l’Œil-Landschaften. Dazu füllig-prächtige Frauen-Plastiken, die Botero vor Neid erblassen lassen sollten. Und auf dem Dach hat Ernst Augustin einen Wintergarten angelegt samt Terrasse, in den Etagen darunter eine Bibliothek und eine Schiffskajüte im englischen Stil, dazu eine schummrige Nachtbar und im Keller eine Diskothek in türkis-rosa nur für den persönlichen Gebrauch. Hinter Spiegeltüren verbergen sich geheimnisvolle Nebentreppen und irgendwo im Haus, so kokettiert Augustin, hat seine Frau ihr persönliches „Hideaway“, von dem er nicht genau wisse, wo es ist und in dem er nie gewesen sei. Auch Augustins Biographie wirkt ein wenig wie so eine seltsame Zimmerflucht. Lauter gewichtige Stationen, die wie unverbunden nebeneinander stehen. Er wurde im Riesengebirge geboren, in dem Städtchen Hirschberg, das heute Jelenia Góra heißt und in Polen liegt. Zur Schule ging er im mecklenburgischen Schwerin, wo er als halbes Kind noch zur Wehrmacht eingezogen und verheizt werden sollte. Aber er beeindruckte die Musterungskommission mit 50 Klimmzügen, qualifizierte sich so für eine Offizierslaufbahn, durfte deshalb ein Jahr länger zum Gymnasium – und als er dann tatsächlich Uniform trug, war kurz darauf der Krieg zu Ende. In der DDR studierte er Medizin, wurde erst Chirurg in Wismar, dann Psychiater an der Ostberliner Charité, dem heimlichen Zentrum für schriftstellerisch ambitionierte Ärzte, beziehungsweise ärztlich vorgebildete Schriftsteller: Dort betrieb schon ein Mediziner namens Alfred Döblin wissenschaftliche Forschungen, bevor er mit seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ zu Weltruhm kam, dort arbeitete der Arzt Gottfried Bermann-Fischer, der den S.Fischer Verlag durch die Nazi-Zeit brachte und Peter Bamm, der in der Nachkriegszeit Bestseller schrieb, hier stand der Dramatiker Heinar Kipphardt als Assistenzarzt am Krankenbett und hier arbeitet heute der Erzähler Jakob Hein. Augustin lebte seine literarischen Leidenschaften allerdings erst aus, als er die DDR verlassen hatte. 1958 ging er in den Westen und leitete für drei Jahre ein amerikanisches Krankenhaus in Afghanistan. Nebenher schrieb er seinen ersten Roman „Der Kopf“, der 1962 nach seiner Rückkehr nach Deutschland erschien. Das Buch wurde bestens aufgenommen und mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet, aber es konnte seinen Autor nicht im Lande halten. Augustin, der Abenteurer, ließ sich zu ausgedehnten Reisen durch Indien, durch die Türkei und Russland verlocken. Und ging für das gleiche amerikanische Unternehmen, für das er bereits in Afghanistan gewesen war, nun lange nach New Orleans. Was ihn nicht davon abhielt, in München als Gerichtsgutachter zu arbeiten, sich ein Haus zu kaufen und es nach seinen Vorstellungen aus- und immer weiter umzubauen. So wenig sich Augustins Leben in ein Schema pressen läßt, so wenig läßt sich seine Literatur auf einen einfachen Nenner bringen. Am besten paßt vielleicht das Etikett Phantastischer Realismus. Der gerade eben in Augustins Werkausgabe erschienene Band „Der amerikanische Traum“ zum Beispiel beginnt mit einem Jungen, der – wie Augustin – den letzten Kriegswinter in der Nähe von Schwerin verbringt. Aber er hat – anders als Augustin – das Pech, von einem Tiefflieger angegriffen, vom Fahrrad geschossen und tödlich verletzt zu werden. Auf den letzten Seiten des Buches, kommt das Vorderrad des umgestürzten Fahrrades sehr langsam zum Stillstand, und mit dem Ende dieser Bewegung endet auch das Leben des jungen Fahrers. Zwischen diesem unsinnigen Angriff und dem absurden Streben des Kindes erzählt Augustin auf gut 200 Seiten den Lebenstraum des Jungen – und der entpuppt sich als rasante Abenteuergeschichte, angesiedelt irgendwo zwischen der Welt von Karl Mays Old Shatterhand und Raymond Chandlers Detektiv Marlowe. Im Kino würde man so etwas wohl eine Genre-Parodie nennen, ein luftig-ironisches Spiel mit altbekannten Handlungsmustern, in das sich bei Augustin allerdings auch die Besatzung jenes Tieffliegers einmischt – womit sich die erzählte Wirklichkeit und die erzählte Traumgeschichte durchdringen. Aber ungewöhnlich ist nicht nur das Thema, ungewöhnlich ist auch die Sprache. Augustin hat in seinen jüngsten Romanen einen federleichten, humorvollen, ganz und gar entspannten Stil entwickelt, der klingt, als hätte sich das gesprochene Alltagsdeutsch wie von selbst aufs Papier geschmuggelt. Augustin schaut dabei den Menschen keineswegs aufs Maul, wie in solchen Fällen das Klischee gern behauptet, vielmehr verdankt sich dieser scheinbar einfache Ton einer eminenten Kunstleistung. Jede sprachliche Einschüchterungsgeste, alles Hochtrabende, Gestelzte, das der deutschen Literatur so schwer auszutreiben ist, hat Augustin hier hinter sich gelassen und so eine Art Trompe-l’Oreille geschaffen, einen ohrentäuschend realistischen Sound, der in heiterer Gelassenheit phantastische Welten aufblättert. Wer so viele Welten, Häuser, Räume entwirft wie Augustin, wer zugleich Arzt und Autor ist und dazu noch so gern in fernste Fernen verschwindet, der läßt sich naturgemäß kaum festlegen. Er ist nicht zu fassen. Man kann nur schwer sagen: So ist er, das ist er, hier ist er. Denn er ist immer auch ganz anders und schon wieder weit fort. Vielleicht hält es Ernst Augustin mit dem Leben so, wie es das Märchen vom Hase und vom Igel erzählt. Wann immer das hasenhafte Leben angehetzt kommt, kann er sagen: „Ich bin schon da!“ Im sicheren Gefühl, daß er genausogut auch woanders ist.
Ernst Augustin: „Der amerikanische Traum“. Roman Verlag C.H. Beck, München 2006 268 Seiten, 19,90 €