Eine große Werkausgabe feiert Wolfgang Hilbig als Klassiker der Gegenwartsliteratur
Sein Ort war nirgends. Zugehörig fühlte er sich weder im Osten noch im Westen. Doch jetzt wird der Schriftsteller Wolfgang Hilbig, ein Jahr nach seinem Tod, mit einer siebenbändigen Werkausgabe gewürdigt, was ihn in den Rang eines Klassikers der Gegenwart befördert und zumindest seiner Literatur eine definitive Heimat verschafft. Hilbig zählte zu den eigenwilligsten Persönlichkeiten des an eigenwilligen Persönlichkeiten bei Gott nicht armen deutschen Literaturbetriebs. Er stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte nur acht Jahre lang die Volksschule besuchen dürfen, wuchs bei seinem nahezu analphabetischen Großvater auf – und entwickelte sich doch zu einem der sprachgewaltigen Autoren der letzten Jahrzehnte. Er lebte lange in Meuselwitz bei Leipzig und die Kulturpolitiker der DDR hätten ihn zu einem Star der Arbeiterliteratur stilisieren können. Doch was er schrieb, passte nie in ihre propagandistischen Konzepte und also versuchten sie ihn mundtot zu machen, ja steckten ihn, nachdem sein erstes Buch 1979 im Westen erschienen war, für einige Wochen ins Gefängnis. Als er 1985 mit einem Visum in den Westen ausreiste, wurde er dort bald schon mit Preisen und Stipendien überschüttet – und blieb dennoch spürbar ein Fremdling im Milieu der Intellektuellen, in das es ihn verschlagen hatte. Er gehörte zu jenen besessenen Autoren, für die ihre Literatur oft der einzige gangbare Weg ist, mit der Welt und den Menschen zu kommunizieren und deren einzige Chance, ihre Einsamkeit zu überwinden, in der Sprache liegt. Der erste Band der Werkausgabe präsentiert jetzt sämtliche Gedichte Wolfgang Hilbigs. Zu Lebzeiten hatte er nur drei schmale Bände veröffentlich. Gleich für den ersten davon, „abwesenheit“ (1979), wurde er von Kennern in den Himmel gehoben. Tatsächlich hatte er hier eine einfache, unaufwendige und doch kraftvolle Sprache gefunden, mit der er wunderbare poetische Bilder zu malen verstand. So entwarf er – den Spuren Shakespeares und Ingeborg Bachmanns folgend, die Böhmen ans Meer verlegt hatten – die Vision von einem „Meer in Sachsen“, das sich in der zu über fünfzig Prozent mit Wasser angereicherten Braunkohle des Tagebaus verbirgt: katastrophen im tertiär pressten das meer in die kohle in sachsen wüst und gottgewollt trat erde über die ufer zerdrückte das meer und seine lagunen mit mammutbäumen das meer kocht und dampft in der kohle in sachsen. Doch Hilbig war ein ungeheuer langsam und tastend arbeitender Lyriker. Sechs Jahre brauchte er, bis er seinen zweiten Gedichtband veröffentlichte: „die versprengung“ Doch vielleicht war selbst das noch zu früh, denn es fanden sich darin etliche schwache Stücke. Sie verloren sich in vage Bilder und zeigten mitunter eine unglückselige Neigung zur klappernden Genitivmetaphern. Nach der Publikation erkannte Hilbig manche dieser Mängel auch und der Schock, den eigenen Qualitätsansprüchen nicht zu genügen, saß tief. 15 Jahre brauchte er, bevor er seinen nächsten, gerade einmal 30 Text umfassenden Lyrikband „Bilder vom Erzählen“ publizierte. Nicht zuletzt seine Selbstzweifel sorgten dafür, dass Hilbig viele seiner lyrischen Arbeiten lange zurückhielt. Der jetzt erschienene erste Band der Werkausgabe enthält auf über 200 Seiten Gedichte, die er nicht veröffentlicht hatte, und die sich erst in seinem Nachlass fanden. Darunter den frühen Zyklus „Scherben für damals und jetzt“, dessen Schicksal ein Schlaglicht wirft auf die prekären Arbeitsverhältnisse dieses Dichters in der DDR. Hilbig hatte den Zyklus mit der Hand in ein gewöhnliches DIN-A-5-Heft geschrieben und das Ganze mit Titelblatt, Widmung und Inhaltsverzeichnis versehen. Doch bevor er einen Verlag für den Band fand, wurde das Heft offenbar vom Ministerium für Staatssicherheit beschlagnahmt und erst nach der Wiedervereinigung an Hilbig zurückerstattet – jede einzelne Seite trägt, wie Jürgen Hosemann, der Herausgeber des Bandes anmerkt, den Stempel der Gauck-Behörde. Neben der Arbeit an den Gedichten, die für ihn oft genug ein quälend langes Warten auf Einfälle war, begann Hilbig seit Anfang der achtziger Jahre auch Erzählungen und Romane zu schreiben. Bestechend sind die musikalischen Qualitäten dieser Texte, denen die kommenden fünf Bände der Werkausgabe gewidmet sein werden. Wie Thomas Bernhard verstand es Hilbig, seine Prosa auszubalancieren auf dem schmalen Grad zwischen maßlosem Pathos und übersteigerter Ironie. Der angelsächsische Literaturbetrieb kennt den Begriff des „writer’s writer“. Er zielt auf Schriftsteller, die vielleicht nicht immer auf das Publikum, wohl aber auf ihre Schriftsteller-Kollegen eine besondere Ausstrahlungskraft ausüben. In diesem Sinne war Wolfgang Hilbig ein Dichter für die Dichter. Er fand, seit er in der DDR mit dem Schreiben begann, gerade unter Autoren eine enorme Zahl von Verehrern, die ihn bewunderten für die Konsequenz, mit der er sein Leben der Literatur widmete. Im jüngsten Heft der „Neuen Rundschau“, der traditionsreichen Literaturzeitschrift des S.Fischer Verlags, statten jetzt von Ingo Schulze über Marcel Beyer bis zu Uwe Kolbe etliche Schriftsteller Hilbig ihren Respekt ab. Wolfgang Hilbig war ein literarischer Rebell, der sich auflehnte gegen etwas, gegen das man nicht gewinnen kann: gegen die Realität. Auch er hat in dieser Schlacht naturgemäß nicht den Sieg davon getragen, aber ihm sind beim Handgemenge einige großartige Gedichte und ein paar ungeheuer suggestive, in Traum- und Albtraumwelten entführende Prosastücke gelungen wie „Die Weiber“ oder „Alte Abdeckerei“. Kein Wunder, dass er die Tage der Wende von 1989, als zumindest die politische Realität mit einem Mal neuen, ungeahnten Gesetzen zu folgen schien, als großes Glück erlebte. Damals schrieb er mit „prosa meiner heimatstraße“ eine fabelhafte Hymne auf die Rebellion, eine fast dreißigseitige, verzückte Litanei des Aufbegehrens, die wohl niemand, der sie liest, so schnell wieder aus dem Ohr bekommt: „schön ist ein volk in waffenlosem aufruhr. Schön ist die revolution der windhunde traumtänzer taschenspieler trickbetrüger und aller übrigen betrogenen. Die revolution der aufschneider und verkrochenen der randexistenzen und der hektiker der metropolen…“ So schwingt sie hin, diese Hymne, in überlangen Zeilen, ein wenig an Allen Ginsbergs „Howl“ erinnernd, und fängt etwas ein von jener alle Maße sprengenden Freude über einen unverhofften Augenblick großer Freiheit.