„Sansibar ist überall“

Die moralische Integrität Alfred Anderschs wird angegriffen. Doch der Anlass dazu ist fragwürdig.
Es kommt einem vor, als seien die Uhren der deutschen Literatur stehen geblieben. Als würden wie vor einer Tonbandschleife immer wieder dieselben Texte abgespult und zwanghaft die gleichen Argumente ausgetauscht. Namen und Details wechseln, doch im Grunde ändert sich wenig an dem regelmäßig aufgeführten Stück. Die aktuelle Hauptfigur des literatur- und vergangenheitspolitischen Dramas heißt Alfred Andersch. In weiteren Hauptrollen sind der verstorbene Schriftsteller W. G. Sebald, einige Literaturwissenschaftler sowie die Tochter und der Schwiegersohn Anderschs zu besichtigen. Eine rundum neue, überraschende Inszenierung ist es nicht geworden. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat jetzt neue Manuskripte von Andersch und Materialien zu seinem Leben erhalten und in einer Veranstaltung der Öffentlichkeit präsentiert. Bei dieser Gelegenheit wurde zudem ein neues, hervorragend ausgestattetes Buch über Andersch vorgestellt: „Sansibar ist überall“, herausgegeben von Anderschs Tochter Annette Korolnik-Andersch und ihrem Mann Marcel Korolnik (Edition Text und Kritik, 254 Seiten, 36,- €). All das ist derzeit nicht nur für Germanisten von Interesse. Denn es wurde Fakten bekannt, die Anderschs Verhalten während des Dritten Reichs ins Zwielicht zu rücken scheinen. Da Andersch zu den führenden linksliberalen Intellektuellen der alten Bundesrepublik zählte, lassen solche Nachrichten – wie das späte SS-Eingeständnis von Grass, oder die Tatsache, dass auch Walter Jens als Mitglied der NSDAP geführt wurde – die Wellen medialen Aufregung hoch schlagen. Ganz neu sind die Vorwürfe nicht. Stephan Reinhardt hat in seiner zehn Jahre nach dem Tod Anderschs erschienenen Biographie die wesentlichen Fakten dargelegt. Andersch zeigte von Jugend an einen ausgeprägten literarischen Ehrgeiz. 1933 war er wegen seiner Mitgliedschaft im Kommunistischen Jugendverband mehrere Wochen im KZ Dachau. 1935 heiratete er Angelika Albert, deren Mutter Jüdin war und die also nach den Gesetzen der Nazis als Halbjüdin galt. Um 1940 begann es in der Ehe zu kriseln, 1943 ließ Andersch sich scheiden. Er beantragte seine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, ohne die er nicht publizieren konnte und zu der er mit einer halbjüdischen Frau nie zugelassen worden wäre. Das genügte dem Schriftsteller W. G. Sebald, um Andersch als gewissenlosen Literatur-Karrieristen hinzustellen, der seine Frau angesichts der Judenverfolgung im Stich gelassen und versucht habe, als Autor mit den Nazis seinen Frieden zu machen. Neu aufgetaucht ist jetzt ein Dokument, das erklärt, weshalb Andersch, der 1940 als Bau- und Besatzungssoldat in Frankreich eingesetzt war, 1941 vorübergehend aus der Wehrmacht entlassen wurde. In Reinhardts Biographie war noch davon die Rede, Andersch selbst habe eine Verordnung entdeckt, die befahl, ehemaligen KZ-Häftlinge aus der Wehrmacht auszuschließen und damit seine Rückkehr ins Zivilleben durchsetzen können. Nun stellte sich heraus, dass Andersch mit Hinweis auf eine Anordnung entlassen wurde, nach der alle Angehörigen von Juden oder „jüdischen Mischlingen“ aus der Armee zu entfernen seien. Von ebenso eifrigen wie eifernden Germanisten wurde das zu Andersch Ungunsten ausgelegt: Obwohl das Verhältnis zu seiner Frau bereits zerrüttet gewesen sei, habe er 1941 noch Vorteile aus seiner Ehe mit Halbjüdin gezogen, von der er sich in Frühjahr 1943 scheiden ließ und die er im Antrag an die Reichsschrifttumskammer komplett verschwieg. Der Historiker Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, betont nun in dem in Marbach vorgestellten Buch, dass Andersch auf seine Entlassung aus der Wehrmacht und deren Begründung keinen Einfluss hatte – man sie ihm also auch nicht zum Vorwurf machen kann. Außerdem fiel mit der Trennung von seiner Frau 1943 der Grund für Anderschs Freistellung vom Militärdienst weg, worüber sich Andersch offenbar klar war. In ihm also nur den Profiteur der Scheidung sehen zu wollen, ist unsinnig. Tatsächlich wurde er im Herbst 1943 wieder eingezogen. Zudem hätte die Ehe mit Andersch, selbst wenn sie fortgeführt worden wäre, seine Frau nicht vor einer möglichen Deportation schützen können. Doch betrachtet sich Tuchel nicht als blind entschlossener Verteidiger Anderschs. Vor allem bei dessen Berichten über die frühe KZ-Haft ist er auf einige Ungenauigkeiten gestoßen, die er keineswegs verschweigt. Andersch habe „manche Fakten verändert, um sich positiver darzustellen, anderes hat er weggelassen oder geschönt. Aber auch darin unterscheidet sich Alfred Andersch nicht von vielen anderen Deutschen nach 1945“. Dass die Herausgeber des neuen Buchs Tuchel Aufsatz trotz dieses für Andersch unvorteilhaften Fazits in den Band aufgenommen haben, unterscheidet ihn von peinlichen Rechtfertigungsschriften zur Rolle anderer Autoren während des Dritten Reichs. Bleibt die Frage, weshalb solche Details aus dem Leben eines Autors, der bereits 1980 gestorben ist, heute für bewegte öffentliche Debatten sorgen können. Andersch war als Mitbegründer der Gruppe 47 und als Romancier eine der prägenden Gestalten der deutschen Nachkriegsliteratur. Von vielen wurde er – wie auch Grass und Jens – in der ebenso notwendigen wie quälenden Konfrontation des Landes mit den Verbrechen der deutschen Vergangenheit als moralische Instanz betrachtet. Das war ihm nicht unbekannt und er hat wenig dafür getan, diese Rolle zurückzuweisen. Wenn nun klar wird, dass manches in seinen Berichten über die eigene Vergangenheit geschönt war, schmälert das im Grunde nicht seine literarische Arbeit, sondern nur seine politische Glaubwürdigkeit. Doch wäre es naiv zu behaupten, dass heute oder zu Anderschs Lebzeiten im Kulturbetrieb die Grenzlinie zwischen beidem immer streng gezogen würde. Gerade weil der Literaturbetrieb der ersten Nachkriegjahrzehnten stark geprägt war durch einen politischen Rigorismus, steht für diese Schriftsteller mit ihrer moralischen Integrität immer auch ein Gutteil ihre künstlerischen Anerkennung auf dem Spiel. Aber inzwischen wäre es wohl an der Zeit, in Autoren wie Andersch nicht nur die Könige des damaligen Literaturbetriebs zu sehen, sondern ebenso deren Opfer. Nach der totalen moralischen Niederlage des Landes muss der Drang zur Abrechnung mit dem Vergangenen und zur vorteilhaften Selbststilisierung enorm gewesen sein. Dafür brauchte es, wie im Falle Anderschs, nur kleine biographische Retuschen, oder aber wie im Falle von Stephan Hermlins „Abendlicht“ den Entwurf einer ganzen heroischen Wunschbiographie – über deren Abstand zu den gelebten Tatsachen die Leser nicht aufgeklärt wurden. So wurden Schriftsteller, die sich selbst gern als Nonkonformisten bezeichneten, zu Konformisten eines biographischen Moralismus’, der es immer schwerer machte, sich zu den oft nur minimalen Zugeständnisse ans Nazi-Regime zu bekennen. Vernünftig wäre der Versuch, mit wachsender historischer Distanz den Gründen für die politisch korrekte Selbststilisierung während der Nachkriegsjahrzehnte genauer auf die Spur zukommen. Wenig hilfreich ist es dagegen, wie Sebald den Ton des überzogenen Moralismus zu übernehmen und nach Anlässen zu fahnden, um ihn gegen die Autoren von damals zu wenden. Das bringt dann letztlich nur das gleiche Stück noch und noch einmal zur Aufführung, ohne dass die Mechanismen, die es antreiben wirklich je begriffen würden. <em>Der Artikel erschien in der „Welt“ vom 19. September 2008

Annette Korolnik-Andersch und Marcel Korolnik (Hg.): „Sansibar ist überall“ Edition Text und Kritik, München 2008 254 Seiten, 36,- € ISBN 978-3883779379

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