Keine roten Teppiche

Vor 50 Jahre kehrte Marcel Reich-Ranicki nach Deutschland zurück und popularisierte die Literaturkritik in nie dagewesenem Maße

Es wirkt wie eine Filmszene: Am 21. Juli 1958, heute vor fünfzig Jahren, steigt ein Mann im Bahnhof von Frankfurt am Main aus dem Zug. Er hat nur einen Koffer bei sich, eine Aktentasche und eine alte Schreibmaschine. Fast niemand in Deutschland kennt ihn. Aber die Deutschen werden ihn kennen lernen. Er hat nie eine Universität besucht, über Diplome oder Titel verfügt er nicht. Er hat keine Kontakte zu Verlagen oder Redaktionen, das kulturelle Leben der Bundesrepublik ist ihm fremd. Ja, er hat die vergangenen zwanzig Jahre in Polen verbracht und durfte bis vor kurzem nicht einmal Bücher oder Zeitschriften aus dem Westen lesen. Dennoch wird der Mann nur anderthalb Jahre später bereits einer der maßgeblichen, weithin anerkannten Literaturkritiker Deutschlands sein. Hätte man ihn, als er mit seinem spärlichen Gepäck über den Bahnsteig ging, nach seinem Namen gefragt, hätte er sich vermutlich als Marceli Ranicki vorgestellt. Vielleicht hätte er auch den Namen genannt, unter dem er 38 Jahr zuvor im polnischen Wloclawek geboren wurde: Marcel Reich. Doch zu Marcel Reich-Ranicki, als der er dann hierzulande zum gefeierten Pop-Star der Kritik aufstieg, wurde er erst wenige Tage später in der Redaktion der „Frankfurter Allgemeinen“. Dort saß er dem Feuilletonchef der Zeitung gegenüber, Hans Schwab-Felisch, um sich vorzustellen und ihm einen ersten Beitrag anzubieten. Der Artikel, das Porträt eines polnischen Schriftsteller, überzeugte Schwab-Felisch sofort, er wollte ihn drucken. In Polen habe er, berichtete ihm der neue Mitarbeiter daraufhin, unter dem Namen Ranicki geschrieben, sein wirklicher Name sei Reich. Wie solle er den Artikel unterzeichnen? Schwab-Felisch, schreibt Marcel Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen, „reagierte prompt: Machen Sie es wie ich, nehmen die einen Doppelnamen, aber unbedingt erst den einsilbigen, dann den anderen – schon aus rhythmischen Gründen. Das leuchtete ein, ich zögerte nicht: Einverstanden, schreiben Sie: Marcel Reich-Ranicki.“ Wie lässt sich der blitzartige Aufstieg dieses Unbekannten in seiner Branche erklären? Ab August 1958 erscheinen die ersten Artikel von ihm in der FAZ, Ende September eröffnet die Zeitung mit einer seiner Rezensionen ihre Buchmessenbeilage. 1959 vertraut ihm die WELT Heinrich Bölls Roman „Billard um halb zehn“ zur Besprechung an und veröffentlicht eine Porträtserie von ihm über Schriftsteller aus der DDR, mit der er effektvoll den Vorhang zur Seite zieht vor einer ganzen deutschen Literaturlandschaft, die in der Bundesrepublik aus politischen Gründen kaum wahrgenommen wurde. Am 1. Januar 1960 schließlich gibt ihm die „Zeit“ die „Blechtrommel“ von Günter Grass zu Rezension, das wohl wichtigste deutschsprachige Buch des Jahrzehnts. Mehr kann ein Kritiker in so kurzer Zeit nicht erreichen. Dieser verblüffende Erfolg lässt sich letztlich nur durch die besondere Besessenheit und Intensität Reich-Ranickis verständlich machen. Im Selbststudium hat er als Schüler und später in Polen ein so immenses Wissen über Literatur, speziell deutsche Literatur erworben, dass es sich problemlos mit Wissenschaftlern messen kann, ohne je in einen wissenschaftlichen Jargon zu verfallen. Er verfügt über eine Eloquenz, die ihn, gepaart mit Schlagfertigkeit und bissigem Witz, zu einem Gesprächspartner macht, der allen, die ihm begegnen, im Gedächtnis bleibt. Er ist erfüllt mit einer unersättlichen Neugier auf Literatur und Literaten, die ihn immer neue Kontakte schließen und nie zur Ruhe kommen lässt. Zudem lässt sich Reich-Ranicki von nichts ablenken. Er will Literaturkritiker sein und sonst gar nichts. Während andere Großkritiker-Konkurrenten wie Friedrich Sieburg Biographien schreiben, sich wie Hilde Spiel, Walter Jens und Reinhard Baumgart als Romanciers versuchen oder als Lyriker wie Walter Höllerer, oder sich wie Joachim Kaiser zugleich als Musikkritiker betrachten, gibt es für Reich-Ranicki kein anderes Arbeitsgebiet, das ihn reizt. Was sicher dazu beiträgt, seinen Namen zunächst in der Branche, aber bald auch beim Publikum zu einem Markenzeichen zu machen für kenntnisreiche, oft polemische, nie langweilige Artikel über Literatur, über deutsche Literatur zumal. Als Reich-Ranicki an jenem 21. Juli 1958 den Frankfurter Bahnhof verließ, kam er zunächst bei seinem Onkel Leo Auerbach unter, der den Zweiten Weltkrieg als Bibliothekar der Französischen Fremdenlegion überlebt hatte. Seine Frau Tosia und der Sohn Andrew waren von Warschau aus als Touristen nach London geflogen, also in Sicherheit, aber vorerst mittellos. Ein Teil der Zielstrebigkeit, mit der Reich-Ranicki seine Karriere vorantrieb, rührte auch daher, dass er abgesehen von der Arbeit eines freien Literaturkritikers keine Möglichkeit sah, seine Familie zu ernähren. Wenige Wochen nachdem er in Frankfurt angekommen war, bezog er mit seiner Frau die erste eigene Unterkunft in Deutschland, in der Westendstraße 14: „Wir wohnten in Frankfurt“, schrieb er später, „in einem kleinen Zimmer zur Untermiete. Das war unser Wohn- Schlaf- und Arbeitszimmer. Einen Schreibtisch gab es dort nicht. Später meinten manche, zu unserer Begrüßung in der Bundesrepublik seien rote Teppiche ausgerollt worden. Das trifft nicht zu, wir haben es auch nicht erwartet.“ Sohn Andrew, der kaum deutsch, aber gut englisch sprach, blieb vorläufig noch in London und ging dort zur Schule. Doch bald schon mochte Friedrich Sieburg, der die Literaturredaktion der FAZ leitete, Reich-Ranicki als Mitarbeiter nicht mehr beschäftigen. Umso mehr bemühte sich die WELT und die „Zeit“ um ihn, beide Redaktionen waren in Hamburg. Also zog er Ende 1959 dorthin um, wo es für Andrew auch eine Internationale Schule gab, in der in Englisch unterrichtet wurde. Nun, anderthalb Jahre später, lebte die Familie wieder unter einem Dach: Sie bezog eine Zweieinhalbzimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines Sozialbau-Blocks in Hamburg-Niendorf. Von hier aus schrieb er sich als Rezensent der „Zeit“ 14 Jahre lang immer stärker ins Bewusstsein des Landes hinein, in dem er bald als „Literaturpapst“ galt. Aus dieser Wohnung zog er erst wieder aus, als ihm die FAZ 1974 das Angebot machte, als einer der Nachfolger jenes Friedrich Sieburg, der ihm 1959 keine Aufträge mehr geben wollte, die Literaturredaktion der Zeitung zu übernehmen. Damit war Reich-Ranicki nicht nur Papst, sondern hatte auch einen Posten, der ihm großen Einfluss verschaffte. Er war nicht der Mann, sich diese Chance entgehen zu lassen. Niemand hat die Literaturkritik in Deutschland jemals so stark popularisiert wie er. Kein anderer Kritiker hat es verstanden, den Büchern mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen als er.

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