Kein Halt, nur Haltung

„Josefine und ich“ – Hans Magnus Enzensberger bittet zum Fünfuhrtee
Josefine K., die Sängerin, hat ihren 75. Geburtstag hinter sich und nicht die geringste Lust, sich dem anzupassen, was hierzulande gerade Mode ist. Sie lebt und redet, wie sie es für richtig hält und wie es ihren Erfahrungen und Vorlieben entspricht. Kompromisse schätzt sie nicht, und sie hat sie in ihrem Alter auch nicht nötig. Das macht sie sowohl zu einem originellen Menschen als auch zu einem interessanten Studienobjekt: Wie wird man mit dem Leben fertig, wenn man sich vom sozialen Gewebe, diesem Mullverband des Daseins, nicht einwickeln läßt, sondern seinen Weg alleine geht? Auch Hans Magnus E., der Schriftsteller, hat den 75. Geburtstag hinter sich und offenkundig immer weniger Lust, bei seiner Arbeit irgendeine Rücksicht zu nehmen. Zu seinen literarischen Vorlieben zählen, so hat er oft bekannt, die Dialog-Erzählungen im Stile Diderots. Daß diese Form den Autor leicht zu einem belehrenden Ton verführt, daß sie ein wenig spannungsarm und unsinnlich ist, muß man ihm nicht sagen, das weiß er so gut wie jeder andere. Aber was kümmert’s ihn? Wenn er ein Stück Prosa zum Lob eines klugen Individualismus’ schreiben will, wählt er natürlich eine Form, die seinen individuellen Neigungen entspricht. Wer die nicht mag, soll halt was andres lesen. Durch einen Zufall, oder genauer: durch einen spontanen Akt des Beistands führt Enzensberger zwei Menschen zusammen, die beide in Lebenskrisen stecken. Joachim, ein dreißigjähriger Wissenschaftler, hat sich von seiner Frau getrennt, weiß wenig mit sich anzufangen und flüchtet in die Arbeit. Josephine, eine in Vergessenheit geratene Künstlerin, ist gesundheitlich und finanziell am Ende, ihr bleibt nicht mehr viel Zeit, und es liegt ihr auch wenig daran, diese Frist zu verlängern. Aber es gelingt ihr, den jungen Mann für eine allwöchentliche Verabredung zu gewinnen, nur um nach alter bürgerlicher Sitte beim Tee mit ihm zu plaudern. Später notiert Joachim in einem Tagebuch den Inhalt dieser Gespräche. Sie führen, wie sich das für Plaudereien gehört, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Vor allem Josephine gibt dabei ungeniert ihre Gedanken zu Gott und der Welt kund, ohne sich je drum zu scheren, ob sie überzeugend sind oder nicht. Wichtiger ist, daß sie tatsächlich ihren Erfahrungen entspringen, nicht also aus zweiter Hand stammen, und daß sie auf eine Weise formuliert sind, die ihren Gast nicht langweilt. „Die Psychologen“, räsoniert sie etwa, „sind die einzigen, die etwas gegen die Verdrängung haben. Kein Wunder, daß sie unglücklich sind.“ Nicht durch das, was Josephine sagt, sondern dadurch, wie und in welch traditionsbewußten Fünfuhrtee-Rahmen sie es sagt, versucht sie dem vom Liebeskummer gezeichneten Joachim ein Beispiel vor Augen zu stellen. Ein Beispiel für die Einsicht, daß es im Leben keinen Halt gibt jenseits der Haltung, die man sich selbst gibt. Nachdem Joachim ihr auf der ersten Seite der Erzählung in akuter Not Beistand leistete, revanchiert sie sich auf diese unausgesprochne, sehr diskrete und also keine Dankbarkeit einfordernde Weise. Erstaunlich ist, wie wenig positive öffentliche Resonanz Enzensbergers Erzählung bislang beschieden war. In einer Zeit, in der allenthalben von den Traditionen des Bürgertums geschwärmt und eine Rückkehr seines Lebensstils beschworen wird, stößt eine Geschichte, die in Form und Inhalt bürgerliche Kultur auf hohem Niveau zelebriert, im ersten Anlauf auf Unverständnis. Seltsam. Aber vielleicht sind inzwischen nach einigen Jahrzehnten oft dröhnenddummdreister Ratgeberliteratur allzu viele schon zu sehr ertaubt, als daß sie halblaut und indirekt vorgetragenen Ratschläge zur Lebensweisheit noch wahrnehmen könnten – selbst wenn sie von einem erfahrenen Mann in vorgerückten Alter stammen, dem zuzuhören sich fast immer lohnt. Enzensberger hat seine Erzählung durch einige Anspielungen mit Kafkas letzter Prosaarbeit „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ verknüpft. Auch hier ist es nicht die Schönheit des Gesangs, durch die der Mäuse-Star Josephine allen ihren Mitmäusen zum Vorbild wird. Ihre musikalischen Leistungen sind eher mäßig bis miserabel. Aber die Unnachgiebigkeit, mit der sie ihre Haltung wahrt, mit der sie an sich festhält und an ihrer Vorstellung, eine Künstlerin zu sein, flößt ihren Zuhörern immer aufs neue Respekt ein und steigert deren Glauben an die eigenen Möglichkeiten. Und wie Enzensberger dann auf den letzten Seiten seines Buches Abschied nimmt von seiner toten Josefine, voller Gefühl, aber ohne Sentimentalität, das ist sehr anrührend und eines Meisters würdig.

Hans Magnus Enzensberger: „Josefine und ich“. Eine Erzählung Suhrkamp, Frankfurt am Main 148 S., 15,00 €

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