Volker Weidermanns „Lichtjahre“ und die jüngste Literaturdebatte
Weshalb passiert mir das nicht? Warum haben immer nur die anderen Glück? Es ist zum Auswachsen. Nie sagt jemand vor aller Ohren „Arschloch“ zu mir. Ich bin enttäuscht. Dabei kann einem als Kritiker in jüngster Zeit kaum besseres passieren. Man ahnte ja früher gar nicht, was sich aus so einem öffentlichen Schimpfwort für publizistischer Nektar saugen läßt. Es fing an bei dem Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier. Als ihm im Februar ein von sich selbst berauschter Schauspieler „Arschloch“ nachrief, fühlte sich Stadelmaier in der FAZ gleich zwei Spalten lang gedemütigt und sah allen Ernstes die Pressefreiheit in Gefahr. Was folgte, war ein Inferno aus Interviews, Podiumsdiskussionen und Protestschreiben, weil nun andere allen Ernstes die Kunstfreiheit in Gefahr sahen. Jeder redete über Stadelmaier, jeder wollte die Inszenierung sehen. Kurz: bestes Marketing. Das hat natürlich allen Beteiligten viel Spaß gemacht. Deshalb geht das gleiche Stück nun in die zweite Runde. Diesmal wurde der Literaturkritiker Hubert Winkels „Arschloch“ genannt von dem Schriftsteller Maxim Biller, der in der Buchbranche einen exzellenten Ruf genießt als Nervensäge. Prompt sieht Winkels gleich auf vier Spalten in der „Zeit“ die anspruchsvolle Literaturkritik in Gefahr und deshalb auch die „Standards einer diskursiv flankierten, über Kritik, formale Skrupel und sprachliche Experimente funktionierende Literatur“ unter die Räder kommen. Sofort große Aufregung, Debatten überall, kurz: ein prächtiger Erfolg. Auslöser dieser zweiten Runde im Neuen Deutschen Skandalismus war das Buch „Lichtjahre“ von Volker Weidermann, eine, wie es im Untertitel heißt, „Kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“. Weidermann ist ein exzellenter Stilist und einer der Feuilletonchefs der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, in der, nebenbei bemerkt, sein so wortmächtiger Verteidiger Biller mit einer Kolumne vertreten ist. Von einigen Kritikern, darunter auch von Winkels, mußte sich Weidermann vorhalten lassen, er schreibe in seiner Literaturgeschichte zwar überaus anregend über das Leben einiger Schriftsteller, schweige sich aber zu oft über deren Bücher aus. Vielleicht hätte er seine „Lichtjahre“ also im Untertitel besser eine Galerie von Autorenporträts und nicht eine Literaturgeschichte genannt. Gut. Kaum von Biller beleidigt, stemmte Winkels die Frage nach dem adäquaten Untertitel allerdings in bester Stadelmaierscher Tradition hoch zu einer Frage von Sein oder Nicht-Sein der Literaturkritik. Die habe sich nämlich, behauptet Winkels, heute gespalten in „Emphatiker“, die – wie Weidermann – in ihren Artikeln zwar von Büchern schwärmen, aber wenig über ihre ästhetische Machart verraten, und in „Gnostiker“, die – wie Winkels – in ihren Rezensionen eher den historischen Vorbildern eines Buches nachspüren und dessen formale Stärken oder Schwächen beschreiben möchten. Fast könnte man angesichts dieser feinsinnigen Unterscheidungen den Eindruck haben, Winkels versuche dem Publikum eifrig zu erklären, daß seine Kritiken klüger seien als die von Weidermann. Ach ja. Seltsamerweise erwähnt Winkels in seinem Aufsatz mit keinem Wort das Publikum, an das sich die verschiedenen Literaturkritiker in den verschiedenen Medien wenden. Dabei liegt auf der Hand, daß sich eine Rezension in einer Tages- oder Wochenzeitung anderer Ausdrucksformen bedienen muß als eine Abhandlung in einer Vierteljahreszeitschrift, die sich nur an Kenner richtet. Schon deshalb ist es unsinnig, wenn Winkels etwa Elke Heidenreich, die schon herausragende Literaturanalysen in Zeitungen oder Zeitschriften publiziert hat, nun vorwirft, im Fernsehen als „Emphatikerin“ den Zuschauern Romane zu empfehlen, ohne ihnen zur Begründung längere theoretische Erörterungen mitzuliefern. Winkels dagegen liebt, auch wenn er sich in der „Zeit“ mit seinen Rezensionen an eine große Leserschaft wendet, lange Inhaltsangaben, lange Sätze, viele Fremdworte (ein „Gnostiker“ ist laut Duden jemand, der „Erlösung durch Erkenntnis Gottes und der Welt“ sucht) und dazu Sätze wie: „Kaum nötig zu sagen, daß die gesamte islamische Kultur die dort exponierte, aufs Alte Testament zurückgehende theologische Problematik teilt und mit ihrer Ablehnung der Figuration jene ornamentalen Dickichte und Labyrinthe erzeugt, die der Roman von Christoph Peters so ausgiebig vorstellt und auskostet. Man könnte den Finessen, mit denen diese Labyrinthe der Undarstellbarkeit im Roman ausgefächert sind, noch lange weiter nachforschen.“ Letztlich geht es in dieser Debatte also darum, ob ein Kritiker die theoretischen Begründungen für sein Urteil auch in Massenmedien dem Publikum minutiös auseinandersetzen soll, oder ob er sie für sich behalten und statt dessen die Leser seiner Kritik für die guten Bücher begeistern darf. Der deutsche Literaturbetrieb lebt seit Jahrzehnten von derartigen Debatten. Das begann schon mit den Konflikten um die Gruppe 47 und ihre Gegner. Debatten wie die um Fassbinders „Müll, Stadt, Tod“, Botho Strauß‘ „Bocksgesang“ oder Walsers Friedenspreisrede sind unvergessen und haben einiges zur Bewusstseinsbildung der Republik beigetragen. Nun scheint eine nachfolgende Kritiker- und Autoren-Generation in die Fußstapfen der grau gewordenen Debattenmeister von einst treten zu wollen. Doch so lange es bei ihnen nur um Verbalinjurien oder den Wunsch geht, wieder mehr Fremdworte in Zeitungs-Rezensionen zu lesen, bleibt der Beitrag zur Bewusstseinsbildung einigermaßen überschaubar. Volker Weidermann: „Lichtjahre“. Kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006 330 Seiten, 18,90 Euro